Schatz.
Erwin fragte sich immer wieder, warum er Katrin auch nach zehn
Jahren noch Schatz nannte.
Nach zehn Jahren, in denen er nichts mehr für sie empfand.
Sie gehörte zum Inventar der Wohnung.
Wie sein Schaukelstuhl.
Oder die große Palme auf dem Balkon.
Sie war immer da, wenn er heimkam.
Kochte ihm sein Essen.
Und zeterte.
Über dieses und jenes.
Über den Nachbarn, bei dem die Musik immer so laut lief, zum
Beispiel.
Erwin war die Musik immer egal gewesen.
Hauptsache kein Verdruss.
Das war von jeher seine Devise gewesen.
Nur kein Streit.
Nur keine bösen Worte.
Während er wortlos sein Eis löffelte, erinnerte er sich.
Er war ein kleiner Bub gewesen.
Immer am Fluss spielen gewesen.
Oft allein.
Manchmal aber auch mit einem Mädchen.
Marion.
Erwin schluckte, als er sich an das Gesicht erinnerte.
Kurzes, blondes Haar.
Sommersprossen.
Und ein duftiges rosa Kleid.
Was ist Erwin?
Katrin riss ihn aus den Gedanken.
Du schaust so ins Leere.
Geht es dir nicht gut?
Erwin strahlte zuckersüß.
Aber nein.
Ich habe grad ganz versunken mein Eis genossen.
Schmeckt es dir auch so?
Nein, darüber wollte Erwin nicht
reden.
Nicht mit Katrin.
Nicht mit irgendwem.
Dann spürte er wieder das Sodbrennen.
Und schob fast angewidert den Eisbecher weg.
Auf der Heimfahrt kontrollierte Katrin die Rechnungen.
Fast jeden Kassenbon betrachtete sie misstrauisch.
Also das kann sicher nicht stimmen.
Erwin sagte nicht viel.
Er dachte wieder an Marion.
Eines Tages stöberte der Verkäufer im Fahrradgeschäft die beiden
auf.
Als sie gerade Frösche am Ufer fingen.
Er schnappte Marion und schleppte sie weg.
Er versuchte auch ihn, Erwin, zu erwischen.
Aber Erwin war schneller gewesen.
Als Kind war er noch sehr dünn.
Schreiend war er zu seinen Eltern gelaufen.
Hatte ihnen davon erzählt.
Und musste dann zur Gendarmerie.
Sag, schaust du nicht auf den
Verkehr?
Hast du die Ampel nicht gesehen?
Katrin schüttelte den Kopf.
Ich habe den Eindruck, du bist mit
den Gedanken ganz woanders…
Erwin sah Katrin an.
Sie sah kalt aus.
Verhärmt.
Ihr hageres Gesicht war nicht mehr hübsch.
Erwin wandte sich ab.
Ich bin etwas müde.
Ist nicht mehr, Schatz.
Marion.
Kein Wort glaubte man ihm.
Der Verkäufer aus dem Fahrradgeschäft behauptete, er wisse von
nichts.
Und Marion habe er den Tag gar nicht gesehen.
Wahrscheinlich sogar eine Woche nicht.
Der Vater verpasste ihm eine Tracht Prügel.
Für’s lügen, wie er betonte.
Marion blieb verschollen.
Ihre Leiche fand man erst fast ein Jahr später im Fluss.
Etliche Kilometer entfernt.
Ertrunken, sagten die Behörden.
Erwin wusste es besser.
Ein paar Tage nach dem Vorfall hatte er nämlich im Gesträuch ihr
rosa Kleidchen gefunden.
Blutverschmiert.
Aber er sagte nichts mehr.
Kein Wort.
Vergrub das Kleid irgendwo.
Damit es keiner findet.
Er hatte Angst.
Vor seinem Vater.
Und vor dem Fahrradverkäufer.
Erwin spürte wieder das Sodbrennen.
Langsam half er Katrin das Auto mit den Einkäufen auszuräumen.
Die Stiche im Brustkorb raubten ihm beinahe den Atem.
Doch er verlor kein Wort darüber.
Er schleppte die Taschen in den dritten Stock.
Der Lift war außer Betrieb.
Katrin sperrte die Wohnung auf.
Erwin stellte die Taschen hin.
Er wankte.
Griff sich ans Herz.
Ist was mit dir, Erwin?
Erwin versuchte krampfhaft ein
Lächeln.
Nein, gar nichts, Schatz.
Es wurde schwarz vor seinen Augen.
Dann fiel er mit einem Poltern um.
Katrin schrie auf.
Der Arzt zog das weiße Laken über
das Gesicht des Toten.
Akuter Hinterwandinfarkt.
Da war nichts mehr zu machen.
Aber was ich nicht verstehe…
Er zog sich die Handschuhe aus und
ging mit dem Kollegen die paar Schritte aus der Leichenhalle.
Der Mann muss doch gemerkt haben,
dass etwas nicht mit ihm stimmt.
Symptome.
So was kündigt sich doch an.
Er zündete sich eine Zigarette an.
Seine Frau meinte, er habe nie
geklagt.
Sei immer bester Gesundheit gewesen.
Keinerlei Beschwerden.
Also ich verstehe das nicht.
Was meinst du?
Der Kollege zuckte die Achseln.
Bemerkt oder nicht.
Das hilft ihm jetzt auch nichts mehr…
Was kommt heute Nachmittag noch?
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.10.2005.
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