Germaine Adelt

Versuchskaninchen

            Die Vollbremsung kam definitiv zu spät. Aus dem rechten Augenwinkel heraus hatte sie das Auto auf dem Dach liegen sehen, und als sie begriffen hatte, was dort im kleinen Seitenweg passiert sein musste, war sie auf die Bremse getreten. Die kleine Landstraße war so wenig befahren, dass der Unfall schon Stunden her sein konnte, aber auch für lange Zeit keine Hilfe zu erwarten war.  

            Sie stieg aus und lief hastig auf das Auto zu. Auf halbem Weg machte sie halt, um aus dem Kofferraum den Erste-Hilfe-Kasten zu holen. Wieder blieb sie nach zwei Schritten stehen. Irgendwo im Handschuhfach lag ihr Handy. Und dies galt es jetzt zu suchen. Sie zwang sich regelrecht so zu handeln. Denn sie wusste, wenn sie erst einmal beim Verunglückten war, würde sie nicht mehr weggehen, bis Hilfe da war. Hilfe, die sie jedoch nur über Telefon anfordern konnte. Endlich hatte sie es gefunden und es hatte sogar Empfang.

            Mit schnellen Schritten eilte sie zum Unfallort und stand erst einmal sprachlos davor. Das Auto hatte sich überschlagen und lag nun auf dem Dach. Unter dem Dach ragte ein Arm hervor, was nichts Gutes verhieß, und im Innenraum des Wagens lag zusammengerollt und blutverschmiert ein junger Mann. Obwohl ihr der Verstand davon abriet, versuchte sie zuerst den unter dem Autodach liegenden Arm zu betasten, ob nicht doch noch Leben in ihm war. Es war natürlich nicht so. Aber er fühlte sich sehr eigenartig an, fast wie Gummi.

            Verwundert hielt sie für einen Moment inne. Irgendetwas stimmte hier nicht. Dann versuchte sie an den Mann im Auto heranzukommen. Und auch hier wurden ihre Zweifel immer größer. Sein Blut war weder frisch noch geronnen. Der Mann hatte für seine Bewusstlosigkeit eine bemerkenswert gute Hautfarbe und nach wie vor hatte sie das Gefühl beobachtet zu werden. Aber sie wischte diese Gedanken beiseite, die wohl nur Wunschdenken waren.

            Plötzlich erfasste sie die Furcht, dass das Auto zu brennen anfangen könnte, und entschlossen zerrte sie den Mann aus dem Wrack, um ihn in Sicherheit zu bringen. Woher sie die Kraft nahm, wusste sie auch nicht, und für einen Moment glaubte sie, dass er sie unauffällig unterstützte. So wie in einem dieser schlecht gemachten Filme, in denen so manch ein Bewusstloser, wenn man ihn wegschleifte, mit Händen und Füßen mithalf. Aber auch dies war wohl eher eine Täuschung und langsam wurde ihr klar, in welcher Situation sie sich befand. Sie war ganz allein auf einer abgelegenen Straße, neben ihr ein junger Mann, der wahrscheinlich im Sterben lag, und ein anderer Mensch war schon tot.

            Sie fühlte sich hoffnungslos überfordert und die ersten Tränen der Hilflosigkeit liefen über ihr Gesicht. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Angst um einen anderen Menschen gehabt und mit zitternder Hand wählte sie den Notruf der Polizei, da sie in ihrer Panik den des Rettungsdienstes vergessen hatte. Angespannt lauschte sie in ihr Telefon, als der junge Mann sich plötzlich erhob und sie kurz ansah. Dann senkte er seinen Blick, als könne er ihr nicht mehr in die Augen sehen.

 

            Noch ehe sie begreifen konnte, was geschah, kamen aus dem Gebüsch und dem angrenzenden Wald jede Menge Leute, die sie, obwohl es helllichter Tag war, mit Scheinwerfern blendeten und auf sie einredeten. Eine junge, völlig überschminkte Frau in einem schlecht sitzenden Kostüm brüllte sie regelrecht an: „Wie fühlen Sie sich in dieser Situation? Was veranlasste Sie auszusteigen? Haben Sie eine medizinische Ausbildung? So reden Sie doch!“

            Hilflos sah sie sich nach dem Verletzten um. Der aber stand völlig unbeteiligt mit dem Rücken zu ihr und zündete sich eine Zigarette an. Das Kamerateam kam immer dichter und ein anderer Reporter unterstellte ihr nun lautstark, dass sie wohl keine Meinung habe zu der Gleichgültigkeit und sozialen Kälte der Gesellschaft.

 

            Drohend hob sie den Zeigefinger und sah ihn böse an. Noch völlig sprachlos über das, was hier vorging, hätte es sie Überwindung gekostet, etwas zu sagen, und so beschloss sie, es eben nicht zu tun.

 

            Rückwärts bewegte sie sich langsam auf ihr Auto zu. Noch immer mit dem erhobenen Zeigefinger, als wolle sie diese Meute von Menschen, die offensichtlich keinerlei Mitleid kannten, in Schach halten.

            Der Verletzte stand gelassen an ihrem Wagen und rauchte, und sie bereute jetzt jede Sekunde, die sie sich um ihn gesorgt hatte.

            „Es tut mir leid“, sagte er leise.

            Sie schwieg vorerst weiter. Sie spürte, würde sie ihre Sprachblockade lösen, würde sie Dinge sagen, die ihr im gleichen Moment leidtäten.

            „Aber ich bin Schauspieler und ich habe nur meinen Job gemacht.“ Er machte eine Pause, die sie jedoch nicht unterbrach. „Sie haben ja keine Ahnung, wie viele weiter gefahren sind“, fuhr er fort, „Manche haben sogar zurückgesetzt, um das zerbeulte Auto richtig sehen zu können.“

            „Tatsächlich?“, raunte sie. „Und ich werde zum Dank von dieser Meute belagert.“

 

            Erst jetzt fiel ihr auf, dass sich die „Meute“ dezent im Hintergrund aufhielt. Entweder hatte sie die tatsächlich beeindruckt oder aber man erhoffte sich, dass er sie noch einwickeln konnte.

            „Sagen Sie denen, wenn irgendwas hiervon über den Bildschirm läuft, verklage ich alle, wie sie hier stehen. Auch wenn ich mir erst in den Gelben Seiten einen Anwalt suchen muss.“

            „Keine Bange“, winkte er ab. „Der Nächste oder die Nächste wird alles geben, was nur verlangt wird. Interview, Statement, Talk-Show, Hauptsache im Fernsehen. Das werden die nicht riskieren, mit ihnen Ärger zu bekommen, wenn an der nächsten Ecke schon ein anderer steht. “

            Eine junge Frau kam auf ihn zu und frischte mit künstlichem Blut schweigend seine Verletzungen auf.

            „Geht’s weiter?“, fragte er.

            „Nein. Charly will das Set an eine Schnellstraße verlegen“, sagte sie stöhnend und deutete auf den Mann, der noch vor ein paar Minuten die Kälte der Gesellschaft angeprangert hatte und nun gelangweilt einen Kaffee trank.

            „Immerhin will er es noch heute im Kasten haben.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.10.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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