Horst Dreizler

Der vermeidbare Tod des Siegfried H.

 
Sie kommt durch das offene Fenster wie ein fliegender grüner Finger, mit einem tiefen Brummton
durchquert sie das ganze Zimmer und klatscht gegen die Pinwand mit dem Poster von Südtirol, dort waren
wir letztes Jahr im Schullandheim. Es ist eine Mantis religiosa, eine Gottesanbeterin, sicherlich bei Fischer
entfleucht, er gibt einen Stock tiefer Biologie und züchtet Insekten.
Die meisten haben es gar nicht mitbekommen, sie warten auf "Gemini", den neuen Referendar, den einige
der Streber schon vor dem Rektorat gesehen haben und der seinen Namen weg hat, dank der
glänzenden Stirnhalbglatze, nach dem Ami-Satelliten.
KFM-Gymnasium, 10. Klasse , ein brennend heisser Sommertag, kurz vor den langen Ferien.
Wir schreiben das Jahr 1970, der Vietnamkrieg ist im vollen Gange und auch die Proteste dagegen,
Che Guevara wurde vor 3 Jahren in Bolivien erschossen, seine Legende lebt fort und wir malen mit
Filzstiften seine Silhouette auf die olivgrünen US-Army Jacken, die wir im Second Hand Laden kaufen,
darunter das Peacezeichen. Die Musik kommt von Jimi Hendrix und Iron Butterfly, die Zigaretten drehen
wir selber und das Gras ist auch im Sommer nicht immer grün.
Einige hängen in den Bänken und spielen Tischfussball mit dem Geodreieck oder Skat, ein paar haben
sich in der hinteren Ecke des Raumes versammelt und "stuggeln" um 10 Pf.-Stücke , Balke hat Türdienst
und mustert durch einen Spalt den Gang. Es könnte ja sein, dass der Rex kommt, der Direktor,
mit seinem starren, automatenhaften Gang, der plötzlich unvermittelt in den verrauchten Klos auftaucht, sich
einzelne herauspickt und mit ihnen den >causa abeundi < bespricht, den ihr Klorauchen darstellt.
Am vorderen Fenster steht Franzen und hat seinen täglichen Auftritt: Grossartig packt er sein Pausenbrot
aus, 2 Brotscheiben, dazwischen dick Schinkenwurst, er klappt es auseinander und wirft erst die Wurst, dann
rasch hintereinander die Brotscheiben aus dem Fenster, Richtung Fahrradabstellplatz.
Er schaut hinterher und sagt seinen Kultspruch: " Das fliegt wie´s Brot"....Müller und Waldner stehen bei
ihm und feixen und die Krähen und Tauben im Hof freuen sich.
Ich stehe mit Siggi am hinteren Fenster, wir rauchen eine, schauen über den im Sonnenglast zitternden
Stuttgarter Kessel und unterhalten uns. Er erzählt von seinem Ferienjob beim Daimler und von seiner
Indienreise, die er vorhat. Seine glatten braunen Haare fallen ihm lang über die Schultern herab und er
schiebt sie immer wieder hinter sein AOK-Standard-Brillenmodell.
Er kann einmalig erzählen , der Siggi, seine grosse Stärke, er schreibt Geschichten und Gedichte, seine
Aufsätze sind berühmt, die Diskussionen mit ihm in Deutsch und Geschichte sind bei den Lehrern gefürchtet,
er hat einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und eine Fantasie, die grenzenlos scheint.
>Es ist vollkommen egal, welche Geschichte du erzählst , sie muss nur Gefühle in dir wecken, ein Bild
zeichnen, das dich nicht mehr loslässt, dann ist sie gut<, so hat er es mir gesagt und ich habe ihn bewundert.
Die ultimative Geschichte möchte er schreiben, nach der nichts mehr kommt, davon hat er geträumt.
"Zoffmann kommt, er hat die Arbeit dabei"...Balkes Ruf lässt alle Richtung Platz schlendern, die noch nicht
sitzen, ....Zoffmann?, er gibt Deutsch, wir hätten ihn erst in der 6. Stunde...ich schnippe die Kippe nach
draussen und setze mich neben Siggi, der seltsam angespannt wirkt.
Zoffmann ist ein kleiner, geschäftiger Mensch, der neben Deutsch noch Erdkunde und Religion gibt,
der aber als ungefährlich gilt, was Einträge und Nachsitzen anbelangt. Sein Markenzeichen ist, dass er
sein krawattenloses Kragenhemd bis zum letzten Knopf verschliesst, daran bislang aber seltsamerweise
noch nicht erstickt ist.
Mit raschen Tippelschritten betritt er das Klassenzimmer, setzt vorsichtig den Stapel DINA4 Hefte ab,
begrüsst uns, bekommt als Antwort das übliche Gebrumme und fängt gleich mit dem austeilen der Hefte
an....Arbeck, Anheld,....bis Zacke...jeder bekommt sein Heft, Überraschungen gibt es keine die Noten
zwischen 2...und...4, bei Hoffmann hat jeder seinen Standard, ausser Siggi, der sprengt ihn regelmässig, den
Standard
...und Siggi hat dieses Mal sein Heft nicht bekommen. Ich schaue ihn an, er ist bleich um die Nase, vielleicht
will ja Zoffmann den Aufsatz noch vorlesen, als besonders gelungenes Beispiel, wie schon so oft?
Das Thema des Aufsatzes war " Demokratischer Rechtsstaat, Demokratie für alle?", eine dialektische
Erörterung, ein Thema, Siggi wie auf den Leib geschneidert, er.......
"H., ihren Aufsatz hat der Direktor, melden sie sich bitte gleich auf dem Rektorat".
Siggi steht mit einem Ruck auf, sein Stuhl fällt um, er verlässt ohne ein Wort das Zimmer.
Wir sind alle wie erstarrt, so was war noch nie da.
Ich sehe Siggi heute noch vor mir , wie er dastand , sein bleiches Gesicht, die langen, braunen Haare
hinter das Brillengestell geklemmt.
Es war das letzte Mal in meinem Leben, dass ich ihn gesehen habe.
Vom Direktor kam er nicht mehr zurück, nachmittags ging ich nach hause zu ihm, er war nicht da,
seine Eltern , einfache Leute, der Vater beim Zoll, sagten, Siggi hätte einen Schulverweis bekommen,
mit sofortiger Wirkung und auf Dauer!
Es ginge um den Aufsatz und die darin geäusserte Meinung , nein, gesehen hätten sie den Aufsatz nicht.
Siggi war dann für mich nicht mehr zu erreichen, ging später wohl eine längere Zeit nach Indien, ich zog
von R. weg, ab und zu Besuche, Gerüchte von Freunden, Siggi sei in Heidelberg, im Sozialistischen
Patientenkollektiv, dann wieder über lange Strecken keinerlei Nachricht, die Eltern wohnten noch in R.,
von ihm keine Spur, dann.....der 24.4.1975, die Nachrichten: ....Kurz vor Mittag besetzt das "Kommando
Holger Meins" der RAF die deutsche Botschaft in Stockholm und nimmt 26 Geiseln. Das Kommando
fordert die Freilassung von Gesinnungsgenossen. Bei der anschliessenden Erstürmung der Botschaft
werden ein Terrorist sowie 2 Botschaftsangehörige getötet. Der andere Terrorist wird durch
Gewehrkolbenschläge schwer verletzt. Obwohl ihn schwedische Ärzte für transportunfähig erklären, besteht
die deutsche Regierung auf sofortige Verlegung . Er stirbt am folgenden Tag auf der Intensivstation des
Gefängniskrankenhauses in Stuttgart-Stammheim.
Der Name Siegfried H........Alter: 22 Jahre
Ich habe Siggi nach seinem verschwinden, nach seinem untertauchen oft bewundert, stellte mir das Ganze
abenteuerlich vor, später dann hatte ich Mitleid, verspürte eine leise Verzweiflung und ....Wut.
Was wäre, wenn....??
...wenn sie ihn nicht von der Schule geworfen hätten, wenn sie seinen Aufsatz diskutiert hätten, mit ihm,
mit uns...gelesen habe ich ihn leider nie, aber seid der Zeit versuche ich zu schreiben, versuche zu ergründen,
was man schreiben muss, um von einer Gesellschaft ausgestossen zu werden, die sich demokratisch nennt,
aber eigentlich war es ja nicht die Gesellschaft, es war ein Teil davon, ein wichtiger Teil...
Was wäre wenn....??
...wenn man sich mit ihm auseinandergesetzt hätte, wie es die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der Schule
ist, wenn man miteinander gesprochen hätte, wenn man eine andere Meinung akzeptiert hätte.
....zumindest Siggi H. könnte heute noch leben, der Rest ist........ungewiss.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.10.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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