Maren Frank

Julie und Stormy

 
Schon morgens von den ersten Sonnenstrahlen geweckt zu werden war einfach ein herrliches Gefühl, fand Juliette Lundi und räkelte sich ausgiebig in ihrem Bett. Ihr bisheriges Zimmer im Herzen von Los Angeles hatte zur Westseite gelegen, so daß sie nur ab dem späten Nachmittag die Sonne bekam. Doch seit einer Woche wohnte sie nun mit ihrer Familie auf einer Ranch in Maryland, umgeben von Wäldern und fernab jeglichem Lärms.
Nun ja, ganz still war es nicht, schließlich mußte noch viel an Renovierungsarbeiten getan werden und obwohl es Samstag und noch dazu gerade mal sieben Uhr war, hörte sie schon das Hämmern.
Juliette stand auf, sogar das fiel ihr in dieser schönen Umgebung leichter, huschte kurz unter die Dusche und stieg die Treppe hinab.
Ihre ältere Schwester Kelly hantierte in der Küche mit der Kaffeekanne. „Morgen Julie, gut geschlafen?“
„Mmh“, brummte Julie. So ganz wach war sie trotz des kalten Wassers, mit dem sie sich morgens zu duschen zwang, noch nicht.
Kelly lachte und reichte ihr eine Tasse Kaffee. „Immer noch der alte Morgenmuffel.“
Julie streckte ihr die Zunge raus. Es war einfach unfair, schon morgens so gut gelaunt und frisch auszusehen wie Kelly. Vermutlich würde die sogar wie ein Soapstar aussehen, wenn man sie nachts um drei weckte.
„Ich soll dir von Mom bestellen, daß du dir heute Mittag was aus der Tiefkühltruhe nehmen sollst, sie wird den ganzen Tag in der Stadt zum Einkaufen sein.“
„Was brauchen wir denn noch?“ Die ganze Woche über schon war ihre Mutter von einem Shop zum anderen gefahren. Zu dem Möbelladen hatten Julie und Kelly sie begleitet, damit sie sich selbst ihre Zimmereinrichtungen aussuchen konnten, doch Julie hatte sich schrecklich dabei gelangweilt.
„Tapeten für die Gästezimmer, einen Schrank fürs Wohnzimmer, verschiedene Gartengeräte...“
Julie hob eine Hand. „Schon gut, ich weiß, daß ich davon keine Ahnung habe, habt ihr mir ja oft genug gesagt.“
Kelly blätterte in einem Möbelkatalog. Sie wollte nach dem College Innenarchtiketin werden und las Möbelzeitschriften wie andere junge Frauen Modejournale. „Nachher wollen Dad und Bob den Balkon streichen, ich will mithelfen, du auch?“
„Mal sehen.“ Julie trank den Kaffee, der inzwischen genügend abgekühlt war. „Eigentlich wollte ich ausreiten. Stormy braucht dringend Bewegung. Könnte Lady übrigens auch nicht schaden.“
Kelly zuckte nur mit den Schultern. „Sie ist doch den ganzen Tag auf der Weide, da rennt sie genug. Und Tuffy wird überhaupt nicht mehr geritten.“
„Ich gehe jetzt jedenfalls reiten.“ Julie schnappte sich das Käsebrot, das Kelly gerade fertig zusammen klappte, ignorierte den ärgerlichen Blick ihrer Schwester und steckte noch rasch zwei Äpfel aus der Obstschale ein. „Stormy und ich werden einen richtig schönen langen Ausritt machen, um die Umgebung zu erkunden. Gegen Abend bin ich zurück.“
„Viel Spaß“, erwiderte Kelly leicht säuerlich. Ihr paßte es schon nicht, daß sie ihre Mutter nicht hatte begleiten können, da die vor hatte, den Wagen so voll zu packen, daß nur noch für sie als Fahrerin Platz war. Einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, Julie zu begleiten. Reiten wäre sicherlich angenehmer, als für die Männer zu kochen und ihnen das Handwerkszeug an zu reichen, doch wenn sie nicht da war, wer sollte es dann machen? Und schon hörte sie, wie Bob, der Arbeiter, den ihre Eltern eingestellt hatten, als sie begannen, die Ranch zu bauen, nach frischem Kaffee rief.
Julie unterdessen ging geradewegs zur Koppel. Wie auch in dem Reitstall, in dem sie bis vor drei tagen noch gestanden hatten, waren Stormy, Lady und Tuffy auch hier zusammen auf einer Koppel. Trotz ihrer kurzen stämmigen Beine war Tuffy die erste, die bei Julie ankam. Sie begrüßte die kleine Ponystute, auf der sie und Kelly reiten gelernt hatten und die nun ihr Lotterleben genoß. Tuffy war bald fünfzehn Jahre alt, aber das war ihr keineswegs anzumerken.
Kelly schöne braune Stute Lady schnaubte zur Begrüßung nur und fand es nicht wert, das saftige Gras zu verlassen, um mit den anderen um ein kleines Leckerchen zu streiten.
Stormy aber trabt gleich auf Julie zu und strahlend umarmte sie den zierlichen Wallach. Sie hatte Stormy kurz nach ihrem zwölften Geburtstag bekommen, damals hatten sie ihn und Lady auf einem Pferdemarkt erstanden. Ihre Eltern hatten den Wunsch nach größeren Ponies den Mädchen gern erfüllen wollen und gemeinsam hatten sie sich verschiedene Tiere angesehen., Ladfy war ihnen zuerst ins Auge gestochen, eine gut ausgebildete Stute von der schlanken, aber doch kräftigen Gestalt ihrer Rasse, der Quarter Horses. Kathleen Lundi wußte sofort, daß sie das richtige Pferd für ihre Töchter war und schnell war der Vertrag besiegelt. Julie war auf eigene Faust auf dem Platz herum spaziert und plötzlich hatte sie ein noch junges, größeres Pferd erblickt. Sie konnte nicht über seinen Rücken schauen und er wirkte recht nervös, aber als er den Kopf zu ihr wandte und sie aus nachtdunklen sanften Augen ansah, wußte sie, daß sie ihn haben mußte.
Viel Überredungskunst war nicht nötig gewesen, ihre Eltern ( die beide ebenfalls pferdeverrückt waren ) lobten ihren guten Blick und kauften den jungen Wallach. Sie sollten es nicht bereuen, denn Stormy hatte ganz hervorragende Anlagen und in den nunmehr zwei Jahren, die er bei der Familie Lundi lebte, war er Julie zu einem treuen Gefährten geworden.
Letztes Jahr hatte Julie mit Springstunden begonnen. Auf Reitschulpferden war sie selbst schon öfter gesprungen, mit Stormy war sie über die erste Bodenarbeit nun bis zu Cavalettis gekommen. Ich muß Bob unbedingt überreden mir einige Hindernisse zusammen zu zimmern, wenn die gröbsten Renovierungsarbeiten abgeschlossen sind, überlegte sie, während sie Stormy zum Stall führte und festband. In der Reitschule war das einfach gewesen, wenn sie springen wollte, ging sie einfach in die Halle oder, falls das frühsommerliche Wetter es zuließ, zum Springgarten.
Auf der Ranch war sie auf sich allein angewiesen, aber Julie traute sich Stormys weitere Ausbildung durchaus zu. Immerhin hatte sie jahrelang Reitunterricht gehabt und auch ihre Eltern waren erstklassige Reiter. Und hier gab es die Möglichkeit stundenlang auszureiten, ohne alle paar Meter eine Straße überqueren zu müssen.
„Ja, mein Lieber, gleich reiten wir los.“ Julie strich Stormy über die Schnippe, das einzige Abzeichen in seinem ansonsten dunkelbraunen Fell. Er wieherte leise und spitze erwartungsvoll die Ohren. Verträumt betrachtete Julie ihn, das konnte sie sowieso stundenlang, oft hatte sie ganze Nachmittag damit zugebracht, auf dem Koppelzaun zu sitzen und ihm beim Grasen zuzusehen. Stormy hatte keine Papiere gehabt, als sie ihn gekauft hatte und daher wußte sie nichts über seine Abstammung. Mit ziemlicher Sicherheit aber hatte er einen recht hohen Vollblutanteil in sich, der edle Kopf, die schmale, hochbeinige Gestalt und seine Schnelligkeit wiesen darauf hin.
Das Putzen war rasch erledigt, Stormys kurzes Sommerfell nahm nicht viel Staub an und seine tadellosen Hufe mußten nach der Nacht auf der Weide gar nicht ausgekratzt werden. Julie kontrollierte sie lediglich routinemäßig und steckte sich den Hufkratzer ein. Auch wenn sie nicht vor hatte, all zu weit von der Ranch weg zu reiten, wollte sie zur Sicherheit den Kratzer bei sich haben. Schließlich lagen überall kleine Steinchen, die ein Pferd sich leicht eintreten konnte.
Julie saß auf und ritt im Schritt vom Hof. Sie winkte ihrem Vater und Bob zu, die schon wieder fleißig den Hammer schwangen.
Seit einer Woche schon hatte Julie nicht mehr im Sattel gesessen. Der Umzug hatte Vorrang gehabt und in den ersten zwei tagen sollten sich die Pferde erstmal an ihre neue Umgebung gewöhnen. Doch heute stand einem langen Ritt nichts im Wege und das kleine bißchen schlechtes Gewissen – denn während ihre Familie und Bob schufteten, vergnügte sie sich – war bereits vergessen, als sie Stormy die Zügel frei gab und er lostrabte.
Der Weg war eben und gut überschaubar und Julie spürte, wie Stormy darauf brannte, zu galoppieren. „Gleich, mein Lieber, erst mußt du mal warm werden.“
Stormy schnaubte und schüttelte den Kopf, doch Julie hielt ihn zurück. Er gehorchte ihren Hilfen und blieb im leichten Trab. „Siehst du, ist doch viel gemütlicher so, da sehen wir wenigstens was von unserer Umgebung", redete Julie weiter. Sie genoß den kühlen Wind, der ihr ins Gesicht blies und die Wärme der Sonnenstrahlen, die durch die Baumkronen fielen.
Mit lautem Krächzen schoß plötzlich ein Vogel aus dem Unterholz hervor, nur Zentimeter vor Stormys Vorderbeinen kreuzte der den Weg.
Der Wallach stieg und wieherte schrill. Julie klammerte sich krampfhaft mit Armen und Beinen fest und versuchte ihr Pferd zu zügeln. Doch vergeblich, Stormy streckte den Kopf nach vorne und preschte los, ohne sich um die verzweifelten Versuche seiner Reiterin zu kümmern.
Es war nicht das erste mal, daß er ihr durchging und Julie wußte, daß sie am besten gar nichts machte und ihn einfach laufen ließ, bis er von selbst stoppte. Sie hatte die Hände in seine dünne, halblange Mähne gekrallt und lag tief über seinem Hals, um den herabhängenden Ästen auszuweichen.
Im Gegensatz zu ihrer Schwester ritt sie stets mit einem englischen Sattel, so konnte sie sich nun zwar besser vorbeugen, da ihr kein Sattelknauf im Weg war, doch sie hatte nicht ganz so festen halt. Aber sie blieb oben und hoffte, daß Stormy bald genug hatte.
Doch statt zu verlangsamen, schien er immer schneller zu werden. Wie Peitschenhiebe schlug ihr seine Mähne ins Gesicht, doch noch größere Sorgen machte ihr der Boden; in seinem Schrecken hatte Stormy den befestigten Weg verlassen und war mitten zwischen die Bäume galoppiert. Oft war die Erde von altem Laub und Gestrüpp bedeckt. Niemals wäre Julie freiwillig in so einem Gebiet galoppiert, viel zu groß war die Gefahr, daß ein Pferd in versteckte Kaninchenlöcher trat und sich ein bei brach.
Weit hinüberhängende Äste kratzten über Julies Wangen und Arme und sie war froh, durch ihre Kappe und den langen dicken Pullover wenigstens etwas geschützt zu sein. Julie betete, daß sie an keine Straße kamen. Zwar war Stormy verkehrssicher, schließlich war er von Los Angeles Autos, Trucks und Hupkonzerte gewöhnt, doch er würde sich nicht zügeln lassen.
Zumindest in diesem Punkt schien sie Glück zu haben, keine Straße tauchte auf, aber auch kein anderer befestigter Weg, der sicherlich besser zum galoppieren gewesen wäre.
Durch die angespannte Haltung fingen ihre Muskeln an zu schmerzen, doch Julie lockerte ihren griff kein bißchen. Verschreckt und ängstlich wie Stormy momentan war, würde er auch weiter galoppieren, wenn sie herunterfiel.
Ewigkeiten schienen zu vergehen, bis Stormy endlich langsamer wurde. Mit Fingern, die sie kaum noch spürte, nahm Julie die Zügel auf und zog ganz leicht. „Ruhig, Junge.“
Stormy warf den Kopf hin und her, sein Atem ging keuchend und er war am ganzen Körper schweißbedeckt. Die Bäume standen zu eng, um Volten zu reiten, doch das war nicht mehr nötig, denn nun hielt Stormy von selbst an.
Ihre Knien waren so weich, daß Julie kaum glaubte, stehen zu können. Für einen Moment hielt sie sich nach dem Absteigen noch am Sattel fest und lehnte sich erschöpft an den ebenfalls völlig fertigen Wallach. „Du machst ja Sachen mit mir.“
Stormy schnaubte keuchend und rieb seinen Kopf an ihr.
Julie lächelte, sie verstand die Entschuldigung. Sie schlang die Zügel um einen Baumstumpf, pflückte langes trockenes Gras und begann Stormy abzureiben. Eigentlich war er nicht besonders empfindlich, aber obwohl sie schon Ende Mai hatten, war es besonders in den Morgenstunden noch recht frisch.
Nachdem Stormy versorgt war und ohne Sattel und Trense an dem jungen Gras zupfte, konnte Julie sich um sich selbst kümmern. Ihre Arme waren zerkratzt und sie vermutete, daß die Äste auch auf den Wangen den einen oder anderen Kratzer hinterlassen hatte, aber davon abgesehen war sie in Ordnung.
Glück gehabt, dachte sie und ließ sich an dem Baumstumpf zu Boden sinken, an dem sie Stormy festgebunden hatte. Ein Blick auf ihre Armbanduhr sagte ihr, daß nicht mal eine Stunde vergangen war, seit sie vom Hof geritten war. Ihre Mutter würde dennoch schimpfen, die Kratzer waren nicht zu leugnen. Nun ja, sie würde die Gardinenpredigt über sich ergehen lassen und die Strafe für ihre Unvorsichtigkeit ( sofern es überhaupt eine Strafe gab, denn schließlich war sie ja nicht schuld daran gewesen, daß ein Vogel Stormy vor die Hufe geflogen war ) erledigen. Kathleen Lundi zählte nicht zu den strengen Müttern, ihre Strafen bestanden in Dingen wie Taschengeldkürzungen und abendliches Ausgeh-Verbot ( damit traf sie besonders die siebzehnjährige Kelly, die jeden Cent in ausgefallene Designerstücke für ihr Zimmer und Messe-Besuche umwandelte ), so wie zusätzlichen Aufgaben im Haus, also bereitete sich Julie gedanklich darauf vor, für die nächste Woche ihrer Familie das Frühstück zuzubereiten und beide Badezimmer gründlich zu putzen. Reitverbot gab es nie, denn schließlich mußten die Pferde bewegt werden. Und obwohl sie ein absoluter Morgenmuffel war, konnte Julie mit dieser Aussicht gut leben.
Sie sah Stormy an,. Der nun wieder völlig ruhig war. Das Gras war saftig und sie gönnte ihm gern noch ein paar Minuten. Sie ließ ihren Blick umherschweifen, zu jeder Seite sah der Wald gleich aus; Bäume, Sträucher, am Boden teilweise kniehohe Gräßer.
Ein ungutes Gefühl beschlich sie, sie hatte keine Ahnung, in welcher Richtung die Ranch lag. Wenn sie doch nur etwas länger schon hier gewöhnt hätten. Dann hätte sie Stormy einfach die Zügel frei geben können und er wäre nach hause getrabt. Pferde fanden immer zu ihrem Stall zurück.
Doch nach gerade mal drei Tagen wußte Stormy nicht, daß dies sein Stall war. Nun ja, sie würde schon zurück finden, früher oder später mußte sie einen Weg kreuzten, dem sie folgen konnte. Die nächste Ranch lag drei Meilen entfernt, hatte ihr Bob, der sich in der Gegend gut auskannte, erzählt. Würde sie sich halt bei ihren neuen Nachbarn damit vorstellen, daß sie sich verirrt hatte und mal telefonieren müßte.
„Komm Stormy, schauen wir mal, wen wir treffen.“ Sie stand auf, sattelte Stormy und schob ihm die Trense ins Maul. Nach der Pause war Stormy wieder völlig frisch und munter und trippelte unter ihr in winzigen Trabschritten. „Oh nein mein Lieber, noch mal so einen Galopp mache ich nicht mit. Du wirst schön brav im Schritt gehen, für den Rest des Tages habe ich von solchen Eskapaden genug.“
Stormy fügte sich und Julie lenkte ihn nach rechts. Sie hatte keinerlei Anhaltspunkte, den in dem verwilderten Gelände hatten sie keine Spuren hinterlassen. Aber irgendwo mußte sie hinreiten, also ließ sie Stormy vorwärts gehen und hielt Ausschau nach befestigten wegen und Gebäuden. Sie lauschte auch auf Straßenlärm, doch alles, was sie vernahm, war das Zirpen der Vögel, Gesumme von Insekten, nach denen Stormy hin und wieder mit dem Schweif schlug und das Rascheln des Windes in den Bäumen.
 
„Brrr.“ Julie zügelte Stormy und saß ab. Sie war durstig und hungrig und das Zifferblatt ihrer Uhr zeigte bereits späten Nachmittag an. In den vergangenen Stunden hatte sie nichts weiter als Bäume gesehen und ab und zu den roten Schwanz eines Eichhörnchen, das flink von Ast zu Ast sprang.
Sie band Stormy an einem geeigneten Baum fest und nahm ihm die Trense raus. Sofort machte er sich über das Gras zu seinen Hufen her. Julie fielen die Äpfel ein, die sie heute morgen eingesteckt hatte und die noch in ihrer Westentasche waren. Sie aß einen und gab das Kerngehäuse anschließend Stormy, der es schmatzend verputzte.
„Komm, wir müssen weiter.“ Sie saß wieder auf und auf ihren leichten Schenkeldruck hin trabte Stormy an. Sie wiederstand der Versuchung, die Richtung zu wechseln. Auch wenn sie noch auf keine Straße gestossen war, wußte sie doch, daß sie nur im Kreis reiten würde, wenn sie jetzt eine andere Richtung einschlug.
Stormy benahm sich vorbildlich, spielte nur mit den Ohren, wenn Vögel vorbei flogen. Langsam setzte die Dämmerung und damit die Kälte ein. Trotz des dicken Pullovers und der Weste begann Julie zu frieren. Sie trieb Stormy an, der Boden war noch relativ überschaubar, so daß sie zumindest einen schnelleren Trab wagte.
Für kurze Zeit wärmte sie das auf, doch dann spürte sie die Kälte um so stärker. Für eine schnellere Gangart konnte sie nicht mehr genug sehen und sie wollte keinesfalls ein Risiko eingehen. Im Schritt ließ sie Stormy am langen Zügel gehen, so daß er sich selbst den besten Weg suchen konnte.
Zwischen den Bäumen sah Julie die Sonne untergehen. Ob sie wohl bereits vermißt wurde? Sie hatte Kelly ja gesagt, daß sie vor hatte, bis abends auszureiten. Sie nannte nie Zeiten, wenn sie weg ging, sagte nur „bin gegen Mittag wieder da“ oder „komme im Laufe des Abends nach hause“. Es würde noch dauern, bis sich ihre Eltern entschlossen, sie zu suchen.
Julia zügelte Stormy und saß ab. In der Finsternis zu reiten hatte keinen Zweck, sie mußte wenigstens warten, bis der Mond aufgegangen war und hoffen, daß er genug Licht geben würde.
Ihr Magen knurrte und sie war so durstig, daß ihre Zunge am Gaumen klebte. Sie holte den zweiten Apfel hervor und zwang sich, ihn ganz langsam zu essen und gründlich zu kauen. Er half gegen den Durst und sie fühlte sich gleich viel besser.
„So ein Quatsch, warum mache ich mich denn verrückt“, sagte sie laut zu Stormy. „Wir haben uns ein bißchen verirrt, na und? Sicher stoßen wir bald auf eine Straße oder eine andere Ranch und bis dahin genießen wir den Abend. He Stormy, ich meine es ernst, denk doch nur, Spaziergänge im Mondschein gelten als romantisch, macht jede Prinzessin im Märchen. Zwar bin ich keine Prinzessin und habe auch keinen Prinzen, aber ich habe dich und du bist mir viel lieber.“
Stormy rieb seinen Kopf an ihr und knabberte an ihrer Weste. Sie steckte ihre kalten Finger unter seine Mähne und schmiegte sich eng an ihn. „Mein lieber Stormy.“ Inzwischen konnte sie über seinen Rücken schauen, in den vergangenen zwei Jahren war sie ganz ordentlich gewachsen.
Sie nahm Stormy den Sattel ab und die Trense aus dem Maul. Der Waldboden war feucht, doch auf der dicken Satteldecke konnte sie gut sitzen. Ganz dicht neben ihr rupfte Stormy an ein paar Grashalmen und seine Nähe wirkte absolut beruhigend.
Julie gähnte, früh aufgestanden und den ganzen Tag im Sattel zugebracht hatte sie müde gemacht. Ob sie es wagen sollte, zu schlafen? Letztes Jahr im Zeltlager hatte sie ja auch zwei volle Wochen im Wald verbracht. Zwar inmitten einer Gruppe und in Zelten, aber so sehr unterschied sich das auch nicht. Das Lager hatte ihr Spaß gemacht, zwar hatte sie Stormy vermißt, doch die Tage waren so ausgefüllt mit Beeren sammeln, fischen und Lagerfeuer gewesen, daß sie nur abends an ihn gedacht hatte.
Vielleicht kamen ihr die Stunden bei den Pfadfindern nun zu gute. Das feuermachen hatten sie damals geübt, allerdings mit Feuersteinen und die hatte sie nun nicht zur Hand. Etwas anderes fiel ihr ein und sie begann, die Taschen ihrer Weste zu durchsuchen.
In ihrer Klasse rauchten ein paar Mädchen und gestern nach der Schule hatte Julie sich eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug gekauft. Sie hatte sie in der kleinen Innentasche ihrer Weste verstaut und ganz vergessen, zumal sie bisher noch nie Lust auf eine Zigarette verspürt hatte. Sie hatte sie gekauft, um vor den anderen nicht als Außenseiterin dazustehen. Ganz schön blöd, dachte sie jetzt, war aber gleichzeitig froh, das Feuerzeug bei sich zu haben. Stormy, sieh mal.“ Sie zog das Feuerzeug und die Packung hervor. „Das löst mein Kälteproblem.“
Sofort begann sie nach trockenen Ästen zu tasten, buddelte das Gras weg und legte Steine zu einem Kranz. So hatte sie es gelernt, um keinen Waldbrand zu riskieren. Sie nahm ein Stück der dünnen Pappe der Zigarettenschachtel und hielt sie in die Flamme des Feuerzeugs. Sofort brannte es und Julie warf es auf den kärglichen Asthaufen.
Für Sekunden hielt sie den Atem an und beobachtete gespannt, wie die Flammen knisternd und knackend an dem jungen Holz leckten. Die Zweige waren nicht trocken genug, aber sie brannten und nach und nach legte Julie weitere dazu. „Jetzt fehlt nur noch eine heiße Tasse Tee“, seufzte sie zufrieden und streichelte Stormy. Er blähte die Nüstern und blickte unsicher zu dem Feuer, doch er scheute nicht davor zurück.
„Das muß sein, mein Junge“, erklärte Julie ihm. „Du hast dein Fell, daß dich wärmt, aber mir ist kalt und das Feuer wird außerdem wilde Tiere abschrecken.“
Der Wallach schnaubte leise und wandte sich wieder dem Gras zu. Julie plazierte den Sattel so, daß sie ihren Kopf auf die Sitzfläche legen konnte. Eigentlich wollte sie nur ein paar Minuten die Augen schließen, bis der Mond hoch am Firmament stand, doch die Wärme des Feuers und die relative Bequemlichkeit von Decke, weichem Boden und Sattel ließen sie tief einschlafen.
 
Als sie aufwachte, war es schon taghell. Im Gegensatz zu sonst, war sie schlagartig hellwach und ihr erster Blick glitt zu Stormy, der etwa einen Meter von ihr entfernt stand und Gras rupfte. „Ich hab auch Hunger“, sagte sie laut zu ihm, aber stärker noch war der Durst. Dagegen zumindest sollte sich etwas unternehmen lassen und sie erinnerte sich wiederum an die Stunden bei den Pfadfindern.
Rasch sattelte sie Stormy und gab ihm die Zügel frei. Er würde schon Wasser finden und sie selbst auch, denn der Wald war so dicht und grün bewachsen, daß sie garantiert in der Nähe eines Flußlaufs war.
Nur wenige Minuten vergingen, bis sie leises Wasserplätschern hörte und Stormy auf das Geräusch zu ritt. „Der Bach war ja genau vor unserer Nase und wir haben ihn gestern Abend nicht gesehen. Naja, du hast ihn sicher gerochen.“ Sie glitt von Stormys Rücken und beugte sich hinab, um mit beiden Händen Wasser zu schöpfen.
„Ah, tut das gut.“ Das Wasser war kühl und frisch und es schmeckte herrlicher als alles, was sie jemals zuvor getrunken hatte. Auch Stormy trank und Julie gönnte ihnen eine Rast von 15 Minuten.
Optimistisch stieg sie wieder in den Sattel. Der Durst war gestillt, die Morgensonne angenehm und sicherlich würde sie bald auf eine Straße stoßen. Es war richtig gewesen, die Nacht abzuwarten, nun war sie ausgeruht. Nur an die Sorgen, die sich ihre Mutter machte, durfte sie nicht denken. Kelly war ein einziges mal ohne Erlaubnis über Nacht weg geblieben, als sie mit einer Freundin zu einem Konzert gegangen war und dann noch mit zu bekannten. In feucht-fröhlicher Runde hatte sie die Uhrzeit ganz vergessen und war am nächsten Morgen im verkaterten Zustand von der wütenden Kathleen Lundi geweckt worden, die sie ins Auto verfrachtet, nach hause gefahren und dort mit Kopfschmerztabletten und Wasser in ihr Zimmer gesperrt hatte. Einen ganzen Monat hatte Kelly Ausgehverbot bekommen, außerdem für zwei Monate kein Taschengeld, von der Gardinenpredigt ganz zu schweigen.
Der Wald wurde lichter und Julie trieb Stormy zu einem kurzen Galopp an. Freudig kam er der Aufforderung nach und Julie genoß den schnellen Ritt, bei dem ihr der Wind sanft durchs Haar strich. Die Strecke ist ideal zum Galoppieren, muß ich mir merken, überlegte sie. Neben ihr plätscherte der Bach munter dahin, wurde breiter und schließlich war es ein richtiger kleiner Fluß.
Wo Wasser sind, sind meist auch Menschen, dachte Julie und beschloß, dem Flußlauf zu folgen. So konnten sie auch jederzeit trinken. Sie ließ Stormy in zügigem Schritt gehen und zügelte ihn, als sie rot leuchtende Erdbeeren entdeckte. Die Walderdbeeren waren klein und schmackhaft und nachdem ihr Hunger damit gestillt war, genoß Julie den Weiterritt richtig.
Plötzlich fühlte sie, wie Stormy sich unter ihr verspannte. „Was ist los, mein junge, hast du was gehört?“
Er begann zu tänzeln und stieß ein kurzes, hohes Wiehern aus. Julie überlegte, ob sie absteigen sollte, sie wollte es nicht riskieren, daß er ihr ein zweites mal durchging. Bei den Steinen, die hier überall lagen, konnte das gefährlich werden, daher saß sie ab und faßte die Zügel dicht unter seinem Kinn. So hatte sie die meiste Kontrolle über ihn.
Stormy schritt brav neben ihr, doch Julie sah, wie er die Ohren in verschiedene Richtungen stellte. „Wenn ich nur wüßte, was dich so beunruhigt. Ist es der Fluß? Dieses Tosen muß von einem Wasserfall kommen, wahrscheinlich ist einer ganz in der Nähe.“
Beim Klang ihrer Stimme war Stormy für einen Moment wieder ruhiger, doch dann versuchte er zu traben. „Ho, nicht, Stormy, schön hierbleiben.“ Julie drehte sich zweimal mit ihm im Kreis, um ihn zum Stehen zu bringen.
Stormy wieherte schrill und versuchte zu steigen. Mit aller Kraft stemmte Julie die Füße in die weiche Erde. Durch den Morgentau und den nahen Fluß war der Boden feucht und sie spürte, wie ihre Stiefel rutschten.
„Hör auf, Stormy!“ Julie sprach nun energischer, doch das beeindruckte den Wallach nicht. In seinen sonst zu sanften, nachtdunklen Augen wurde das Weiße sichtbar und sie waren genau wie die Nüstern schreckgeweitet. Durch seine Vollblut-Vorfahren reagierte Stormy zwar manchmal nervös und seine Schreckhaftigkeit hatte sie überhaupt erst in diese Lage gebracht, doch ein derartiges Verhalten hatte Julia noch nie an ihm gesehen.
Das Rauschen des nahen Wasserfalls dröhnte in ihren Ohren. Julie suchte mit den Augen die Umgebung ab, doch sie mußte nah am Fluß bleiben, denn durch das Dornengestrüpp konnten sie nicht gehen. Und das erstreckte sich zu ihrer rechten so weit sie sehen konnte.
Vorsichtig stieg Julie über die kleinen Steine und fühlte trotz der Stiefel, wie eiskaltes Wasser ihre Knöchel umspülte. „Wir müssen leider hier durch, Stormy. Aber Wasser macht dir doch sonst nichts aus, du bist doch früher sogar gern in das Pferdeschwimmbad gegangen.“
Noch immer mit dem Kopf schlagend, ließ Stormy sich durch das niedrige Wasser führen. Julie hoffte, daß sie nicht weiter in den Fluß hinein mußten, die Strömung schien recht stark zu sein.
In der nächsten Sekunde bäumte Stormy sich so ruckartig auf, daß die Zügel ihr aus der Hand gerissen wurden und Julie ins Taumeln geriet. Sie fing sich wieder und wollte gerade dem davongaloppierenden Stormy nachsetzen, als ein Fauchen hinter ihr sie erstarren ließ.
Spielten ihre Ohren ihr einen Streich? Das Tosen des Wasserfalls schluckte alle Geräusche, doch dann glaubte sie ein zweites Fauchen zu hören.
Sie drehte sich halb um und für einen Moment setzte ihr Herzschlag aus. Keine zwei Meter von ihr stand ein Puma. Sonnenstrahlen ließen Punkte auf dem Fell tanzen. Teilweise wies es noch Flecken auf, also konnte das Tier noch nicht sehr alt sein.
Dennoch zweifelte Julie keine Sekunde daran, daß es sie als Beute ansah und fieberhaft überlegte sie, wie sie sich nun verhalten sollte. Ein Baum war nicht in der Nähe, außerdem konnten Raubkatzen klettern. Schwimmen konnten sie zwar auch, aber zumindest von den Stallkatzen wußte Julie, daß sie jede Art von Wasser verabscheuten und sie hoffte, daß das auch auf Pumas zutraf. Schritt für Schritt, um seinen Fluchtinstinkt nicht zu wecken, ging Julie weiter in den Fluß hinein.
Das Wasser drang durch ihre Stiefel, erschwerte das Gehen und sie mußte aufpassen, auf dem kieselübersäten Boden nicht zu stolpern. Der junge Berglöwe schaute ihr scheinbar interessiert zu. Er hob eine Vorderpfote, leckte ein paarmal drüber und fauchte erneut. Dann machte er einige Schritte in Richtung des Mädchens.
Julie zögerte keinen Augenblick, sie sprintete los, warf sich in das Wasser, schnappte aufgrund der Kälte nach Luft und hielt den Atem an, um zu schwimmen. Hinter sich hörte sie den Puma ins Wasser platschen, doch sie verschwendete keine Zeit damit, sich nach ihm umzudrehen.
Die Strömung riß sie mit sich und Julie ließ sich treiben, wichtig war, von dem Berglöwen weg zu kommen, ans Ufer würde sie es schon irgendwie schaffen. Besonders tief war das Wasser ohnehin nicht.
Näher und Näher kam das Tosen des Wasserfalls und Julie begriff, daß sie dabei war, auf ihn zuzutreiben. Sie sah über die Schulter zurück und bemerkte aus den Augenwinkeln den Puma, der auf gleicher Höhe mit ihr am Ufer durch das flache Wasser lief.
Sah er in ihr eine Beute? Das Tier war jung, aber deswegen nicht minder gefährlich. Julie wollte es nicht darauf ankommen lassen, also atmete sie noch einmal tief ein, hielt die Luft an und stürzte den Wasserfall hinunter.
Sie fiel etwa drei Meter und kam platschend in tiefem Wasser an. Strampelnd kämpfte sie sich an die Oberfläche und schöpfte Atem. Sie trat Wasser und blickte sich um. Hinter ihr rauschte der Wasserfall, doch vor ihr erstreckte sich ein ruhiger See. Ringsum standen Laubbäume.
Sie schwamm ans Ufer und sogleich spürte sie die Kälte. Bleischwer klebten Pullover, Weste und Hose an ihr. Erschöpft und mit den Zähnen klappernd ließ sie sich auf einen großen Felsbrocken sinken.
Mit klammen Fingern tastete sie nach dem Feuerzeug. Es war noch da, zusammen mit den völlig durchgeweichten Zigaretten. Julie gönnte sich eine kurze Atempause, in der sie ihre letzten Kraftreserven sammelte, dann schichtete sie trockene Äste und welke Grashalme zusammen und zündete sie an.
Sie zog sich bis auf Unterhemd und Slip aus, hing ihre nassen Sachen zum Trocknen nah ans Feuer und ließ sich selbst von der Sonne wärmen. Immer wieder glitt ihr Blick zum Wasserfall, doch der Puma war ihr nicht gefolgt. Damit war sie ein Problem los, aber wo war Stormy? In seiner Panik war er gesattelt und aufgetrenst, wie er war, davongaloppiert. Julie durfte gar nicht daran denken, wie leicht sich die Zügel in den Ästen verfangen konnten. Das der Puma ihn verfolgt hatte, war unwahrscheinlich. Er war ihm ja auch anfangs nicht nachgelaufen und wenn er sich doch dazu entschlossen hatte, nachdem julie den Wasserfall gewählt hatte, so hatte Stormy zumindest einen großen Vorsprung.
Es gab keine Wildpferde in der Umgebung und ein gesatteltes Pferd fiel sowieso auf, also würde man nach seinem Reiter suchen. Und sicherlich waren auch ihre Eltern, Kelly und Bob längst unterwegs und kämmten nach ihr den Wald durch. Stormy war zwar etwas scheu, aber wenn er Menschen sah, würde er schon zu ihnen hin laufen. Er hatte zwei Jahre in einem Reitstall am Rande von Los Angeles gestanden, Straßenlärm würde ihn nicht erschrecken und er war absolut verkehrssicher.
Mit all diesen Gedanken versuchte Julie die aufkeimende Panik zu ersticken. Größtenteils gelang es ihr, zumal sie sich gleichzeitig vorstellte, wie lächerlich sie sich benahm. Sie befand sich in einem Land, daß zu den fortschrittlichsten der Welt gehörte, hatte zu Hause Kabelfernsehen, Funktelefon und Mikrowelle, jede Tankstelle verfügte über gleiche Geräte – und sie irrte durch den Wald, wo doch vermutlich nur wenige Meter von ihr entfernt der nächste Drive in einer Fast Food-Kette lag.
Der See war so schön, das Ufer ideal zum Sonnenbaden, vermutlich war er im Sommer das Ausflugsziel vieler streßgeplagter Familien. Sicher gab es eine Straße, die zu ihm hin führte.
Endlich waren ihre Sachen trocken und Julie zog sie rasch über. Wenn sie noch länger so untätig herum gesessen hätte, wäre sie wohl wirklich noch depressiv geworden.
Sie ging mit zügigen Schritten um den See herum und hielt Ausschau nach einer Zufahrtsstraße. Nun gut, daß sie keine sah, hieß nicht, daß es keine gab. Möglicherweise befand sie sich ja in einem Naturschutzgebiet und dann waren Autos hier verboten.
Doch dann sah sie sich ihre Umgebung genauer an; nirgends deutete etwas darauf hin, daß vor ihr schon jemand hier gewesen war, keine Abfallkübel, keine vergessenen Picknickkörbe und kaputte Regenschirme.
„Also weiter“, murmelte Julie halblaut und ging geradewegs in den Wald. Die Bäume standen nicht so dicht und die Sonne schien angenehm warm durch die hellgrünen Kronen. Julie fand immer wieder ein paar Erdbeersträucher. „Sollen ja sehr gesund sein“, sagte sie laut und grinste ein Backenhörnchen an, das sich gerade auf einem Baumstumpf putzte.
Verhungern kann ich jedenfalls nicht, dachte sie und mußte fast lachen. Sie war gerade mal den zweiten Tag im Wald und hatte keinesfalls vor, länger zu bleiben. Ihre Uhr war stehengeblieben, das kalte Wasser hatte sie nicht überlebt, aber Julie schätzte, daß sie mehrere Stunden gewandert war, als sie sich auf einem entwurzelten Buchenstamm niederließ.
„Bäume, nichts als diese verdammten Bäume!“ Sie hatte Lust zu fluchen und diesmal würde sie niemand ermahnen. Also betitelte sie die Bäume um sich herum mit allen Schimpfwörtern, die ihr gerade einfallen. Irgendwann wurde ihr das langweilig, außerdem konnten die Bäume ja eigentlich nichts dafür, daß sie sich in dieser mißlichen Lage befand.
Sie ging weiter, zumindest das ging problemlos, denn der Boden war nur mit niedrigen Gräsern und Moos bewachsen. Von Zeit zu Zeit legte sie kurze Pausen ein. Der schmale Bach, ein Abfluß des Sees, plätscherte zu ihrer Linken.
Als die Dämmerung einsetzte, war Julie völlig erschöpft. Ihre Beine taten weh und sie fühlte sich trotz des unfreiwilligen Bades am morgen verschwitzt und schmutzig. Im letzten Licht suchte sie trockene Äste zusammen, legte einen Steinkreis und entfachte ein Feuer. Gegen die Kälte half es, aber in der letzten Nacht hatte sie weitaus bequemer mit der Decke und dem Sattel gelegen.
Sie rollte sich nah beim Feuern eng zusammen und fast sofort übermannte die Müdigkeit sie.
 
Das Feuer war erloschen, als sie erwachte, aber dafür war die Sonne bereits zu sehen. Julie streckte sich, sie war völlig verspannt. Am Bach stillte sie ihren Durst, pflückte eine handvoll Erdbeeren, die dort wuchsen und ging weiter.
Sie war schätzungsweise eine Stunde unterwegs, da ließ lautes Rascheln sie erstarren. War der junge Puma ihr etwa doch gefolgt? Oder gab es weitere Raubtiere, die sie als Beute ansahen?
Julie wagte kaum zu atmen und versuchte, zwischen den Bäumen etwas zu erkennen. Es raschelte immer noch, auf jeden Fall mußte das ein größeres Tier als eines der zahlreichen Backenhörnchen sein. Katzen verursachten eigentlich keine Geräusche, ob es wohl ein Bär war? Gab es die hier überhaupt? Julie wußte es nicht, wie sie überhaupt sehr wenig über ihre neue Umgebung wußte. Die Großstadt war ihr vertraut gewesen, das Leben in ländlichen Gefilden dagegen völlig neu.
Oder konnte es sein, daß ein Suchtrupp in der Nähe war. Julie atmete tief durch, wenn es ein Bär war, würde der sie auch finden, wenn sie still blieb, das war nur eine Frage der Zeit. „Hallo!“ schrie sie so laut sie konnte. „Hallo, ich bin hier!“
Sie lauschte angestrengt, rief noch einmal, doch keine Antwort erklang. Dafür aber kam das Rascheln näher und etwas brach durchs Unterholz.
Der Schrei auf ihren Lippen ging in ein erleichtertes Auflachen über „Stormy!“ Julie lief ihrem Pferd entgegen und warf die Arme um seinen Hals. Seine Zügel waren gerissen und der Sattel fehlte ganz, aber davon abgesehen schien er auf den ersten Blick in Ordnung zu sein.
Nach der ersten Freude untersuchte sie ihn genauer, kontrollierte die Hufe und führte ihn ein Stück. Erleichtert schmiegte sie sich an ihn. „Du hast mich gefunden, oh mein lieber guter Stormy.“ Sie merkte gar nicht, daß sie weinte, bis der Wallach sie leise wiehernd anstupste.
„Ja, jetzt gehen wir nach Hause, du wirst schon sehen, wir schaffen es.“ Sie nahm die Zügel und führte Stormy an einen Baumstumpf. Ohne Sattel hatte sie ihn noch nie geritten und er war ein bißchen zu groß, um ohne Hilfe hoch zu kommen. Aber er blieb ruhig stehen und von dem Baumstumpf aus konnte Julie sich mühelos auf seinen Rücken ziehen.
Sie ließ ihn erst nur im Schritt gehen, doch später wagte sie einen leichten Galopp. Stormy war schmal gebaut, sie kam gut mit ihren Beinen herum und von den Zügeln war noch genug übrig.
Plötzlich blieb Stormy stehen und blähte die Nüstern. Julie hielt sich mit einer Hand an seiner Mähne fest und beugte sich vor. „Was ist los, Stormy? Riechst du einen Puma?“
Er tänzelte ein wenig, schien aber nicht ängstlich zu sein. Im nächsten Moment sah Julie den Grund für sein Verhalten; keine zwei Meter vor ihnen spazierte ein schwarz-weiß gestreiftes Tier mit langem Fell herum. „Ganz ruhig jetzt, Stormy oder wir werden es beide für Wochen bereuen.“
Das Stinktier hatte sie bemerkt und sah neugierig zu ihnen hoch. Julie trieb Stormy dazu, einige Schritte rückwärts zu gehen, dann wendete sie ihn und trieb ihn zum Galopp.
Erst ein ganzes Stück weiter zügelte sie den Wallach. „Da haben wir noch mal Glück gehabt. Gut gemacht, Stormy.“
Stormy schnaubte und Julie bemerkte, daß er weiterhin sehr aufmerksam witterte. Sollte es etwa weitere Skunks in ihrer Nähe geben? Zwei Backenhörnchen huschten vor ihr über den Boden, doch an die hatte Stormy sich inzwischen gewöhnt. Ein Waschbär lief mit ihnen auf gleicher Höhe.
Julie lächelte ihn an, erfreut über seine Zutraulichkeit. Er hielt an und fraß, was er in einer seiner putzigen Pfoten getragen hatte. Julie stockte der Atem, das war ganz ohne Zweifel ein Stück Donut, was der Waschbar da schmatzend verzehrte.
Er sah sie an, schleckte sich über die Schnauze und sprang davon. „Hinterher, Stormy.“ Julie schnalzte mit der Zunge und gab die Zügel frei. Weit mußten sie nicht galoppieren, dann sahen sie das Gasthaus schon. Der Waschbär spazierte auf der Theke herum und ließ sich von einer jungen Frau mit Keksen füttern.
Vor Erleichterung fiel Julie Stormy um den Hals. „Wir haben es geschafft, mein Junge.“ Sie saß ab und lief, ihr treues Pferd am Zügel, zu der Frau hin. Sofort schob die ihr das Telefon zu, nannte die genaue Adresse und versorgte Julie mit Kaffee und Sandwiches, während sie auf das Eintreffen ihrer Eltern wartete.
Es dauerte fast zwei Stunden, bis der Geländewagen mit dem Pferdeanhänger vor der Gaststätte hielt und Kathleen Lundi heraussprang. Sie umarmte ihre Tochter mit Tränen in den Augen. „Wenn du wüßtest, was für Sorgen wir uns gemacht haben.“
Julie war viel zu glücklich, um zu antworten. Sie half Stormy in den Hänger zu führen und nahm auf der Rückbank Platz.
Ihre Mutter lächelte sie an und strich ihr zärtlich über die Wange. „Erzähl uns alles genau, wenn du dich ausgeruht hast.“
„Mach ich“, versprach Julie. „Eigentlich wollte ich ja nur ausreiten, um ein wenig die Gegend zu erkunden...“ Sie gähnte herzhaft und kuschelte sich in die weichen Decken.
Kathleen warf einen weiteren Blick nach hinten und zog dann die Decke über ihre vor Erschöpfung eingeschlafene Tochter richtig. „Du wirst viel Zeit dazu haben, mein Liebling“, flüsterte sie. „Denn für den nächsten Monat wirst du unsere Ranch bestimmt nicht verlassen.“ Dann fiel ihr Blick auf den nur halb geschlossenen Reißverschluß ihrer Westentasche und das Feuerzeug, das daraus herausschaute. Sie hob eine Braue. „In den nächsten zwei Monaten“, fügte sie hinzu, doch das hörte Julie schon gar nicht mehr.
 
 
ENDE
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.10.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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