Robert Kuehl

Der erste Schnee

Der erste Schnee

Unwillkürlich lächle ich, als die erste Schneeflocke mich auf die Nasenspitze trifft. "Märchenhaft", denke ich.
Er hatte sich schon lange angekündigt, der erste Schnee. Seit Tagen fror es, und sein Geruch lag in der Luft. Seit heute morgen standen die Wolken tief am Himmel, dunkel und so schwer, als würden sie vom Himmel fallen wollen. Windstill war es, doch die Luft so klar, dass sie mich zu diesem Waldspaziergang verführt hatte.
Raschelnd fuhren meine Füße durch das trockene Herbstlaub; ein wenig holperig zu gehen war der gefrorene Waldweg. Wie kleine Nebelwölkchen stob mein Atem aus dem Mund und stieg empor, so, dass mein Blick, der ihm folgte, durch die kahlen Wipfel der Buchen immer wieder den fruchtbaren Himmel erblickte.
Still war es, als hätten die Tiere sich in warme Behausungen zurück gezogen - selbst die Luft schien still zu stehen. Die erste Flocke spürte ich auf der Nase, die weiteren sah ich auf mich zufliegen - verhalten erst und ziemlich klein. Wenn man genau hinhörte, vernahm man das feine Rascheln der Schneeflocken im Laub.
Doch die Flocken wurden dicker. Fett und fruchtig und in immer größerer Zahl sanken sie um mich herum zu Boden, wurden dort zu einem feinen Schleier, der, umso dichter er wurde, die Farben des Unterholzes mehr und mehr verbarg.
Ich freute mich auf die Zeit des Nach-Schneiens - auf jene kurze Spanne, in der die Welt wie unberührt da liegen würde in ihrem weißen Kleid. Das Kind in mir würde Spuren in den Schnee treten wollen oder toben in dem feinen Pulver, das noch zu jung wäre, um aus ihm einen Schneemann zu formen.
In der Stadt würde dieser Schnee schon bald die Kinder von den Spielekonsolen ins Freie locken. Der Schlitten wäre wieder eines der Spielzeuge, das sich über Generationen bewahrt hat. Und der Verkehrslärm wäre angenehm gedämpft.
Ich muss an weiße Weihnachten denken - an das Gedicht von Matthias Claudius und einen Spaziergang durch die Straßen, die gerade am Heiligen Abend wie ausgestorben scheinen. Die Fenster, die goldenes Licht auf die Straße werfen und hinter denen man so manchen erleuchteten Baum sieht. Friedlich wirkt das, wenn man nicht darüber nachdenkt, wie es Menschen "unfriedlich" geht. Der alten Frau zum Beispiel, die ich Samstags beim Einkaufen treffe und von der ich weiß, dass sie eigentlich niemanden hat außer dem kleinen kläffenden Hund, mit dem sie spricht. Fühlt sie jetzt friedlich? Oder die Schwester im Städtischen Krankenhaus, die kranken Menschen das Sterben erleichtern hilft. Der abgerissene Mann, der mich vor ein paar Tagen anbettelte "Hast' ma' 'ne Mark?" Oder auch die Frau, die angstvoll ihren Mann erwartet, der wieder betrunken aus der Kneipe nach Hause kommen wird? Was denken Kinder in solchen Momenten und was denken die Kinder, die Weihnachten als Waisen in Wohneinrichtungen erleben?
Was denkst du, die in meinen Gedanken am erleuchteten Wohnzimmerfenster steht und auf den Marktplatz hinunter blickt? Ja, jetzt, gerade jetzt kann ich dich sehen. Siehst du die schemenhafte, dunkle Gestalt, die still im Schneefall verharrt? Ich wünsche mir sehr, dass du mich siehst. So, wie ich dich und die anderen Menschen sehen will...
Es ist kalt geworden, die Dämmerung setzt ein und die Kälte kriecht über meine Beine den Körper hinauf. "Ich bin froh, dass es dir gut geht," denke ich und lenke meine Schritte heimwärts, deren Spuren der fallende Schnee schon bald überdeckt.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.09.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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