Yvonne Habenicht

Die Prinzessin im Teich

 

 

 

Es gibt keine kleinen Prinzessinnen mehr, die in alten prächtigen Schlössern wohnen, denkt ihr? Ist nicht wahr. Ich kann von einer erzählen:

 

Sie hieß Belinda von Burgeswurz und wohnte mit ihrer Mutter, zwei Tanten und vielen fleißigen Angestellten auf einem alten Gutsschloss. Den Vater, den Fürsten, sah sie selten, denn er war in der großen weiten Welt unterwegs, wo er Gelder auftreiben musste, um das große Anwesen zu unterhalten. Das ist nämlich gar nicht so einfach, weil so ein altes Schloss schon Stürme, Krisen und Kriege mitgemacht hat und der Zahn der Zeit an ihm nagt, wie an anderen alten Häusern auch. Die letzteren kann man abreißen, solch altes Schloss mit Giebeln, Türmen, Verliesen, riesigen Balkons und unzähligen Zimmern, Küchen und Bädern aber nicht. Keiner würde heute so was wieder genau so bauen können. Auch die vielen Gärten und der Wald ringsum müssen gehegt und gepflegt, die Felder bestellt, die Ställe in Ordnung gehalten werden und so vieles mehr.

 

Und auch wenn die Fürstin mit Lohngeldern geizte, dass einem die Zähne knirschten beim Auszahlen, waren immer neue Löcher zu stopfen.

 

Im näheren Umkreis gab es keine große Stadt, keine Autobahn und keinen Flughafen. Die Gegend, in der unsere Belinda aufwuchs, war also noch ziemlich altmodisch. Und so altmodisch war und dachte auch ihre Mutter. Belinda durfte nicht in Jeans herumlaufen, mit den Bauernkindern oder denen der Angestellten spielen, sie durfte kaum mal fernsehen, wusste nicht, was ein Computer ist und war auch noch nie weitergekommen als bis zum Tor.

 

Weil aber auch noch so dicke Schlossmauern das Leben draußen nicht ganz ausschließen können und die kleine Prinzessin nicht auf den Kopf gefallen war, erfuhr sie eine ganze Menge von der Welt. Mal plauderte das Kindermädchen, mal eine der Köchinnen, und auch die Gärtner und Landarbeiter waren nicht stumm.

 

Wen könnte es wundern, dass das Mädchen mit seinen acht Jahren auch gern all die Dinge gesehen hätte: Große Städte mit Kaufhäusern, Spielplätzen und Schulen. Nur die Mutter, Verena von Burgeswurz, die glaubte fest, sie könne ihr wunderschönes, zartes Mädchen mit den großen graugrünen Augen und den langen hellbraunen Locken vor solchen Dingen wie Hip-Musik, Autounfällen, Politik, Demos und Umweltverschmutzung bewahren. Sie hoffte, aus Belinda so ein Prinzesschen aus längst vergangenen Zeiten machen zu können, mit Privatlehrern und später vielleicht in einem teuren Internat.

 

 Belinda aber dachte schon lange an nichts anderes als an Spiel mit Kindern, mit denen man allerlei Unsinn machen, die verpönte Musik  hören und Filme sehen konnte. Oft weinte sie nachts leise in ihr Bett beim Gedanken an die vielen Dinge, die sie da versäumte. Sie, die ja nicht mal auf ein richtiges Pferd, sondern nur auf das allermickrigste Pony durfte. An Radfahren war gar nicht zu denken. Verständlich, dass sie sich immer wieder tausend Wege aus dem Schloss ausdachte, die aber alle nicht richtig funktionierten, weil sie nie ganz allein war. Nicht mal beim Baden oder auf dem Klo.

 

Doch eines Tages gelang es diesem allzu behüteten Kind, auszubüxen und allein in den Schlosspark und den angrenzenden Wald zu entweichen. In vollen Zügen genoss sie die Freiheit, ganz allein herumzustreifen, und sie war wohl darauf bedacht, dass nicht etwa ein Gärtner oder sonstiger Angestellter sie entdeckte und dem Spaß ein Ende machte. Sie hüpfte jauchzend durch den Wald, betrachtete die Vögel, Eichhörnchen, die Ameisen, die ihre Straßen bauten und große Käfer schleppten. Sie selbst fing Käfer, die sie über ihre Arme krabbeln ließ und dann wieder ins Farn setze. Sie kickte mit ihren blanken, weißen Schuhen Steinchen durch die Gegend, schlug mit Stöcken gegen die Bäume, lachte, wenn dann Vögel aufflogen. Ein Teich zog sie in seinen Bann, denn auf ihm schwammen Seerosen, Frösche quakten, und wenn man lange ins Wasser schaute, konnte man kleine Fische erkennen. Ein Frosch hatte sich auf einer großen Seerose niedergelassen und gab sein Konzert. Zu gern hätte Belinda ihn nur mal ganz kurz gefangen. Nur mal fühlen, wie sich so ein Frosch anfasste. Mit dem Wasser hatte sie wenig Erfahrung und konnte auch noch nicht schwimmen. Sie reckte und streckte ihre kleinen Arme nach der Seerose, und ehe sie sich’s versah, landete sie kopfüber in dem grünschimmernden Wasser.

 

Belinda strampelte verzweifelt, griff vergebens nach den Seerosen, die keinen Halt gaben, und versank. Die Wassergeister griffen mit ihren grünen Fingern nach ihr. Sie lachten, mal fröhlich, mal hämisch und trieben ihr Spiel mit dem Kind. Sie ließen sie auf- und niedertauchen. Kaum hatte sie mal kurz Luft geschnappt, dann griffen sie wieder nach ihren Beinen und zogen sie in die dunkle Tiefe. Kleine Fische glitschten an ihren Armen und Beinen, dem Gesicht entlang, die Wassergeister aber warfen einander das Kind zu, als wäre es ein willkommenes Spielzeug. Belinda war längst ganz schwindelig und wusste kaum noch, ob sie sich im Traum oder der Wirklichkeit befand. Immer wieder schubsten die Teichgeister sie kurz zum Atmen an die Oberfläche, denn an einem toten Kind hätten sie nur halb so viel Spaß gehabt. Aber auch die lebende Belinda hörte bald auf zu zappeln und um sich zu schlagen, denn die Kräfte verließen sie. Da hatte sie für die Wassergeister keinen Spaß mehr zu bieten, und sie schubsten sie kurzerhand ans Ufer.

 

Dort lag sie, schnappte nach Luft und war von Kopf bis Fuß dunkelgrün von den Pinselfingern der Wassergeister. Sogar ihr langes Haar war grün, Algen hingen darin. Langsam kam sie zu sich, zog auch die Beine aus dem Wasser und hockte sich auf einen sonnenwarmen Stein. Sie fuhr mit den Fingern durch das algenverklebte Haar, konnte es aber nicht entwirren und strich es einfach nach hinten, grün wie es war. Nach einem Weilchen, als ihr Atem wieder ruhig und gleichmäßig ging und der Schreck aus ihren Gliedern gewichen war, machte sie sich vorsichtig auf den Rückweg. Nun wollte sie erst recht niemandem begegnen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange die Wassergeister mit ihr gespielt hatten, wie lange sie auf dem Stein gehockt und wie lange sie zuvor durch den Wald gestreift war. Sie sah nur, dass die Sonne langsam am Horizont sank. Bestimmt wurde sie schon gesucht. So schlich sie, als sie den Park erreichte, zwischen den Büschen einher, versteckte sich, sowie sie Stimmen oder Schritte zu hören wähnte, und erreichte schließlich, als es schon dämmerte, das Schloss.

 

Natürlich war man dort seit Stunden in heller Aufregung. Die Fürstin hatte dem Kindermädchen bereits die Kündigung angedroht und beschwor alle mögliche Gefahren herauf, die draußen auf das arme Mädchen warten könnten. Suchtrupps waren unterwegs. Belinda schlich sich durch einen der hinteren Eingänge ins Schloss, an der Küche vorbei, wo niemand sie beachtete, denn keiner hielt das kleine Ding in dem dunkelgrünen Fetzen und den filzigen Haaren für die Prinzessin. Mit der hatte sie wirklich kaum noch Ähnlichkeit. Sie erreichte ihr Zimmer, wo sie allein war, denn dort vermutete sie keiner, nachdem doch bereits das Schloss um und um durchsucht worden war.

 

Belinda sah in den Spiegel. Doch ihr Spiegelbild entsetzte sie nicht. Nein, sie lachte ihm zu, denn je mehr sie sich das Erlebte vor Augen hielt, desto klarer wurde ihr, dass sie ein einmaliges Erlebnis hinter sich hatte. Etwas, das keiner, den sie kannte, vor ihr erlebt hatte. Fast meinte sie zu sehen, dass sie ein paar Zentimeter größer geworden war. Sie nahm eine Schere und schnitt sich ruck zuck die hoffnungslos verklebte Haarmähne ab. Dann riss sie Kleid, Wäsche und Strümpfe herunter und sprang unter die heiße Dusche. Was dann herauskam, war ein zwar nicht mehr grünes Mädchen, doch eines mit einem sehr eigenwilligen, zippeligen Haarschnitt. Das war ihr egal. Sie wühlte im Kleiderschrank, bis sie eine Jogginghose fand, die sie kaum mal Gelegenheit zu tragen gehabt hatte, schlüpfte in einen Pullover, stellte sich wieder vor den Spiegel und sagte zu sich: „Belinda, du bist gar nicht so doof, wie sie dich gern haben wollen. Du wirst auch nie wieder so tun. Du bist den Wassergeistern entkommen, und nun wirst du dir nichts mehr vormachen lassen. Ab jetzt sagst du, was du willst, und tust es auch, und selbst wenn sie sich alle auf den Kopf stellen.“

 

So ging sie hinunter in den Salon und lief geradewegs der entgeisterten Mutter in die Arme, die kaum fassen konnte, dass dies ihre verwöhnte kleine Prinzessin war. Das aber war nur der erste Schreck. Gewiss freuten sich alle, dass die Suche abgeblasen werden konnte und das Mädchen zumindest gesund aufgetaucht war, doch die Freude wich bald Staunen, dann Ärger und schließlich dem Versuch, das beste aus der Situation zu machen.

 

Aus was für einer Situation? Ja, unsere Belinda war einfach nicht mehr das behütete Prinzesschen, das von Tuten und Blasen keine Ahnung hatte. Sie ergriff einen großen Koffer und stopfte all ihre feinen Kleider, Strümpfe und Schuhe hinein, packte ihn und schleppte ihn ins Dorf hinunter. Dort, auf dem Spielplatz, wo sich nach der Schule die meisten Kinder vergnügten, ließ sie ihn auf den Boden plumpsen, aufschnappen und rief den Mädchen zu, sie könnten all die Sachen haben, geschenkt. Sie überredete das Kindermädchen, mit ihr in die Kreisstadt zu fahren, und kaufte sich dort Kleidung, wie sie all die anderen Kinder, die sie da sah, trugen.

 

Sie bestand darauf, endlich in eine richtige Schule zu gehen. Nein, kein Internat, wischte sie den Vorschlag der Eltern beiseite, sie wollte in die Schule in der Kreisstadt, in die die Kinder aus den Dörfern ringsum gingen. Es war nichts zu machen, nicht mit gutem Zureden, nicht mit Drohen und Schimpfen, Belinda ließ sich nicht davon abbringen. Sie drohte, davonzulaufen oder nie mehr zu essen.

 

Nachdem sie den Familienfrieden gründlich durchgerüttelt hatte, gab man ihr schließlich nach und erlaubte gleichfalls, dass sie, so oft sie wollte, ins Dorf hinunter zum Spielen gehen durfte. Sie lernte schwimmen, auf großen Pferden reiten und zeigte sich im Sportunterricht als überaus begabt. Einen regelrechten Ohnmachtsanfall erlitt ihre Mutter, die Fürstin, schließlich, als Belinda ihr eröffnete, Fußball spielen zu wollen. Aber auch das setzte sie durch und war in ihrer Mannschaft sehr erfolgreich.

 

So wuchs sie am Ende doch ganz und gar nicht prinzessinnenhaft heran, aber abgesehen von der Fürstin und dem Fürsten war man sich einig, dass sie bei weitem die allernetteste Prinzessin war, die man je auf diesem Schloss erlebt hatte. Und ganz bestimmt war sie nie dünkelhaft, nie eingebildet, und wenn etwas sie furchtbar störte, so war es das „von“ vor dem Namen Burgeswurz, der doch auch ohne „von“ schon schlimm genug war.

 

Allerdings, in stillen Stunden ging sie oft in den Wald und ließ sich am Ufer des Teiches nieder. Nie wieder versuchte sie nach Fröschen zu greifen, sie war nun ja auch viel älter und klüger. Doch so manches Mal hielt sie stumme Zwiesprache mit den Wassergeistern, denen sie eigentlich verdankte, gelernt zu haben, ihren eigenen Weg zu gehen. Waren es doch jene Wassergeister gewesen, die ihr klar machten, dass sie nicht klein und hilflos ausgeliefert war, sondern sehr wohl ihren kleinen Kopf durchsetzen und nach ihren eigenen Vorstellungen leben konnte.

 

 

© Yvonne Habenicht, Berlin 2005

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.10.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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