Reinhard Schanzer

Der deutsche Paß

 
Es war Anfang der 80er mitten im ehemaligen Jugoslawien, in der Nähe von Plitwica.
Wir hatten zu viert eine mehrtägige Motorradtour gemacht, am Tag zuvor hatte es geregnet und die Straßen waren noch naß.
Da ich nicht zum erstenmal in dieser Gegend war, machte ich den „Roadcaptain", also denjenigen, der vorausfuhr und somit die Strecke und das Tempo bestimmte.
Es war nur wenig Verkehr, die kurvenreiche Straße war schlecht, voller Schlaglöcher und geflickter Stellen. Trotzdem kamen wir relativ gut voran.
Durch eine Unachtsamkeit geriet jedoch Boris - einer meiner Freunde - in ein Schlagloch.
Die Maschine brach aus und er landete im Straßengraben.
Es war jedoch nichts weiter passiert. Einige blaue Flecken, ein paar Kratzer an der Maschine, ein gebrochenes Blinkerglas und ein gebrochener Kupplungsgriff.
Bis auf den Schrecken war er also glimpflich davongekommen und die Reise konnte fortgesetzt werden. Schalten konnte man ja zur Not auch ohne Kupplung.
Nicht lange darauf hörte ich hinter mir ein Scheppern: Richard, der zweite von meinen Begleitern hatte sich mit seiner Sozia über eine Böschung hinunter verabschiedet.
Er hatte an einer geflickten Stelle den losen Splitt übersehen und war daraufhin von der Straße abgekommen. Eine Leitplanke gab es nicht, nur Begrenzungssteine, von denen er aber glücklicherweise keinen erwischt hatte.
Trotzdem bot sich kein schönes Bild: Richard hatte sich beim Sturz das Schlüsselbein gebrochen und Gaby, seine Freundin konnte nicht mehr aufstehen.
Sie hatte sich den Knöchel gebrochen, hielt sich vor Schmerzen den Fuß und wimmerte.
Außerdem hatte sie heftige Hals- und Rückenschmerzen.
Die Maschine lag ziemlich verbeult und mit verzogener Gabel einige Meter unterhalb.
 
In diesem Moment hörte man oben auf der Straße Motorengeräusch.
Ein alter Fiat stoppte mit quietschenden Bremsen. Boris und ich hatten unsere Maschinen oben am Straßenrand stehenlassen, um uns um die beiden Verletzten zu kümmern.
Der Fahrer mußte wohl bemerkt haben, daß etwas passiert war. Er stieg aus und kam ebenfalls die Böschung herunter, um zu helfen.
Es handelte sich dabei um einem kräftigen Mann mittleren Alters, der jedoch weder ein Wort Englisch, noch Deutsch verstand.
Auf Serbokroatisch gab er uns zu verstehen, daß er ganz in der Nähe wohnte. Von dort könne er das Krankenhaus in Lubljana anrufen, damit dieses einen Sanitätswagen schicken würde. Er meinte auch, daß es ratsam wäre, die Unfallspuren zu beseitigen, bevor die Polizei vorbeikäme.
Keiner meiner Begleiter sprach ein Wort Serbokroatisch und auch meine bescheidenen Sprachkenntnisse waren nicht gut genug, alles genau zu verstehen, was er sagte.
Die paar Brocken Serbisch und Tschechisch, die ich konnte, waren keine sehr große Hilfe.
Trotzdem konnten wir uns aber so leidlich damit verständigen.
Dann nahm er die beiden abgerissenen Motorradkoffer, packte sie in seinen Kofferraum, um sich auf den Weg zu sich nach Hause zu begeben, um dort einen Anhänger für das kaputte Motorrad zu holen.
Gaby hatten wir unterdessen den Stiefel ausgezogen und sie mit hochgelegtem Bein auf eine Plane gelegt, wo sie auf dem moosigen Waldboden ruhig liegen konnte.
Richard - der ja selbst erheblich verletzt war - versuchte, sie zu beruhigen, während ich mit Boris die kaputte Maschine nach oben auf die Straße schaffte.
Die Lederjacke hatten wir Richard unter Schmerzen ausziehen können.
Wenig später sahen wir schon den Jugoslawen mit dem kleinen Fiat wieder ankommen und samt dem Anhänger am Straßenrand halten. Ein älterer, hagerer Mann saß neben ihm.
Drago - so hieß er - sagte mir, daß der Sanitätswagen aus Lubljana bereits unterwegs sei und half uns, das Motorrad auf den mitgebrachten Anhänger zu verladen.
Gerade als wir damit fertig waren, hörte man bereits die Sirene des Krankenwagens.
Der ältere Mann war inzwischen ausgestiegen und stellte sich in sehr gutem Deutsch als der Vater von Drago vor.
Slobodán war sein Name, er mochte wohl die 70 schon überschritten haben?
Er übernahm bereitwillig die erforderliche Konversation mit dem Notarzt und den beiden Sanitätern, die Gaby auf eine Tragebahre packten und in den Wagen verfrachteten.
Auch Richard wurde mit ins Krankenhaus genommen, um dort das gebrochene Schlüsselbein zu behandeln.
Ich erhielt eine Visitenkarte des Krankenhauses mit der Anschrift und der Telefon- Nr.
Dann verschwand der Krankenwagen wieder in Richtung Lubljana.
Wenig später fuhren wir hinter unseren beiden Helfern die paar Kilometer zu ihrem Haus.
 
Auf den ersten Blick war es das Haus eines Kleinbauern, wie es Hunderte in dieser Gegend gab. Unverputzte Bruchsteinmauern mit den üblichen Dachziegeln, ein Stall, eine Garage, ein Obstgarten und etwas eingezäunter Grund rundherum.
Der alte Mann brachte erst einmal eine Runde Flaschenbier. „Nàzdrãvlje!, auf den Schrecken", meinte er, als er mit uns anstieß.
Dann wies er seinen Sohn an, den Werkzeugkasten zu holen, um von Richard´s kaputter Maschine den noch intakten Kupplungshebel abzumontieren und an die Maschine von Boris anzubauen.
Unterdessen unterhielten wir uns etwas über das Woher und Wohin, über Gott und die Welt und Überhaupt.
 
Erst jetzt hatte ich Gelegenheit, den alten Mann etwas genauer zu beobachten.
Er war eine sehr interessante Persönlichkeit: Groß und hager, volles, silbergraues Haar, einen ebenso grauen, gepflegten Schnurrbart in einem Gesicht, das beinahe aristokratisch wirkende Gesichtszüge hatte. Schlanke, feingliedrige Hände und trotz seines Alters eine stolze, aufrechte Körperhaltung. Dazu sehr wache, graublaue Augen, die in dieser Region doch sehr Ungewöhnlich waren.
Er hatte eine sehr feste Stimme, die nur wenig Widerspruch zuließ, er sprach sehr gutes Deutsch und hatte eine gewählte Ausdrucksweise. Etwas distanziert, ohne jedoch dabei arrogant oder überheblich zu wirken.
Dieser Mann war ganz sicher kein Bauer aus der Gegend.
Aber was war er dann?
 
Natürlich hatte er mein Interesse geweckt. Ich versuchte also, das Gespräch darauf zu bringen, wieso er denn so gut Deutsch sprach, aber mehrmals wich er gekonnt meinen Fragen aus.
Schließlich fragte ich ihn geradeheraus, ob er denn früher als Gastarbeiter in Deutschland gearbeitet und gelebt hätte?
Er sah mich durchdringend an, holte tief Luft und schwieg vorerst einen Augenblick.
Seine Antwort kam sehr zögerlich und ich werde sie wahrscheinlich mein Leben lang nicht vergessen:
 
„Nein, nicht als Gastarbeiter", meinte er schließlich mit veränderter, belegter Stimme.
Und nach einem weiteren Zögern: „Ich habe mehrere Jahre im KZ Dachau verbracht, bis ich 1945 von den Amerikanern befreit wurde. Dort habe ich euere Sprache erlernt."
Dabei hatte er seinen Blick von mir abgewendet und seine Augen in die Ferne gerichtet, als ob er dort hinter dem Horizont irgend etwas suchen würde.
 
Ich dachte, im Erdboden versinken zu müssen.
Was war ich nur für ein Arschloch!
Mit meinen penetranten Fragen hatte ich dem alten Mann eine Antwort aufgezwungen, die er mir gerne erspart hätte.
Sicher, - wir wußten in diesem Moment beide, daß ich viel zu jung war, um an dem Geschehen vor Kriegsende irgendeinen Anteil haben zu können.
Ich selbst hatte mich immer energisch dagegen verwahrt, eine sogenannte „Kollektivschuld" des deutschen Volkes zu tragen. So etwas hatte es in meinem Verständnis nie gegeben.
Weder ich, noch mein Vater, noch mein Großvater hatten mit dieser Schweinerei damals etwas zu tun.
Mein Vater war damals noch viel zu jung, um bei der Wehrmacht eingezogen zu werden oder politisch tätig werden zu können. Nicht einmal für den Volkssturm hatte es gereicht.
Mein Großvater dagegen hatte im 1. Weltkrieg in Serbien gedient, war mit einer schweren Kriegsverletzung nach Hause gekommen und war anschließend im „Passiven Widerstand", falls es diesen Begriff überhaupt gibt.
Er hatte eine sehr liberale Gesinnung, war nie Parteigänger der NSDAP, sondern hatte sogar noch vor Kriegsende russische und französische Kriegsgefangene, als auch desertierte deutsche Soldaten in seinem Heuschober versteckt, was ihn damals durchaus hätte den Kopf kosten können.
 
Erst später wurde mir klar, warum dies so war: Durch seine Heirat mit einer tschechischen „Halb - Arierin" stand er selbst im Kreuzfeuer der damaligen Reichsführung und hatte große Mühe, den tschechischen Mädchennamen seiner Frau nachträglich „einzudeutschen", damit ihren gemeinsamen Kindern kein beruflicher und gesellschaftlicher Nachteil entstand.
Aus Kolárcová wurde (mit deutschem Gruß und reichlich Schmiergeld bei dem sudetendeutschen Pfarrer, der zugleich Standesbeamter war) einfach Kollarz gemacht.
Ich selbst hatte weder mit Nazis, noch mit sonstigen Extremisten anderer Coleur jemals etwas gemeinsam, sondern ebenfalls schon immer eine sehr liberale Gesinnung, ohne mich jedoch in einer politischen Partei zu engagieren.
 
Trotzdem war ich beschämt wie noch nie vorher in meinem Leben und das alleine durch den Umstand, daß ich Deutscher war.
Da bot uns ein Mann seine Gastfreundschaft und alle nur erdenkliche Hilfe an, obwohl er die besten Jahre seines Lebens in einem deutschen KZ zugebracht hatte?
Der diese Zeit nur deshalb überlebt hatte, weil amerikanische Truppen den Mördern der SS zuvorgekommen waren?
Ich spürte den deutschen Reisepaß wie Feuer in meiner Jackentasche brennen und hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, diesen ganz weit wegzuwerfen. Irgendwohin in eine Jauchegrube oder so etwas ähnliches, denn noch schmutziger konnte er ohnehin nicht mehr werden.

„Nàzdrãvlje!" „Wie werdet ihr denn nun die Angelegenheit handhaben?", riß mich Slobodans Stimme aus meinen Gedanken.
Er mußte meine Verlegenheit bemerkt haben, daß ich in Gedanken ganz woanders war und er wollte nun endlich gerne das Thema wechseln.
Ich stieß mit ihm und Drago an und meinte: „Nun, wir wollten zunächst natürlich erst einmal nach Lubljana fahren, um zu sehen, wie es unseren beiden Verletzten geht".
„Dürften wir das defekte Motorrad denn einige Tage bei Ihnen unterstellen?
 
Das war kein Problem und Drago bot sich sogar an, uns mit seinem Auto vorauszufahren, damit wir das Krankenhaus sofort finden würden.
Dieses Angebot nahm ich gerne an, bestand aber darauf, zumindest die Spritkosten dafür zu übernehmen.
Der Oberarzt und eine Stationsschwester dort sprachen so leidlich Deutsch und somit war die Verständigung kein Problem.
Richard´s Schlüsselbeinbruch war mittlerweile geschient und eingerichtet. Gaby hatte außer einem angebrochenen Knöchel und einem Schleudertrauma keine weiteren Verletzungen davongetragen. Sie mußten jedoch beide vorerst in stationärer Behandlung bleiben.
Der Rückreise von Boris und mir nach Deutschland stand also nichts im Wege. Wir kamen allerdings erst weit nach Mitternacht nach Hause.
 
Richard und seine Freundin Gaby hatte ich zwei Tage später mit meinem Kombiwagen in Lubljana im Krankenhaus abgeholt und zurück nach Deutschland gebracht.
Seine kaputte Maschine hatte ich zuvor bei Slobodan abgeholt und im Anhänger mit nach Deutschland genommen.
Dabei hatte ich ihm und seinem Sohn Drago als kleines Dankeschön für ihre Hilfe jeweils eine Flasche Bärwurz- Schnaps aus unserer Region mitgebracht, über die sie sich sehr gefreut hatten.
 
Ich weiß bis heute nicht, wer der alte Mann wirklich war, weshalb er mehrere Jahre in einem deutschen KZ zugebracht hatte und ich wollte es auch nie erfahren.
Meinen deutschen Paß habe ich immer noch, aber jedesmal, wenn ich ihn in der Hand halte, fällt mir diese Geschichte wieder ein.
 
Ich bin nicht stolz darauf, ein Deutscher zu sein, schäme mich aber auch nicht mehr dafür.
Es ist ein neutraler Umstand, zu dem ich selbst überhaupt nichts beigetragen habe, weder im positiven, noch im negativen Sinne. Es wurde durch meine Geburt so bestimmt.
Ich könnte genausogut Italiener, Franzose, Japaner, Neger oder Jude sein, wenn ich einen anderen Vater gehabt hätte.
 
Der Umstand, zufällig Deutscher zu sein, hat seitdem eine etwas andere Qualität erhalten, eine sogenannte „Kollektivschuld" lehne ich jedoch trotz dieser beschämenden Geschichte weiterhin ab.
Im Grunde habe ich mich damit getröstet, daß ich ja nicht wirklich ein Deutscher bin, sondern ein Bayer.

 

Sollte jemand, der mehr "nationales Ehrgefühl" oder "Nationalstolz" besitzt als ich, sich von diesem Bericht auf den Schlips getreten fühlen, so würde ich ihm dringend eine längere Auslandsreise empfehlen und zwar Inkognito.
Sich nicht nur selbstverliebt im Spiegel zu betrachten, sondern sich auch einmal durch die Augen Anderer zu sehen, würde manchmal nicht schaden.
Reinhard Schanzer, Anmerkung zur Geschichte

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Reinhard Schanzer).
Der Beitrag wurde von Reinhard Schanzer auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.10.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

Bild von Reinhard Schanzer

  Reinhard Schanzer als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Der Fuchs von Michael Haeser



Der Fuchs auf der Suche nach dem kleinen Prinzen

Was ist aus dem Fuchs geworden, der im „Kleinen Prinzen“ die klugen und bekannten Worte geprägt hat: „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“? In diesem Buch begleiten wir dieses kluge Tier auf seiner Suche nach seinem Freund und entdecken mit ihm weitere, wertvolle Gedanken über Freundschaft, Liebe und andere Dinge, die das Zusammenleben von Menschen und anderen Lebewesen prägen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Einfach so zum Lesen und Nachdenken" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Reinhard Schanzer

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Care- Paket nach Leipzig von Reinhard Schanzer (Gesellschaftskritisches)
EINSAMKEIT von Christine Wolny (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Der Familienrat von Margit Kvarda (Humor)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen