Maren Frank

Der einsame Wal

 
Bruck war ein Pottwal, der sein Feriendomizil so tief unter dem Meer hatte, dass er nur sehr selten Besuch bekam. Das fand er sehr schade, denn gerade in den Ferien mochte Bruck Gesellschaft.
Doch nur die alte, schweigsame Schildkröte besuchte ihn. Aber auch sie war ihm als Gast sehr willkommen. Es verging zwar stets einige Zeit, bis sie auf eine Bemerkung von ihm reagierte und noch länger, bis sie eine Frage beantwortete, aber das war Bruck egal.
„Du bist die einzige, die mich regelmäßig besucht“, sagte Bruck eines Tages zu ihr.
Die Schildkröte wiegte langsam ihren faltenreichen Kopf und überlegte sich, was sie darauf antworten wollte. „Ich besuche dich gern, denn du bist der einzige, der nicht einschläft, wenn er sich mit mir unterhält“, sagte sie schließlich.
Bruck riss rasch seine halb zugefallenen Augen auf. Das mit dem Einschlafen war so eine Sache, aber die Schildkröte brauchte oft so lange, bis sie etwas sagte, dass es nicht so verwunderlich war, dass ihre anderen Zuhörer dann in der Zwischenzeit einschliefen.
„Dabei nehme ich es niemandem übel, wenn er in meiner Gegenwart einschläft. Schlafen ist schließlich gesund und wichtig“, fuhr sie fort und blickte sinnierend auf eine Wasserpflanze, die sich in der sanften Strömung bewegte.
„Hast du denn eine Idee, wie ich mehr Besuch bekommen könnte?“
Diesmal brauchte sie noch länger als sonst mit ihrer Antwort. „Du musst einfach interessanter werden. Auf deinen Reisen hast du doch sicher viele Abenteuer erlebt, die spannende Geschichten abgeben. Ich bin sicher, dass viele gern zuhören würden, wenn du erzählst. Und dann solltest du die Umgebung hier hübscher gestalten.“
Überrascht von dem Wortschwall – denn normalerweise sagte sie nie so viele Sätze an einem Stück – sah er sie an. „Hm, da könntest du schon Recht haben. Und Abenteuer, die sich zu erzählen lohnen, habe ich wirklich schon viele erlebt. Allein diese Sache mit dem Tintenfisch, der sich für einen Hai hielt. Oder der Fischer, dessen Boot leck geschlagen war. Ich hielt ihn auf meinem Rücken über Wasser, bis die Delfine kamen und ihn an Land zurück brachten. Denn so nah wie sie kann ich nicht an Land heran, das Wasser dort ist zu flach für mich und ich würde stranden.“
„Siehst du, du bist ein Held“, sagte die Schildkröte.
Bruck fühlte sich geschmeichelt. „Das ist nett von dir, das zu sagen.“
„Nun, es ist eine Tatsache. Aber zurück zu deinem Problem. Du solltest hier unbedingt mal gründlich aufräumen. Überall diese großen hässlichen Steine, noch dazu sind sie voller Algen.“
„Jetzt, wo du es erwähnst...“ Bruck sah zu besagten Steinen, die ihn eigentlich nie sonderlich gestört hatten. In seinen Augen waren sie ohnehin recht klein, aber für eine Schildkröte stellten sie hässliche große Klötze dar, die wirklich nicht besonders einladend wirkten.
Die Schildkröte war nun voll in Fahrt. „Und diese Schlingpflanzen da müssen unbedingt weg, die sind ja lebensgefährlich.“
„Für mich nicht“, sagte Bruck, sah aber ein, dass ein kleineres Tier oder ein Meermensch leicht in ihnen hängen bleiben konnte.
„Laß uns einige Muscheln holen, die groß genug sind, dass man in ihnen bequem sitzen kann“, schlug die Schildkröte vor.
Bruck war begeistert und sofort machten sie sich ans Werk. Einige Tage später war der Meeresgrund von Schlingpflanzen befreit, die Steine hatte Bruck fort geschafft und dafür große geöffnete Muscheln geholt, die die Schildkröte ausfindig gemacht hatte. Nun schwammen sie herum und luden jeden ein, den sie trafen und baten darum, weiter zu erzählen, dass Bruck in seinem Feriendomizil Erlebnisse aus seinem abenteuerlichen Leben zum besten gab. Diese Kunde verbreitete sich rasch und bald hatten sich Delfine, Meermenschen, Hummer, Schildkröten und sogar ein Pärchen Buckelwale bei ihm versammelt.
Mit ihrer Idee behielt die Schildkröte Recht; sobald Bruck zu erzählen anfing, waren sie gefesselt davon und fortan kam jeder gern bei Bruck vorbei, um an diesem gemütlichen Plätzchen spannenden Geschichten zu lauschen.
 
 
ENDE
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.10.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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