Martine Meyer

Unerwartete Erinnerung

Sie sah auf die Uhr. Zwanzig Minuten noch bis zu ihrem Termin. Sie lächelte und stellte das Buch zurück in das große Regal der städtischen Bibliothek. Sie lag gut in der Zeit. Bevor sie die Bibliothek betreten hatte, hatte sie alles genau berechnet; Fünf Minuten um an der Kasse anzustehen, zehn Minuten Fahrt, fünf Minuten für Warteschlangen, rote Ampeln, Stau, oder Ähnliches. Dann wäre sie genau drei Minuten zu früh dort. Alles passte! Alles war genau berechnet und nichts würde schief gehen, denn sie hatte an alles gedacht. Leider kam ihr trotzdem etwas dazwischen: das Unmögliche. Doch wer könnte ihr deswegen Vorwürfe machen? Denn wie sollte man das Unmögliche zeitlich einplanen?
 
Als sie auf die großen Glastüren zuging, die die Bibliothek von der Außenwelt trennten, sah sie flüchtig auf die Uhr über dem Ausgang. Die fünf Minuten für das Anstehen am Ausleiheschalter hatten genau gereicht. Nun flink aufs Fahrrad und fleißig losgeradelt. Als sie durch die erste der beiden automatischen Türen schritt, grinste sie fröhlich und pfiff kurz und vergnügt durch die Zähne. Sie war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie den Jungen gar nicht bemerkte, der gerade durch die Eingangstür das Gebäude betreten hatte, und nun schnellen Schrittes auf sie zukam. Und auch jener Junge hatte noch keine Ahnung davon, wer ihm im nächsten Augenblick gegenüber stehen würde. Erst als die beiden beinahe zusammen gestoßen wären, bemerkten sie ihren Gegenüber. Die Veränderung im Gesicht des Mädchens, als sie den Jungen erkannte, war verblüffend. Das fröhliche Lächeln verschwand auf der Stelle. Es wich einem Ausdruck von Entsetzen und Verwirrung, der so stark war, dass man annehmen konnte, das Mädchen hätte das Lachen für immer verlernt. Der Ausdruck in ihren Augen allerdings war noch verblüffender. Diese waren weit aufgerissen, die Pupillen waren klein, jeder Hoffnungsschimmer, jedes Funkeln oder Leuchten war gewichen. Dem Mädchen stand die nackte Angst und Panik in den Augen. Dem Jungen ihr gegenüber schien es nicht im Entferntesten so zu gehen. Verblüffung war das einzige, was sich auf seinem Gesicht spiegelte. Einige Zeit lang standen die beiden einfach da und starrten sich an, als seien sie gerade einem Engel begegnet und nicht einem alten Bekannten; oder sollte ich lieber sagen einem Teufel?! Ganz langsam, wie in Zeitlupe, füllten sich die Augen des Mädchens mit stummen Tränen. Als die erste ihre Wange herunterlief, gaben ihre Beine nach und sie fiel auf die Knie. Das Gesicht, an dem inzwischen mehrere Tränen ihre Bahnen zogen, hatte sie in den Händen versteckt. Alles war still, sie saß dort auf dem Boden auf ihren Unterschenkeln, das Gesicht noch immer in den Händen und weinte stumm. Die Tränen liefen ihr unaufhörlich über das Gesicht. Und der Schmerz breitete sich immer weiter in ihrem Körper aus. Er erfüllte erst nur ihr Herz, dann befiehl er ihren gesamten Brustkorb, strömte durch den Oberkörper in den Kopf, floss durch die Beine, in die Füße und schließlich in die Arme. Als er ihre Fingerspitzen erreicht hatte, konnte sie sich nicht mehr beherrschen. Sie nahm die Hände vom Gesicht und schrie. Schrie aus Leibeskräften. Schrie den Schmerz heraus. Schrie um sich von ihm zu befreien, doch der Schrei machte alles nur noch schlimmer. Die Erinnerungen fingen an durch ihren Kopf zu rasen. Erst langsam, zögerlich, erst eine, dann zwei, schließlich wurden es immer mehr. Bis es so viele und so schnell und so verwirrend und so schmerzhaft wurde, dass sie aufhörte zu zählen. Sie ließ sich von der Erinnerung einholen. Von der Erinnerung, die sie verdrängt hatte:
Sie sah diesen Jungen. Diesen Jungen, der hier nun vor ihr stand und all diese schmerzlichen Erinnerungen wieder hervorholte. Sie sah wie er sie anlächelte. Einfach nur da stand und sie anlächelte. Dann rasten die Bilder so schnell durch ihren Kopf, das sie sie selbst kaum erfassen konnte: Ihre beste Freundin, die sie ohne mit der Wimper zu zucken verraten hatte; er, dieser Junge, den sie so geliebt hatte; der Schmerz, der sie nicht mehr losgelassen hatte, seit die beiden das erste Mal zusammen gewesen waren; die Klassenfahrt; ihr Kumpel, der in ihr Verhalten etwas Falsches hineininterpretiert hatte; die Abneigung aller, die sie geliebt hatte; das Messer; die Schnitte; das Blut; die Schmerzen; die Fragen!! Warum, Warum, WARUM? WARUM?? WARUM???????? Der Strom von Erinnerung brach ab und ein einziges, klares Bild entstand in ihrem Kopf. Sie sah sich vor dem Computer sitzen, auf dem Bildschirm flimmerte der letzte Brief, den sie in ihrem Leben schreiben würde. Das Messer in ihrer Hand, sollte sie nun endlich von ihrem Leiden befreien. Sie hatte zu gestochen, das Blut lief den Arm hinab und tropfte auf den Boden, tropfte unaufhörlich. Vor ihren Augen wurde es schwarz, langsam, ganz langsam, verlor sie das Bewusstsein. Doch ein Gedanke war in diesen Sekunden nach dem Schnitt, der ihr Leben beenden sollte in ihr Bewusstsein gedrungen. Warum das alles? Warum tue ich das? Ich will doch gar nicht! ICH WILL NICHT STERBEN!! Mit letzter Kraft schaffte sie es ins Bad, verband die Wunde, betete, flehte, und empfing die Gnade des Himmels. Der Tag danach: Besuch bei Freuden, sie bedankte sich, weinte, freute sich, erzählte, erklärte, wurde im Arm gehalten, wurde getröstet. Doch das Leid ging weiter, der Schmerz hörte nicht auf. Und ihre Sucht begann von neuem.
Bis zum heutigen Tage, an dem sie diesen wichtigen Termin hatte, gingen ihre Erinnerungen. Der Schmerz begleitete sie weiterhin, doch sie verdrängte ihn. Nur wenn sie alleine war, kamen die Tränen, kam das Verlangen erneut, sich für das zu bestrafen, was sie getan hatte.
 
Langsam, ganz langsam, wurde ihr bewusst, dass sie immer noch in der Bibliothek war. Sie saß immer noch zwischen den beiden Glastüren des Ausgangs. Vor ihr stand jener Junge. Hätte sie diesen Jungen nicht kennen gelernt, wäre sie jetzt vielleicht glücklich? Sähen ihre Arme jetzt aus, wie die Arme jedes anderen 16- jährigen Mädchens auch? Würde der Schmerz endlich von ihr ablassen? Sie wusste es nicht. Wie in Trance sah sie auf ihre Uhr. Die fünfzehn Minuten, die sie noch bis zu dem Beginn ihres Termins gehabt hatten, waren längst vorbei. Sie stand auf, seufzte. Lächelnd schlang sie die Arme um den Hals des Jungen ihr gegenüber und begrüßte ihn. Dann floh sie so schnell es ging aus der Bibliothek unter dem Vorwand ihren Termin zu verpassen. Als sie auf der Straße stand, sah sie noch einmal zurück und winkte dem Jungen, der da stand. Ihrem einzigen und besten Freund.
 
Als sie vor dem Haus ankam, in dem sie zu diesem Termin verabredet war, dachte sie noch einmal zurück an das, was dort in der Bibliothek geschehen war. Sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Wieder war sie sauer auf sich. Wie konnte sie sich denn so vergessen? Sie griff in ihre Tasche und tastete zwischen den vielen verschiedenen Utensilien, die sich darin befanden herum. Dann spürte sie den kühlen Griff ihres Messers, das sie immer bei sich trug. Erleichtert seufzte sie. Sie würde sich wohl nachher kurz auf die Toilette verdrücken müssen, um die Erlebnisse dieses Tages zu „verarbeiten“. Doch sie musste vorsichtig sein! Denn das würde auf ewig ihr Geheimnis bleiben. Es würde auf ewig in ihrer Seele verschlossen bleiben.........und diese von innen auffressen....bis sie wieder genug Mut hätte um „es“ ein zweites Mal zu versuchen..........und dieses Mal würde es nicht scheitern! Das verspreche ich, dachte sie, als sie die große Holztür aufdrückte.
 

Hallo ihr!

Ich möchte an dieser Stelle eigentlich nicht so viel über die Geschichte sagen...doch da ich weiß, dass sie an manchen Stellen etwas verwirrend ist, werde ich natürlich zur Verfügung stehen, wenn ihr irgendwelche Fragen habt!!

Viele Grüße eure Tiny
Martine Meyer, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.10.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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