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Stadt im Herbst
Sonntagmorgen. November-Nieselregen. Lena geht auf der ‚Promenade‘ spazieren.
Durchs Flusstal bricht von Lothringen her mit mächtigen Stößen Wind ein in die City.
Die Promenade ist von Anfang an als Aushängeschild und ‚Flaniermeilchen‘ gedacht. Sie läuft
auf Betonpfeiler gestützt, erhöht wie eine Empore, ein Stück am Fluss entlang, der fünfzehn Meter tiefer unten
fließt.
Die Promenade ist eine Straßenzeile ... auf der einen Seite Geschäfte, Kneipen, Italo-Eis-Cafés, auf der anderen Seite ein simples Stangengeländer aus Eisen – stahlgrau. Eine irgendwie geartete Aussicht hinunter aufs Wasser!
Oben, neben dem Geländer hin und wieder eine Sitzbank - weiß, Plastik - sowie in Eternitkübeln schwächliche Bäumchen.
Höchstens an heißen Sommernachmittagen herrscht hier die Betriebsamkeit und Lebensfülle, die Architekten als selbstverständlich ins Bild eingeplant hatten.
Nein, hier hält man sich ungern auf. Nicht nur bei schlechtem Wetter liegt die Promenade öd da. Es fehlen die Menschen, die Käufer, Schaufensterbummler. Warum? Keine Ahnung!
An perfekt schönen Hochsommertagen, wenn es wirklich niemanden mehr zuhause hält, stellt man vor den Lokalen die Tische und Stühle nach draußen. Dann sitzen die Gäste so zusammengedrängt in der Sonne, dass kein Platz frei ist, schauen hinunter aufs immer graue Wasser, zu den Anlagen ohne Blumenzier und auf die wenigen Bäume.
Es gibt romantischere Winkel auf dieser Erde. Schlimmere auch.
*
Jetzt ist November.
Die zugige Promenade liegt verlassen da.
Heute morgen läuft hier oben kein Mensch.
Vom anderen Ufer des Flusses tönt der brandende Sound der Stadtautobahn, der nie aufhört, so wie das Rauschen des Meeres nie aufhört. Das immerwährende Brausen des Highways zerrt an den Nerven der Spaziergängerin und quält, während an fernen Meeresstränden das Branden der Wellen sich nicht viel anders anhört, aber stets ihre Seele erfreut hat.
Wenn Lena die Augen zumacht könnte sie denken, sie sei an der Atlantikküste der USA. South Carolina. Nur, wenn sie die Augen schließt. ...
Unten fließt, trüb, träge, nicht schmal nicht breit, ihr Heimatfluss. Große Gefühle hat er nie in ihr ausgelöst, schon damals nicht, als sie ein Kind war.
Unten am Ufer entlang, wo im vorletzten Frühjahr noch blumenbestandene, liebliche Anlagen waren, haben sie neuerdings den Boden pflegeleicht mit Hecken bedeckt, stacheligem Grünzeug, undurchdringlichem Stechapfelgestrüpp, Dickicht aus Koniferen.
Das niedere, dornige Gekröse hat mit seinem Zwergwuchs den Uferboden ganz überwuchert. Dort kommt niemand bis zum Fluss durch. Auf diese Weise ist den Pennern ihr Stammplatz genommen, sind sie in dieser Umgebung am Platte-Machen gehindert. Jetzt haben sie sich verzogen und stören keinen mehr.
In den zugigen, offenen Gewölben, unter den Betonpfeilern der Promenade, nah am Wasser - sagt man -
trieben sich jedoch Zwielichtgestalten herum. Trotz der bequemen Treppen wagt sich da niemand hinunter.
...
Grau sind Himmel und Stadt.
Es regnet seit Wochen.
Es scheint jeder neue Tag noch schwärzer zu werden, als der vergangene war.
November-Niesel-Regen. Hinter der Glasfront im rot gepolsterten ‚Pub‘ sitzen Leute beim Frühstück, rauchen, plaudern. Die sind an diesem Morgen für Lena die ersten lebendigen Wesen, die sie zu Gesicht bekommt. Und doch, unreal ist es - wie ein Film, der da drinnen abläuft - hinter den Scheiben. Ganz und gar lautlos.
Lena denkt, sie sollte auch hineingehen für eine Tasse Espresso. Bis vor kurzem hat sie hier oft am Abend gesessen. Nach Büroschluss. Mit Aaron. Mit anderen Männern. Oder in einer Kolleginnen-Clique. Niemals allein. Dann hat sie ihre Arbeit verloren.
Wann ist sie zum letzten Mal da drinnen gewesen? Es musste ein viertel Jahr her sein. Sie liebt das ‚Pub‘. In den samtigen Polstern aus rotem Plüsch hängt der leichte Geruch von Kaffee. Parfüm. Altverschüttetem Cognac. Tabak. Staub. Diesen Duft mag sie gern. Das Lokal ist in Mode. Dieses ‚Pub‘ erinnert sie immer an ein ausrangiertes Zugabteil: Ein bisschen wie Orient-Express: exquisit, luxuriös, goldene Art- Deco-Armaturen, Samt, dunkelrot. Das Lokal ist schmal wie ein Schlauch. Raumgreifend sind die Panoramascheiben an gleich zwei Seiten. Dass man durch den weiten Ausblick die Enge im Inneren kaum spürt.
Heute muss Lena auf die Tasse Kaffee verzichten, denn sie stellt fest: Geld hat sie keines in die Manteltasche gesteckt.
Eigentlich ist sie panikartig geflohen, weil ihr in der Wohnung die Luft langsam wegblieb und weil es ihr draußen, trotz des Regenwetters wohler sein würde, hatte sie gedacht.
Aber auch wenn sie Geld bei sich hätte, so fehlt ihr heute morgen die Lust, da unter fremden Menschen zu sitzen.
Besser, sie spart sich den Kaffee, denn auch zuhause hat sie fast kein Geld mehr.
Das Dasein ist eng. Die Welt hat sich verschlossen. Sie begreift noch nicht, dass sie arm ist, denkt, ein ihr zustehendes Wunder müsse irgendwie kommen. Bald.
Nur vage, dumpf, spürt sie an Tagen wie heute, wie unter ihr das Eis dünn ist. Es könnte auch brechen.
Geld war ihr nie wichtig. Jetzt schon, wo es 'weg' ist. Die Summe, die sie nach herzzerreißender amerikanischer Ehe–Auflösung bekommen hat ( zwei Jahre ist es her und eine hundsgewöhnliche Scheidung war es, wie es Millionen gibt ), diese gar nicht hohe Summe zusammen mit ihrem größeren Erbteil vom Vater, hatte ihr Bruder W. für sie 'angelegt'. Zinsgünstig! Zusammen doch Geld, mit dem sie gute fünfzehn Jahre hätte locker leben können, wenn sie sich noch ihren Halbtagsjob erhalten hätte, aber zur Not und mit kleinen Einschränkungen auch ohne Job. Fünfzehn Jahre praktisch sorglos hätte sie leben können. Das hatten Sachkundige ihr ausgerechnet.
W., ihr Bruder, hatte aber mehr Überblick als alle und bot sich an, ihre Finanzen zu verwalten. Er hatte Betriebswirtschaft studiert und brachte Schülern die Regeln der Finanzkunst bei. Bei ihm waren Lenas Interessen in kompetenten Händen. Nicht dass er sich ansonsten groß um seine Schwester gekümmert hätte. Selten sahen sie sich. Er tanzte auf vielen Hochzeiten. War immer auf Achse und in Eile. Einen Beruf hatte er natürlich auch. Er war kein Tagedieb. Studienrat war er an einer staatlichen Schule. Oberstudienrat. Beamter.
"Ich habe mich verspekuliert", kam ihr Bruder eines Tages zu ihr. Er unterrichtete sie davon ganz nebenbei. Fast ohne Bedauern. Kühl. Zuckte die Achseln. Als wolle er sagen: Na ja, so etwas kann schon mal passieren!"
Lakonisch meinte er: "Jetzt bin ich bankrott. Den Banken schulde ich dreihunderttausend DM. Dein Geld ist ebenfalls futsch.
Er hatte außer Lenas Geld auch das seiner Frau und mehrerer Freunde zu fragwürdigen, augenwischerischen Transaktionen benutzt. Nur nie für irgend jemanden irgend etwas angelegt.
Obwohl die monatlichen Zahlungen, die Lena aus ihrem Vermögen und den Zinsen bekommen sollte, ein Jahr lang regelmäßig bei ihr eingegangen waren, war alles ein Lügengebäude gewesen. Vom eigenen Bruder mit krimineller Energie betrieben. Mit sinnlosen Verträgen, gestützt durch Lebensversicherungspolicen, mit denen sie im Fall, dass ihm etwas zustöße, gut abgesichert sei, hatte er sie in Ruhe und Arglosigkeit eingewickelt. Die Policen hatte es wirklich gegeben, aber er hatte sie nach wenigen Monaten wieder ohne ihr Wissen aufgelöst und dann gab es nichts mehr. Er hatte die vertrauensvolle Schwester böse getäuscht.
Sie hatte viel erlebt, aber an so Übles hätte sie in keinem Alptraum gedacht. Ein kompliziert zurechtgezimmertes Gespinst hatte der Bruder aufgebaut, das niemand durchschaute. Von ihm ausgeklügelt bis ins letzte Detail. Wirklich hatte er das Geld jedoch in den Spielbanken gelassen zwischen Bad Dürkheim und Travemünde. Dass er ein Zocker geworden war, während sie in den U.S.A. lebte, dass ihm das Wasser bis zum Hals stand, erfuhr Lena bei ihrer Rückkehr nicht und von niemandem. Obwohl manche in der Familie es wussten. Man hätte sie warnen können. Wenn irgend einer der Verwandten wirklich um sie besorgt gewesen wäre!
Lena ist eine elegante Spaziergängerin. Ihr Mantel aus schneeweißem Wollstoff mit Cashmere, in Baltimore gekauft, ist ein Modellstück gewesen und die Ozelotkappe sieht immer noch gut aus.
Ich sollte umkehren, denkt sie, es könnte ja sein, dass mein Liebling inzwischen zuhause ist. ‚Mein Liebling‘, das ist Robi, ihr Teenager-Sohn.
Seit zwei Tagen ist er jetzt wieder weg. Fort. Im Kühlschrank steht das Mittagessen von gestern, das sie für ihn gekocht hat und die Mahlzeit vom vorgestrigen Abend . Sie ist zu müde gewesen heute morgen und zu phlegmatisch, um das alles wegzuwerfen.
Sie denkt: Wenn ich besser kochen könnte und ihm auch sonst mehr Gluckenhalt böte, dann hinge er vielleicht nicht viele Tage und Nächte Haschisch rauchend bei Leuten herum, die ich nicht einmal kenne ... Also, ich werde zurückgehen
und auf ihn warten.
Das Unwetter rüttelt, zerrt an Gebäudefassaden. Was nicht niet-und nagelfest ist, fliegt durch die Luft. Der Wind verfängt sich an Giebeln, Dächern. Heult um Ecken und Erker. Wirbelt Müll durch die Luft. Reißt die merkwürdigen Abfallkörbe aus grünem Hartplastik aus ihren Halterungen.
Um zehn Uhr in der Frühe an diesem Sonntagmorgen ist schwarz-grau die einzige Farbe im Spektrum, so trostlos, als trudle die Erde, aus den Angeln gehoben, beschleunigt der Sintflut entgegen. Weltuntergang.
Auf dem Asphalt springen Coladosen scheppernd übers Pflaster. Abfalltonnen schlittern davon wie geölt. Müll aus umgestürzten und weggerissenen Containern. Melonen ... matschige, hüpfen ihr vor die Füße. Zeitungsseiten und blutiger Fleischabfall. Eine Fensterscheibe hört man klirrend zersplittern. Blumentöpfe fliegen von oben herunter.
Federleicht ist Lena, dreht um, will zurücklaufen zur Wohnung. Da schlägt ihr eine Sturmbö aber bretthart und hundsgemein ins Gesicht. Nimmt ihr den Atem. Haut sie beinahe um, sodass sie aus den Stöckeln kippt. Fetzt ihr die Kappe vom Kopf. Die landet nach zickzackigem Irrflug ein paar hundert Meter weiter unten am Fluss. Nicht im Wasser. Aufgespießt im dornigen Wirrwarr der zehntausend Zwerg-Koniferen. Trotzdem verloren. Da kommt niemand mehr hin. Ist ihr ohnehin gleichgültig. Die Kappe.
Am grauen Gestänge des Geländers krallt Lena sich fest. Mit beiden Händen. Der Orkan risse sie sonst vollends von den Füßen.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.10.2005.
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