Rita Bremm-Heffels

Gute Reise

Der Raum ist kalt und dunkel. Nur eine Kerze wirft flackernde Schatten.
Es ist still. Totenstill.
Es fröstelt mich.
Ich schaue auf die Gestalt in der offenen Kiste.
Langsam, scheu trete ich näher.

Das soll er sein?

Diese kleine magere Gestalt?
Das Gesicht so winzig, mit spitzer Nase und schmalen Lippen.
Das weiße Hemd wirkt riesig, viel zu groß. Dadurch ist er noch kleiner.
Die dünnen Finger ineinander verkrampft, die Fingernägel bläulich

Alles ist aus ihm heraus, jedes Leben, jede Kraft.
Ganz langsam strecke ich meine Hand aus. Ich habe Angst vor dem Moment der
Berührung. Seine Stirn ist eiskalt. Sie fühlt sich an wie kalter Wachs.
Mich schauert.
So eiskalt wie die Stirn - so bin ich auch.
Vielleicht kann ich deshalb nicht weinen.
Weil er das nicht ist.

Ich sehe ihn wieder vor mir in seinem Garten.
Ich laufe mit ihm durch den Wald, über Felder.
Voller Kraft, mit immer neuen Ideen.
Immer bestimmend, voller Verantwortung.
Oft polternd und schwierig für Menschen in festgefahrenen Bahnen.
Wo ist all‘ das geblieben?
Es ist, als ob der Auszug seiner Seele seinen Körper ausgezehrt hätte.
So, als hätte man alle Adern geöffnet und der Lebenssaft wäre heraus
gelaufen.

Oder ist er jetzt der, der er wirklich war?
Wie ihn nur keiner gesehen hat? Und wie er sich niemanden zeigte?
Ein kleiner Mensch, verletzlich und gebrochen.
Ein Mensch der sich immer stark zeigte aus Angst das man ihn schwach schätzte?
War er gar nicht der Mann der für alles die Verantwortung tragen konnte?
War seine ganze Kraft nur die Fassade die wir vor ihm aufgebaut hatten?
Für unsere Bequemlichkeit?
Und die er sich nicht zu entfernen gewagt hatte?
War er am Ende nur so klein und hilflos gewesen, so wie er nun da lag?

So viele Fragen. So viele versäumte Augenblicke.
Abschied nehmen, ohne sich wirklich gekannt zu haben.

Ich nehme den Hut den ich mitgebracht habe und setzte ihn auf den
Kopf dieses kleinen Mannes.
Sein Hut. Nie habe ich ihn ohne gesehen.

Nun sieht er nicht mehr so fremd aus. Ein bißchen gewohnte Kraft durch ein Stück
grauen Filz.

Nimm ihn mit, diesen Hut, auf deine Reise.
Und verzeih mir die vielen, nicht gestellten Fragen.
Die vielen nie gesagten Worte.
Den vergessenen Satz: Papa, ich hab‘ Dich lieb.

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