Germaine Adelt

Bahnhofsnacht

Es war der ultimative Alptraum. Der Vorortzug hatte sie nicht weiter, als in einen anderen Vorort gebracht. Und so saß sie nun, wie verloren, in einem Städtchen, dass sie bisher nur vom Namen her kannte. Der Bahnhof war leer. Nicht einmal ein Obdachloser hatte sich hierher verirrt. Aber vermutlich gab es in dieser Kleinstadt auch keine Obdachlosen. Laut Fahrplan fuhr der nächste Zug um 6:02 Uhr. Die Bahnhofsuhr zeigte ihr unerbittlich, dass sie noch vier Stunden ausharren musste. Ein Taxi kam nicht in Frage, ihr fehlte das Geld und zu Trampen wagte sie einfach nicht.

So saß sie brav auf der großen, weißen Bank und wartete auf die Dinge die da kamen. Vereinzelt brannte in den Häusern der Umgebung noch Licht und sie sehnte sich nach der Geborgenheit die für sie von diesen Fenstern ausging.

Ihr wurde langsam kalt und zu gern wäre sie aufgestanden um etwas umherzulaufen. Aber sie wollte um keinen Preis Aufmerksamkeit erregen, auch wenn sie alleine zu sein schien. Der Blick zur Uhr raubte ihr die letzte Illusion. Noch immer drei Stunden und fünfundvierzig Minuten.

Der Versuch zu schlafen scheiterte daran, dass sie nicht müde war und so kramte sie gelangweilt in ihrer Handtasche. Doch den Inhalt kannte sie längst und sie empfand es dann doch als sinnlosen Zeitvertreib. Noch drei Stunden und dreißig Minuten.

 

Ein Polizist kam langsam die Treppe herauf. Sie hatte ihn vorher gar nicht gesehen und dass die Polizei so schnell sein würde, hatte sie aber dann doch nicht erwartet.

„Kann ich bitte Ihre Papiere sehen?“

Fragend sah sie ihn mit ihren großen Augen an.

„Schon gut“, wiegelte er ab, als er den großen, wuchtigen Koffer sah.

„Warten Sie etwa auf den Zug?“

Sie nickte nur.

„Der Zug kommt erst in drei Stunden. Gute Frau, Sie können hier nicht die ganze Nacht auf dem Bahnhof sitzen.“

Er machte eine Pause. „Sagen Sie mir wie Sie heißen?“

„Valja.“

„Klingt russisch.“ Wieder nickte sie nur und er bereute erneut, dass er die Sprache seiner Großmutter nicht beherrschte.

Unauffällig musterte er die junge Frau, die so unauffällig war, wie er es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Sie war das Sinnbild einer kleinen grauen Maus, nur ihre grünen Augen leuchteten auffallend schön. Und wäre es nicht mitten in der Nacht, sie wäre ihm vermutlich nicht einmal aufgefallen.

„Sie können hier nicht sitzen bleiben“, wiederholte er. „Das heißt Sie können schon, aber wir haben drei Grad unter Null ...“

Sie roch angenehm nach Seife. Ein Geruch, den er so intensiv schon lange nicht mehr wahrgenommen hatte. Es erinnerte ihn alles sehr an seine Großmutter. So wie auch die Frau selbst, ihn an seine Babuschka erinnerte, obwohl sie höchstens Mitte 30 war.

Entschlossen holte er sein Handy aus der Jackentasche und wählte eine Nummer. „Andreas? ... Jens hier. Sag mal kannst du für mich eine Tour zum nächsten größeren Bahnhof machen? Was? ... Ist egal ...“

Er sah fragend zu der jungen Frau: “Oder?“

Sie nickte nur erstaunt.

„Ja, wie es dir passt. Wo ich bin? Am Bahnhof ... Sehr witzig! Was? In der Nähe? Na dann bis gleich ... ?“

Er klappte sein Handy zu und stand auf. „Kommen Sie, ich habe Ihnen ein Taxi besorgt. Keine Bange, Sie müssen nichts zahlen. Ist der Schwager von dem Cousin meines Kumpels, Sie wissen schon ...“

Als er mit dem großen Koffer Richtung Treppe ging konnte er sehen, dass Andreas tatsächlich schon mit seinem Taxi vorfuhr und er war froh die junge Frau in guten Händen zu wissen.

 

Nadine stieg aus dem Streifenwagen und kam auf ihn zu. Das Funkgerät in der Hand als stilles Zeichen, dass es Neuigkeiten gab. Er nickte kurz und deutete auf die Frau, der er galant die Beifahrertür aufhielt.

„Du schuldest mir was“, murmelte Andreas mit verschmitztem Lächeln.

„Schon klar“, erwiderte er und winkte kurz als der Wagen losfuhr.

Nadine verfolgte ihn regelrecht. Es musste wichtig sein.

„Was liegt an?“

„Eine Fahndung. Valentina Brürer, geborene Pirmaskowa, wird verdächtigt ihren Mann getötet zu haben. Er hat sie jahrelang verprügelt, ja und nun hat sie zurückgeschlagen ... mit einer Spitzhacke. Durch einen dummen Zufall ist er schon jetzt in seiner Wohnung gefunden worden und sie ist verschwunden.“

„Valja“, murmelte er.

„Stimmt. So heißt sie wohl auch. Die Russen handhaben das ja völlig anders mit den Vornamen. Sie ist circa eins sechzig, zierlich, dunkle Haare, Mitte dreißig.“

Fragend deutete Nadine auf das Taxi, das gerade abbog.

Doch er schüttelte nur ungläubig mit dem Kopf.

„Auffällig sind ihre grünen Augen“, zitierte Nadine ihre Notizen, “und ihr Deutsch soll nicht umwerfend sein.“

Eigentlich müsste er Andreas anrufen und ihn darum bitten noch einmal umzukehren. Aber das hatte noch Zeit. Immerhin galt es erst eine Fahndung durchzuführen.

 „Wo fangen wir an?“, fragte sie. „Krankenhaus? Den Bahnhof können wir ja jetzt abhaken.“

„Wie du meinst“, sagte er leise.

Als er in den Streifenwagen stieg war ihm, als könne er noch immer den Duft ihrer Seife riechen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.10.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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