Michael Stauner

Dornkäppchen versus Vampirjägerin

 

Buffy, eine blonde Studentin, hatte Wind von einem schwachen Vampir female gehört, der in einem fernen Königreich für reichlich blutlose Tote sorgte. Ein Land in Angst und Schrecken, tyrannisiert und ausgelaugt von einer blutrünstigen und durstigen Herrscherin. Buffy, eine Vampirjägerin mit Beziehungsproblemen. Generell bevorzugte sie die Armbrust, doch bei weiblichen Vampiren, die angeblich eine schwache Aura hatten, kramte sie gerne den guten, alten Holzpflock hervor. Sie hatte schon unzählige Vampire getötet. Knoblauch oder Silber zählten nicht zu Buffys Ausrüstungsgegenständen. Aber was wäre die fantastische, hübsche und junge Vampirjägerin ohne ihren Mentor, einen Bibliothekar. So hübsch, trainiert und erfolgreich sie war, so dumm war die Blondine auch. Ein kleiner Rückblick in ihre Vergangenheit: Vor fünf Jahren machte sich im angrenzenden Königreich eine unglaubliche Welle an Kreaturen der Hölle ans Werk, fraß Menschen, saugte sie aus, verwandelte sie in Monster und wütete und zertrümmerte Einrichtungen, wo immer sie auf welche stieß. Der Bibliothekar suchte vergeblich eine taugliche Jägerin, die er im Kampf ausbilden konnte. Bis man ihm von einem Turm erzählte, in dem ein schönes Mädchen gefangen gehalten wurde. Seine letzte Hoffnung also. Wagemutig ritt er zum besagten Turm, der von einer Dornenhecke umringt war. Wild um sich schlagend legte er einen unscheinbaren Pfad an und kam schließlich direkt am Turm an. Er rief hinauf und ein junges Mädchen mit strohblondem Haar schenkte ihm ein Lächeln. „Was wollt ihr, edler Herr?“ Er teilte ihr sein Anliegen mit und sie willigte ein. „Aber das müsst Ihr mit meiner Mutter ausmachen, die mich hier gefangen hält.“ Das wollte der Bibliothekar vermeiden und behauptete einfach, das habe er bereits getan. „Darf ich heraufkommen?“ „Ja, einen Moment!“ Sie wickelte das Haarnetz auf, ließ ihrer langen Haarpracht freien Lauf, nahm einen Taschenspiegel zur Hand und kämmte sich sorgfältig. Es verging eine Stunde und die Schönheit im Turm kämmte sich immer noch. „Ihr seht auch so entzückend aus, wertes Fräulein!“ rief der Bibliothekar, im Glauben, sie wolle sich extra schön für ihn machen. „Nein, Ihr versteht nicht. Die Tür ist abgeschlossen, hat meine Mutter gesagt. Ihr müsst an meinen Haaren heraufklettern.“ Der Bibliothekar stockte und setzte sich auf den feuchten Wiesenboden. Eine Stunde später hielt er das Warten nicht mehr aus und schrie: „Holdes Fräulein, lasst Euer Haar herunter!“ Sie tat wie geheißen und er begann, daran hochzuklettern. „Au, ihr tut mir weh! Auauauau, lasst ab! Ihr reißt mir mein Haar ab, es tut so weh!“ Er sprang ab, stemmte die Ellbogen auf die Knie und grübelte. So ging es nicht. Entschlossen und optimistisch ging er zur Tür, drückte die Klinke herunter und war sauer. Die Tür war nicht abgeschlossen, sie ließ sich ganz leicht öffnen. Was für ein dummes Mädchen. Das sollte seine letzte Hoffnung sein? Aber sie enttäuschte ihn nicht. Sie kam mit ihm, ließ sich an den Waffen ausbilden, lernte erstaunliche Kampftechniken, die ihr Lehrmeister aus einem fernen Kontinent importiert hatte und steigerte ihre mentale Stärke. Schon bald war sie reif für den Kampf gegen das ultimative Böse. Sie säuberte das Land von Vampiren. Ihren ersten besiegte sie in einem offenen Kampf, eins gegen eins, kurz vor Mitternacht in einem Heustadel. Den zweiten und dritten pfählte sie in einem Straßenkampf. Der vierte ließ sein Leben und damit seine Unsterblichkeit, als sie ihn vor eine Kutsche stieß, deren Räder seinen Kopf vom Rumpf trennten. Der Fünfte kämpfte sie unerbittlich nieder, doch Buffy, so ihr Jägername, hielt ihm bis zum Sonnenaufgang stand und er zerfiel zu Staub. Nummer sechs, sieben und acht erledigte sie in einer Familiengruft und Vampir neun, der letzte im Land, starb an einem Armbrustbolzen, der in einer Lehmhütte sein kaltes Herz durchbohrte. Die Jägerin und der Neunte hatten zuvor das Nachtlager geteilt, doch als sie seine wahre Identität erkannte, hatte er verspielt. Die strammen Burschen im Land hatten zu großen Respekt vor Buffy und ihren Kampfkünsten und verließen fluchtartig das Gebäude oder die Straße, wenn die Jägerin zugegen war. Entjungfert wurde sie also von einem Vampir. Eine Kreatur, die sie so gesehen betrogen und verhöhnt hatte. Nun hatte sie nur noch zwei Ziele vor Augen: Ihre wahre Liebe zu finden, einen Ritter, und die Menschheit vom Fluch der Vampire zu befreien, alle Untoten auszulöschen. Neun Vampire gingen bislang auf das Konto von Buffy, der Vampirjägerin. Weitere sollten unbedingt folgen.


Es fand sich im Land der blutdurstigen Herrscherin Dornkäppchen ein Freiheitskämpfer. Er trainierte am Tag und wachte in der Nacht über sein Elternhaus. Seit der Nacht, an dem Dornkäppchen seinen Bruder holen ließ und ihn tötete, um sich zu ernähren, war seine Rachedurst entfacht. Jetzt war er stark genug, sich der Herrscherin entgegen zu stellen. Als die Leibgarde der Untoten ihn als Mahl für Dornkäppchen holen wollte, besiegte er alle vier Soldaten im Kampf und machte sich kampfeslustig auf den Weg zum Schloss, um der Herrscherin einzuheizen. Er klopfte an das eiserne Schlosstor. Ein Bediensteter öffnete und ward auch schon einen Kopf kürzer gemacht. Leise stahl sich der Freiheitskämpfer, der Vratislav genannt wurde, ins Schlafgemach der Vampirlady und hob zum finalen Streich aus, da erwachte sie, bekam unheimlich gelbe Augen, die Eckzähne sprossen aus ihren Mundwinkeln und sie rollte sich ruckartig zur Seite. Das Schwert spaltete die seidene Bettdecke. Verdutzt schaute Vratislav auf die Stelle, an der er eine tote Lady vermutete und nahm gerade noch aus den Augenwinkeln war, wie der Vampir aus dem Gemach flüchtete.


Dornkäppchen war nun eine Flüchtige. Von einem Widersacher wusste sie bereits, die Jägerin war ihr noch unbekannt, kam aber in der vorigen Nacht mit dem Schiff an und topographierte die Umgebung. Dornkäppchen kannte nur einen Ort, der ihr vertraut war, an dem man sie nicht suchen würde. Der finstere Wald. Sie tauchte bei den verhassten Zwergen unter, die einen Heidenrespekt vor den gefürchteten Beißerchen ihrer Mitbewohnerin hatten. Drei Tage ging das einigermaßen gut. Die Zwerge kümmerten sich darum, dass Dornkäppchen jeglichen Komfort erhielt und versorgten sie mit Kleintieren, die sie aussaugte. Dann aber gab sich die Vampirin nicht mehr mit Tierblut zufrieden und kündigte an, am morgigen Abend einen Zwerg zu verspeisen. Die Zwerge gerieten in Panik. Die Sonne ging auf, Dornkäppchen schlief. Eine bessere Gelegenheit gab es für die hinterlistigen Zwerge nicht, sich einen Plan auszudenken. Sie strömten aus und wurden fündig. Einer traf auf den Freiheitskämpfer und führte ihn zum Zwergenhaus. Allerdings würden sie die Heimat der Zwerge erst mitten in schwärzester Nacht erreichen. Bis dahin tötete Vratislav noch ein Wildschwein, aus dem er einen saftigen Braten machte und drei streunende Wölfe, da Wölfe bekanntlich die Kinder der Nacht waren und Dornkäppchen bestimmt mit ihnen Kontakt hatte. Ein anderer Zwerg traf an einem verborgenen Wald ein kleines Wesen, dass um ein Feuer tanzte und hysterisch „Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß!“ greinte. Er bat es um Hilfe und es antwortete: „Nur wenn du meinen Namen errätst. Du hast drei Versuche!“ Der Zwerg war mächtig auf Zack und nannte Rumpelstilzchen vergnügt bei seinem Namen. Rumpelstilzchen war perplex und erklärte sich nach ewig langem Zetern und Haare raufen bereit, mitzukommen. Unterdessen kehrten die anderen fünf Zwerge erfolglos zurück und knobelten betrübt aus, wer denn zuerst dran glauben musste.


Dornkäppchen erwachte und hatte Durst. Sie trat hinaus in die kühle, erfrischende Waldluft und fragte schnippisch: „Wer von euch möchte zuerst?“ Vier Zwerge zeigten mit dem nackten Finger auf den Unglückseligen. „Dann komm mal her und füge dich!“ Doch der Zwerg bot Dornkäppchen ein Wettrennen an, um seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen. „Nun gut, wenn du das Rennen gewinnst, werde ich dich heute Nacht verschonen,“ willigte Dornkäppchen siegessicher ein. Zwar konnte sie nicht allzu schnell rennen, hatte aber wesentlich längere Beine als der kleine Racker und zudem verfügte sie über übermenschliche Fähigkeiten. Die fünf Zwerge steckten die Strecke ab und gingen sie mit Dornkäppchen einmal ab. Vier Biegungen bis zum Ziel. Keine Möglichkeiten, abzukürzen. Überlegen nickte der Vampir und schlenderte gemächlich zum Start zurück. Nach jeder Biegung verschwand ein Zwerg, sodass am Start nur noch zwei waren. Dornkäppchen fiel das gar nicht auf. Sie konzentrierte sich auf das Startsignal und ihren Laufpartner. Der Zwerg gab das Kommando und die beiden Kontrahenten spurteten los. Dornkäppchen, der Überlegenheit willen, der Zwerg rannte um sein Leben. Schon nach dreißig Metern war Dornkäppchen außer Reichweite. Diesen Vorsprung würde er nie mehr einholen. Nun musste er sich wohl oder übel auf seine Mitbewohner verlassen, seine engsten Vertrauten. Dornkäppchen verschwand hinter der Biegung und blickte sich um. Da grinste ihr der dortige Zwerg entgegen und schnaufte los. Verwundert lief sie weiter und stellte bei ihrem nächsten Rückblick fest, dass sie den Zwerg abgehängt hatte. Biegung Nummer zwei zog vorbei und der Zwerg war plötzlich wieder da. Der nächste hatte seinen Einsatz nicht verpasst und brachte Dornkäppchen außer Atem. Sie schnappte nach Luft und strauchelte um die nächste Biegung. Tatsächlich hatte der fitte Zwerg bis dahin mitgehalten. Nun aber schienen ihn seine Kräfte verlassen zu haben. Nur noch zwanzig Meter bis zum Ziel, dann würde Dornkäppchen zu ihrer verdienten Mahlzeit kommen. Adrenalin tat dem Blut gut. Das Laufen hatte es aufgewärmt. Der Zwerg würde ihr vorzüglich munden. Da weiteten sich ihre Augen, der Zwerg lief tatsächlich durchs Ziel. Dornkäppchen japste nach Luft und krümmte sich am Boden. Was hatte der Zwerg bloß für eine unglaubliche Kondition. Sie war geschlagen und kehrte niedergeschlagen zurück. Für heute musste sie die Zwerge verschonen. Sie hatte ihr Wort drauf gegeben. Dass der Zwerg, mit dem sie gestartet war, eine blaue Mütze hatte, und der Pimpf im Ziel eine lila Kopfbedeckung trug, fiel ihr nicht auf. Sie war erschöpft und regenerierte sich am Lagerfeuer. Ein weiterer Zwerg trudelte mit Rumpelstilzchen ein und neckte die Vampirin triumphierend. „Das ist Rumpelstilzchen und es kann demjenigen einen Wunsch erfüllen, der seinen Namen errät,“ begrüßte der Zwerg mit einem nachgestellten, schallenden Lachen die Anwesenden. „Und ich habe ihn erraten und mir gewunschen, dass dieses Wesen uns hilft, dich, Dornkäppchen zu beseitigen.“ Zu Rumpelstilzchen gewandt: „Verwandle Dornkäppchen in für immer in einen Gnom.“ Zwerge können Gnome nicht ausstehen. Sieben gegen Einen machte Spaß. Rumpelstilzchen trat auf Dornkäppchen zu, die sich bedrohlich aufrichtete und das Wesen verhöhnte: „Du Wurm willst mich verwandeln? Kannst du das überhaupt? Wenn nicht, werde ich dich zerquetschen wie man es mit einem Wurm macht, wie du einer bist!“ Schelmisch konterte Rumpelstilzchen: „Aber sicher doch. Ich habe dich schneller verwandelt, als du mich beißen kannst. Ich gebe dir vor deinem Ende als Untote sogar eine exquisite Kostprobe meines Könnens,“ sprach’s und verwandelte einen faustgroßen Stein in einen Lurch, der sofort von einem Zwerg mit guten Reflexen eingefangen und geschluckt wurde. „Und nun zu dir, Vampirlady,“ setzte Rumpelstilzchen fort. „Halt ein,“ schrie Dornkäppchen entsetzt. Ihr war mulmig zumute. „Hast du etwa Angst vor einem so kleinen Wurm, wie ich einer bin?“ spöttelte das Wesen zurück. „Nein! Natürlich nicht. Es ist nur so, dass doch jeder einen Wunsch frei hat, der deinen Namen errät,“ fragte Dornkäppchen zurück, um sich mehr Zeit zur Flucht zu verschaffen. „Ja, so ist es. Aber woher willst du ihn denn wissen? Egal, du hast drei Versuche. Und mach schnell, denn ich habe nicht den ganzen Abend Zeit.“ Fieberhaft überlegte das überrumpelte Dornkäppchen und versuchte durch gedehnte Sprechpausen das beste aus dieser verzwickten Situation zu machen. „Könnte dein Name Igor sein?“ „Falsch! Zweiter Versuch!“ Schweigen, angespanntes Lauschen der Zwerge, ein verstörtes Hüsteln vernehmbar. Endlich setzte der Vampir erneut zum Sprechen an. „Marek?“ „Falsch! Dritter und letzter Versuch!“ Rumpelstilzchen war die Spannung sichtlich anzumerken. Es hüpfte nervös von einem Bein aufs andere. Der Strahl der Erleuchtung floss in Dornkäppchens Gedanken. Hatte sie den Namen dieses Biests nicht vorher gehört? „Rumpelstilzchen! Du heißt Rumpelstilzchen,“ verschleuderte Dornkäppchen ihre letzte Antwort und die war richtig. „Nein, nein, nein!“ Das Männchen tobte und zerplatzte. Aus der Traum vom Überleben.


Ein Zwerg blieb noch aus. Er hatte Vratislav als Verstärkung im Schlepptau. Gerade erst hatte er sich ein Bild von dessen Kraft und Gewandheit machen dürfen, als Vratislav drei Wölfe erschlagen hatte. Es raschelte im Gebüsch und eine breitschultrige, imposante Wolfserscheinung versperrte den Reisenden den Weg. Der Vampirwolf. Er knurrte und winkelte die Hinterläufe an. Angriffsposition. Als nächstes fuhr er die spitzen Eckzähne aus, mit denen er einst Dornkäppchen zu einem Artgenossen gemacht hatte. Vratislav schauderte, besann sich dann aber eines Besseres und richtete das stählerne Schwert, an dem Blutreste klebten, auf das Untier, dass sich vor ihm aufbaute. Der Wolf sprang, Vratislav riss instinktiv den Arm hoch und der Stahl bohrte sich in den Bauch des Vampirwolfs. Er war auf der Stelle tot. Die Behausung der Zwerge kam in Sicht.


Die Vampirjägerin war alleine unterwegs. In der Hafenschenke hatte sie für teuer Geld ihre Vorräte aufgestockt und sich den Weg zum Schloss beschreiben lassen. Dort angekommen, fand sie einige tote Soldaten vor, die gerade begraben wurden und erhaschte einen Blick auf den geköpften Portier. Voreilig zog sie den Schluss, der Vampir habe den Portier geköpft und das Geschöpf der Nacht faszinierte sie schlagartig. Vielleicht war ihr die Lady sogar ebenbürtig? Buffy hatte keinen Anhaltspunkt, wo die Vampirin sein könnte, also wanderte sie ziellos durch das Land, unterhielt sich mit Leuten und bekam den Tipp, sich doch mal im finsteren Wald umzuschauen und der Bestie den Gar auszumachen.


Dornkäppchens Wut war geschürt. Die hinterlistigen Zwerge hatten versucht, sie, die Vampirin, zu hintergehen. Das würde ihnen freilich nicht wohl bekommen. Aber die in die Enge gedrängten Zwerge verwiesen geschickt auf den Wettlauf und hielten Dornkäppchen eine Zeit lang hin. Der Freiheitskämpfer Vratislav traf ein. „Hey, Vampirlady! Komm heraus, wenn du dich getraust, aufrecht zu kämpfen!“ Auf der anderen Seite des Zwergenhauses trabte Buffy an, den Pflock fest umklammert. Vratislav sah Buffy, Buffy sah Vratislav. Dornkäppchen trat aus der Hütte und stellte sich den beiden Jägern. „Hehe, jetzt hast du es gleich mit zwei Gegnern zu tun,“ lächelte der ankommende Zwerg verschmitzt. „Mit euch werde ich schon fertig, lausiges Pack!“ Ein wilder Kampf entfachte. Buffy sprang auf die Vampirin zu und rammte ihr den Block in die Brust. Aber sie traf nur die rechte, was Donrkäppchen taumeln ließ, ihr weiter aber nichts ausmachte. Sie tastete sich an die linke Brust und krächzte: „Das Herz ist da!“ In diesem Moment legte Vratislav los und sein Schwert traf Dornkäppchens Bein. Hätte er voll durchgezogen, wäre das Bein jetzt ab, so dauerte es nur Sekunden und Dornkäppchen war wieder kampfbereit. Gerade rechtzeitig, denn Buffy setzte eine Flut von Faustschlägen und Trittkombinationen an. Ohne Erfahrung, halb im Delirium, wehrte Dornkäppchen die Schläge sicher ab. War es Intuition oder warum gelang ihr das so perfekt? Sie schien den nächsten Schlag schon zu ahnen, bevor er ausgeführt wurde. Mit einer Rückwärtsrolle entwand sich Buffy dem Vampir, der inzwischen selbst austeilte. Das zog Dornkäppchens Aufmerksamkeit auf Vratislav, der, das Schwert gezückt, auf sie zurannte. Drei Zentimeter trennten Dornkäppchens Frauenkörper von der Spitze des Schwerts, da drehte sie sich wie ein Wirbelwind beiseite und Vratislav prallte gegen die Hauswand. Vom Schwung mitgenommen, kippte er erst einmal um und blieb benommen liegen. Zeit für Buffy, eine einfallsreichere Attacke auszuführen. Doch auch ihre Kombination Kicks – Schläge – und Pflockstecher brachten den gewünschten Erfolg nicht. Dornkäppchen hielt durch und vollführte atemberaubende Sprünge und Tritte gegen zwei Angreifer. Vratislav hatte sich wieder aufgerappelt und brachte sein Schwert ins Spiel, wo er nur konnte. Buffy schraubte eine Stufe höher und bediente sich härtester Kampftechniken, die der Bibliothekar ihr erst kürzlich aus einem fernen Land mitgebracht hatte. All das nützte nichts. Der Vampir hielt stand. Erschöpft gab Vratislav auf, warf das Schwert weg und fügte sich seinem Schicksal. „Töte mich, elendes Geschöpf der Nacht!“ Dornkäppchen wollte seiner Aufforderung gerade nachkommen und ließ Buffy unbeachtet, drehte ihr den Rücken zu, da meldete sich diese zu Wort: „Hey Vampir, möchtest du nicht sehen, was über den Wolken ist?“ Dornkäppchen schwang abrupt um und fragte spitz: „Wieso sollte ich dir trauen? Du willst doch nur ablenken, weil du Kräfte sammeln musst, um standzuhalten.“ „Ich gebe mich geschlagen, du bist besser als ich. Aber ich möchte weiterleben und dir im Tausch für mein Leben dieses Geschenk machen,“ deutete Buffy auf einen Bohnensamen, den sie auf die Erde geworfen hatte. „Dieses Körnchen kann mir zeigen, was über den Wolken ist?“ fragte Dornkäppchen unsicher und schwelgte in Erinnerungen an das Panorama damals, bei Frau Holle im Wolkenkuckucksheim. „Zeig mir wie, und ich verschone dich!“ „Lass zuerst den müden Krieger dort drüben gehen,“ forderte die Jägerin. Um den kümmere ich mich später, dachte Dornkäppchen und sagte: „Meinetwegen. Lauf, Freiheitskämpfer, aber sei dir meiner Rache gewiss!“ Auf Knien rutschte Buffy zum Samen, buddelte ihn in die gelockerte Erde ein und bestellte Wasser bei den verblüfften Zwergen. Rotmütze kam ihrer Aufforderung nach, brachte einen Krug mit Wasser und setzte dann eine zweiflerische Miene auf. Buffy schüttete das Wasser über die Stelle, an der sie den Samen eingegraben hatte und wartete. Nichts passierte. Vratislav machte sich aus dem Staub. „Du willst mich wohl zum Narren halten! Ich werde dich jetzt töten! Danach kommen die sieben kleinwüchsigen Waldgnome dran und zum Schluss lasse ich diesem elenden Attentäter das Blut in den Adern gefrieren.“ Bei der unrühmlichen Bezeichnung Gnome rümpften die Zwerge wütend die Nasen. Wie konnte man sie als die Wesen bezeichnen, mit denen sie so spinnefeind waren? „Halt ein,“ wich Buffy aus, „sieh da, es wächst!“ Ein grüner Stiel ragte minimal aus der Erde heraus und begann zu in die Höhe zu schießen. Die Bohnenranke ragte bis zu den Wolken. „Zufrieden?“ Dornkäppchen kletterte auf die trittstufig angeordneten Äste und das dünne Gewächs hielt stand. Zur Sicherheit hatte Buffy den Pflock gezückt, doch wenn der Vampir bis ganz oben kletterte, würde sich der Fall erledigt haben. Ein letzter Blick nach unten. Wieso hatte Buffy, die sich schon geschlagen gegeben hatte, den Pflock in der Hand? Egal, erst mal über die Wolkendecke blicken und paradiesische Luft schnuppern. Wenn die Jägerin die Ranke durchschnitt, was dann? „Ich warne dich, den Stiel zu zerhäckseln, Jägerin!“ In dieser unerfreulichen Situation eine blöde Drohung, aber scheinbar effektiv, denn nichts tat sich unten. Buffy hielt den Pflock umklammert und schien zu schmunzeln. Jetzt gilt nur eins, dachte Dornkäppchen und die sich breit machende Panik verflog. Jetzt wage ich den Blick über die Wolken. Glücklich steckte Dornkäppchen den Kopf über die flockige Decke und ihr Gehirn notierte gerade noch ein letztes Bild: die Sonne. Staub rieselte auf die Erde.










Die Dornkäppchen – Trilogie:


  1. Dornkäppchen und die 7 Wölfe

Darin enthaltene Märchen und Anregungen: Rotkäppchen, Der Wolf und die sieben Geißlein, Hänsel und Gretel, Das Mädchen mit den Zündhölzern, Schneewittchen und die sieben Zwerge


  1. Dornkäppchen im Märchenschloss

Darin enthaltene Märchen und Anregungen: Aschenputtel, Frau Holle, Dornröschen, Der Froschkönig, Schneewittchen und die sieben Zwerge, Tischlein deck dich, und ein Märchen, in dem der Teil mit den eingemauerten Frauen vorkommt


  1. Dornkäppchen versus Vampirjägerin

Darin enthaltene Märchen und Anregungen: Buffy – Im Bann der Dämonen, Rapunzel, Rumpelstilzchen, Hase und Igel, Zehn kleine Negerlein – Prinzip, und ein Märchen, in dem der Teil mit der Bohnenranke vorkommt

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.10.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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