Harald Haider

Wenn Rosen verwelken - 3.PAUL SYLKA

 
3.PAUL SYLKA
 
 
 
 
 
„Miss Sanders!“ „Äh...ja, bitte?“ Juliette wachte durch die strenge Stimme ihrer Englischprofessorin Mrs. Hackelbuck aus ihren Tagträumen auf. „Miss Sanders, wo waren Sie bloß wieder mit ihren Gedanken?“ Das Mädchen errötete. Während sich die nervige Lehrerin wieder der Tafel zuwendete, um mit ihren bunten Kreiden Grammatikregeln weiter raufzukritzeln, drehte sich Juliette um, schaute durch die Klasse. Besonders musterte sie die Jungen. Wer von denen könnte wohl in sie verknallt sein? Welcher Junge schrieb ihr diese netten Briefe und schenkte ihr schöne rote Rosen? Sie wandte sich wieder der Beschäftigung zu, der sie vor Mrs. Hackelbucks Ermahnung nachgegangen war. Sie hatte sich eine Liste aller Schüler der ganzen Schule angefertigt, welche für diese romantischen Gesten in Frage kämen und welche auch am Sonntag wegen der Ballvorbereitung in der Schule anwesend waren. Einige Namen hatte sie schon durchgestrichen, weil der eine, Jason Preston, seit Donnerstag eine neue Freundin hatte und ein anderer potenzieller Kandidat, George Dyer, doch nicht so viel von ihr zu halten schien. Der nächste Name auf der Liste war James McGovern. Er war neunzehn Jahre alt, also ein Jahr älter als Juliette, hatte schwarze Haare und einen muskulösen Körper.  Sie fand ihn ziemlich süß und ihr neuer Verehrer musste einfach süß sein. James könnte es wirklich sein. Doch dann fiel Juliette etwas ein. James konnte es auch nicht sein. Während die Schüler noch eifrig am Arbeitsplan für den Ball tüftelten, musste er schon wieder zum Baseball-Training seines Vereins. Und er war da schon zu spät  dran, um auch noch Spinds aufzuknacken und seinen Liebesbeweis zu hinterlegen. Nein, leider, auch James konnte es nicht sein und wenige Sekunden später war sein Name von der angefertigten Verehrer-Liste eliminiert. Schon wollte Juliette zum nächsten Namen schreiten, als die schon bekannte Stimme ihrer Lehrerin zu ihr durchdrang. „Miss Sanders! Ich sage es Ihnen zum letzten Mal, passen Sie endlich auf! Wenn Sie den Unterricht zu langweilig finden, können Sie ruhig nach Hause gehen. “Und die nächsten Worte richtete Mrs. Hackelbuck genervt an die ganze Klasse, die knapp zwanzig Schüler umfasste.  „Es ist nun mal Euer letztes Jahr. Wir wollen ja nur, dass am Schluss jeder bei der Abschlussprüfung durchkommt! Also macht doch beim Unterricht mit, dann habt ihr auch zu Hause nicht mehr so viel zum Lernen, oder etwa nicht?“ Die Lehrerin blickte durch ihre übergroße Brille durch die Tischreihen. Von dem einen oder anderen Platz kam ein Seufzen, was soviel bedeuten sollte wie „Hören Sie auf zu quatschen, wir haben es eh verstanden!“ Juliette hatte inzwischen die Liste in ihren Rucksack gesteckt. Irgendwie war es ihr peinlich, dass die Lehrerin dauernd sie anredete. Die anderen in der Klasse passen doch auch nicht auf. Juliette blickte genervt auf die Uhr. Zum Glück, nur noch zwanzig Minuten, dann endlich frei! Da an diesem Montagnachmittag die Lehrer eine Konferenz hatten, war Gott sei Dank nach dieser Unterrichtseinheit beziehungsweise in ungefähr einer Viertelstunde dieser Schultag zu Ende. Mrs. Hackelbuck hatte sich auf den Lehrersessel begeben und gab den Schüler einen verständlichen Wink, doch das Englischbuch aufzuschlagen. „So, blättert bitte auf Seite 67 und macht die Übungen 4 und 5. Wer fertig ist, gibt mir die Arbeiten ab.“ Uff! Das fehlte gerade noch! Aber was soll’s? Juliette las sich die Aufgabenstellung genau durch und stellte fest, dass sie kaum noch Lust hatte, mit einem kurzen Aufsatz über Texas und einer kompliziert aussehenden Grammatikübung zu beginnen. Dann kam ihr der rettende Gedanke. „Mrs. Hackelbuck? Ich müsste auf die Toilette!“ Die Lehrerin rollte ihre Augen, doch nickte sie schließlich nachgebend. Kaum hatte das Mädchen die Klassentür hinter sich geschlossen, schnaufte sie kurz einmal tief durch. Dann begab sie sich um doch auf Nummer sicher zu gehen auf die Mädchentoilette, die sich direkt neben den Spindfächern der Schüler befand. Dort blieb sie knapp fünf Minuten, blickte noch mal auf ihre Uhr –noch knapp zehn Minuten- und entschied sich die restliche Zeit doch wieder in die Klasse zu gehen. Es käme der Lehrerin doch ein wenig komisch vor, wenn Juliette fast fünfzehn Minuten auf der Toilette verweilen würde. Außerdem war der Unterricht eh schon so gut wie gelaufen. Also trat sie wieder aus dem Raum heraus. Als Juliette dann wieder an den Spinden vorbeischlenderte, fiel ihr Blick auf eines, welches einen kleinen Spalt geöffnet war. Als sie die Nummer darauf genau ansah, erstarrte sie. Es war ihr Spind. Neugierig trat sie vor das Fach und öffnete es ganz. Und da lag wieder wie am Tag davor ein Kuvert, und auch dieses Mal lag daneben eine wunderschöne rote Rose. Juliette wurde sofort wieder warm ums Herz. Schon wieder eine Nachricht von IHM! Sie wusste zwar nicht, wen sie mit diesem IHM meinen sollte, doch sie malte IHN sich in ihren verträumten Gedanken aus. Er musste ein unbeschreiblich romantischer und charmanter Typ sein. Ungeduldig und voller Erwartung riss sie das Kuvert auf und zog den Inhalt heraus. Sie schlug den Zettel auf und sah ihn sich zuerst an, dann fing sie an ihn zu lesen, förmlich zu verschlingen.
 
Liebe Juliette!
  
Ich bekomme das Bild Deines wunderhübschen Gesichts einfach nicht mehr aus meinem Kopf!
Ich schmelze bei Deinem Anblick immer wieder dahin.
Ich würde Dich wirklich sehr gerne mal treffen, Dir meine Gefühle für Dich persönlich ausdrücken! Wenn Du mich auch kennen lernen möchtest, hinterlege in Deinem Spindfach einen Brief von Dir! Ich werde mich sehr bald wieder bei Dir melden!
  
Bis dahin, Kuss
Dein Verehrer.
  
Darüber war das Bild einer Rose aufgedruckt. Einer Rose, die gerade blüht, wächst, sich zu ihrer Schönheit entwickelt.
Juliette seufzte vor sich hin. Wer war ER bloß? ER musste ihr diesen Brief schon in der Früh reingelegt haben. Weil sie zu spät zum Unterricht gekommen war, hatte sie nicht mal Zeit, zu ihrem Spind zu gehen. Bis jetzt. ER wollte, dass sie diesen Brief findet. Darum ließ ER diesmal das Spindfach einen Spalt offen, damit sie seine Nachricht bekommt. Sie wollte sich den Brief noch einmal durchlesen, als eine schrille Stimme durch den Schulflor hallte. „Miss Sanders! Kommen Sie sofort wieder in die Klasse!“ Mrs. Hackelbuck stand im Türrahmen des Klassenzimmers, in dem sie gerade unterrichtete. „...Entschuldigung, ich komme schon, einen Moment noch...“ Juliette verstaute den Brief wieder im Kuvert und legte ihn wieder ins Regal des Spinds. Nach dem Unterricht würde sie ihn sich dann holen. Sie schloss noch schnell das Fach und begab sich genervt wieder in die Klasse, um die restlichen fünf Minuten noch abzuarbeiten.
 
„Tot?“ Dumonts Stimme überschlug sich fast, als er ins Handy zurückschrie. „Es ist den untersuchenden Leuten wirklich kein Fehler unterlaufen?“ „Nein, Inspektor, wir haben konkrete Beweise, dass der Mörder von Susan Thompson und der Mann, der vor einem halben Jahr bei einem Brand ums Leben kam, ein und derselbe ist, auch wenn das nicht zu erklären ist...Mr. Dumont, die Blutproben stimmen mit hoher Sicherheit überein. Paul Sylka war Samstagnacht im Park...Paul Sylka hat Miss Thompson vergewaltigt und kaltblütig erstochen...aber wie?“ Dr. Patterson hatte es selbst die Stimme verschlagen. Wie konnte man auch diese neue Beweislage interpretieren? Ein toter Kerl steigt aus seinem Grab und bringt schnell ein Mädchen um, wir sind doch hier nicht bei beliebten Teenagerserien wie ‚Buffy’ oder so! Das hier ist die harte Realität! Aber es blieb eine Frage bestehen: Wie? Wie konnte ein Mann jemanden töten, wenn er schon seit längerer Zeit selbst tot war? Dumont drehte sich im Kreis, sein Handy am Ohr, dauernd zu seiner Kollegin schauend. Diana Hawkins konnte noch nicht ahnen, was ihr Kollege gerade erfahren hatte. Doch sie sah ihm an, dass er sehr beunruhigt aussah, irgendwie fassungslos. Und das war Andre Dumont auch. „Könnten Sie mir die Akte von Paul Sylka faxen lassen, von der Sache beim Gericht bis zum Tod, ok?“ Dr. Patterson stimmte ihm zu und teilte dem Inspektor weitere Informationen mit. „Vielleicht fragen Sie sich, warum Sylka damals nicht verurteilt wurde. Das hat einen ganz interessanten Grund. Zu der Zeit, als er diese Frau angegriffen hatte, war er unter psychiatrischer Behandlung wegen erhöhter Aggressivität und Depressionen. Darum erklärte man ihn vor Gericht zu unzurechnungsfähig. Er besuchte diese Behandlung weitere Monate, bevor er durch das Arbeitsamt einen kleinen Job in dieser Autowerkstatt fand. Sylka freundete sich mit einem Kollegen an, der ihn bei sich wohnen ließ. Die müssen sich sehr nahe gestanden sein, weil nach dem Unfall der Mann nie mehr in der Arbeit auftauchte. Er schickte ein knappes Kündigungsschreiben an den Leiter der Firma und ab diesen Moment hatte man nichts mehr von ihm gehört. Er ist auch aus seiner Wohnung ausgezogen. Darum weiß man momentan nicht seinen Aufenthaltsort. „Macht nichts, es braucht auch nicht von Bedeutung sein.“ Dumont versuchte alle Möglichkeiten zu kombinieren, doch irgendetwas passte nicht zusammen. „Wissen Sie was, wären Sie so nett und könnten mir auch die Akte von Sylka aus der psychiatrischen Anstalt, wo er in Behandlung war, besorgen?“ „Kein Problem, ich wollte sowieso noch einmal beim Revier in Dallas wegen der Sache anrufen. Da kann ich auch das noch dazwischenflicken.“ „Danke...ich hoffe, nachdem ich mich durch diese Aufzeichnungen gekämpft habe, entdecke ich mehr Licht im Dunkeln als bisher.“ „Viel Glück...Mr. Dumont...ich lasse die Akten gleich zu Ihnen durchfaxen.“ „Vielen Dank, Doktor!“ Andre Dumont steckte sein Handy wieder in die Seitentaschen seiner Jacke und wandte sich Mrs. Hawkins zu, um ihr die neuesten Ergebnisse, so verrückt und unglaublich sie auch klangen und auch waren, mitzuteilen.
 
Der Mann, der ein paar Stunden zuvor noch erregt Juliette Sanders nachgestarrt hatte, stand nun in seinem Haus –wenn es den Begriff ‚Haus’ überhaupt verdient hatte, es glich eher einer kleineren Ruine- vor einem hölzernen, von Holzwürmern schon ein wenig angenagten Tischchen, auf denen lauter Fotos von einem Mädchen darauf schön geordnet lagen. Der Mann musterte lustvoll die selbstgeschossenen Bilder. Sie ist noch hübscher, als es Susan war! Und sie wird bald mir gehören,...wie ich auch Susan bekommen habe....nicht mehr lange..! Er nahm sich das eine oder andere Foto, blickte es voller Erwartung an, bevor er es wieder zu seinem ursprünglichen Platz zurücklegte. Ein Foto zeigte das Mädchen auf dem Fahrrad, ein anderes beim Joggen und wieder ein anderes vor dem Schuleingang. Der Mann hatte sie nun seit einigen Tagen im Blickfeld gehabt. Er hatte immer seinen alten, aber noch immer funktionierenden Fotoapparat in seinem Wagen liegen, man wusste ja nie, ob er leicht seine Rose vors Visier bekam. Er fand das Mädchen sehr sexy, wahnsinnig süß. Und sie würde bald in seinen Händen liegen. Sehr bald... Er trat vom Tisch zurück und setzte sich auf dem daneben stehenden Holzstuhl. Der Mann atmete tief durch. Er schloss seine Augen und dachte nach. Dachte an Susan Thompson, der er im Chat aufgelauert war und sie dann nach allen Regeln der Kunst mit seinem Charme gefangen hatte. Dachte an Juliette Sanders, wie er sie bald treffen würde. Ihm wurde es gar nicht wirklich bewusst,  dass er ein kaltblütiger Vergewaltiger und Mörder war. Er wollte nur das, was ihm bisher in seinem Leben verwehrt geblieben ist: Schöne junge Mädchen. Und das holte er sich jetzt. Auch wenn er über Leichen gehen musste, denn wenn schon er nicht diese unschuldigen Mädchen bekommen konnte, dann sollte sie in Zukunft auch kein anderer mehr bekommen! Sie gehörten ihm,...sie waren seine Rosen. Er schlug die Augen auf. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass seine Schönheit in wenigen Minuten die Schule verlassen würde. Seine Nachforschungen haben ergeben, dass für den Nachmittag eine Lehrerkonferenz in Juliettes Schule geplant war und daher der Nachmittagsunterricht entfiel. Der Mann schwang sich aus dem Stuhl und trat zur Haustür, nahm sich noch seinen Trenchcoat vom Kleiderhaken und verließ voller Erregung sein Haus. Mit der Hoffnung, wieder einige unwiderstehliche Fotos von seiner Rose knipsen zu können durchquerte er den Schotterweg, der von der Tür zur Strasse führte, und schwang sich in sein altes Auto, dass wenige Augenblicke später unter einem lauten Aufheulen des Motors den Parkplatz hinter sich ließ.
 
Dr. Artur Patterson rannte in seinem Büro auf und ab. Er durchdachte alle neuen Ergebnisse. Irgendetwas stimmte nicht. Nur was? Seufzend ließ er sich auf seinen Ledersessel hinter dem Bürotisch fallen. Dieser Sylka konnte nicht tot sein...doch wer war dann die Leiche, die man beim Brand in der Autofabrik gefunden hatte...oh Gott...es schoss ihm ein schrecklicher, aber durchaus logisch erscheinender Gedanke durch den Kopf. Mit vor Nervosität zitternden Fingern tippte er aufgeregt eine Nummer in die Tastatur seines Telefons.
 
Juliette, da bist du ja! Der Mann im Trenchcoat nahm seinen Fotoapparat vom Beifahrersitz seines verrosteten Wagens und nahm das Mädchen, das gerade auf dem Nachhauseweg war, ins Visier. Klick! Klick! Mit schnellem Tippen schoss der Mann Bild um Bild, gefesselt von dem Anblick der Unschuld, die dieses Mädchen ausstrahlte. Erregt drückte er immer und immer wieder auf den Auslöser, bis Juliette mit ihrem Fahrrad um die Ecke verschwunden war. Dann legte der Mann den Apparat wieder auf den Sitz neben ihm und blickte lustvoll auf die Stelle, wo seine Rose gerade abgebogen war, auch wenn diese schon lange nicht mehr in Sichtweite war. Oh Juliette, meine Süße! Mit einem Grinsen auf den Lippen startete er den Motor und fuhr dem Mädchen nach.
 
Zum Glück war an diesem Nachmittag schulfrei! Jetzt nur schnell daheim eine Kleinigkeit essen, dann noch die Hausaufgaben machen, und um drei Uhr würde dann ihre Freundin Sarah kommen. Sollte Juliette ihr was über ihren süßen Verehrer erzählen,...? Nein, vielleicht später. Es könnte leicht sein, dass sie ihr diese Aufmerksamkeiten nicht gönnt, weil Sarah Cox war eine der Personen, die selber erst Glück und Geborgenheit haben möchten, bevor sie sich über solche Erlebnisse von Freunden mitfreuen konnte. Aber egal. Juliette würde es ihr schon sagen,...aber erst, wenn sie wusste, wer dieser Verehrer bloß war. Langsam radelte sie Richtung Wohnhaus der Familie, mit den Gedanken wieder einmal bei den Briefen. Nicht nur der Wille des Jungen, seine Gefühle für sie mitzuteilen, es war vielmehr die Art, der Stil, wie ER es tat, die Juliette nicht aus ihrem Kopf bekam. Auch so musste ER ein echter Romantiker sein, wie sie an den Rosen bemerkte. Sie hatte sich noch mal die Namen der selbst geschriebenen ‚Verehrer-Liste’ durchgedacht und kam zum Ergebnis, dass es vermutlich keiner der Verdächtigen war. Zwar waren einige heiße Kandidaten im Rennen, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass sie ihren neuen Verehrer womöglich noch gar nicht kannte. Darum: Wer war ER? Eines wusste sie jedenfalls, sie wollte es so bald wie möglich herausfinden. Und das würde sie auch...
 
„Das ist ja wirklich irr! Wie ist so etwas möglich...nein, das ist nicht möglich....“ Diana Hawkins saß geschockt über die Mitteilungen ihres Kollegen Andre Dumont in ihrem Bürosessel, den Mund vor Fassungslosigkeit weit offen stehend. Dumonts Worte rasten durch ihren Kopf. Ein Mann, der tot war, konnte kein Mörder sein, vor allem nicht, wenn der Tod des Täters schon viel länger her war als der des Opfers...Sie musste tief durchatmen. „Und wie geht’s jetzt weiter?“ wendete sie sich wieder an Dumont. „Puh,...keine Ahnung. Jetzt warten wir mal auf die Akten von Sylka, vielleicht löst sich dieses unmögliche Rätsel doch. Dr. Patterson sagte auch, dass Paul Sylka längere Zeit in psychiatrischer Behandlung war. Wäre gespannt, was der Grund für seine schlimmen Gewaltanfälle war. Na ja,...möchtest du einen Kaffee?“ Der Inspektor blickte seine attraktive Kollegin freundlich an. „Sehr gerne, Andre!“ Diana Hawkins fand es toll, dass sie endlich mehr Kontakt zu ihrem Kollegen hatte, er war ihr schon öfters aufgefallen, doch sie hatte zuvor kaum was mit ihm zu tun. Sie fand Dumont echt spitze. Doch nun tat er ihr richtig leid, weil die verrückten Wendungen in diesem Mordfall strapazierten seine Nerven merkbar viel mehr, als ihm lieb war. Dumont war aus ihrem Zimmer gegangen, auf dem Weg zum Kaffeeautomaten. Diana blickte ihm mit Mitgefühl nach. Er versuchte, sich selbst ein wenig abzulenken. Von diesem Nerven zermürbenden Fall, von den Vorgesetzten, die ihm sicher schon Druck machten. Doch bei diesen Versuchen merkte man ganz klar, dass ihm das nicht wirklich gelang. Zu oft war er mit seinen Gedanken ganz wo anders, bei dem Täter, seinen Absichten, seiner Lebensgeschichte und vor allem die Frage, wie ein Toter einen Mord verüben konnte. Doch diese Frage würde sich schon bald beantworten, leider ein bisschen zu spät...
 
Juliette parkte ihr Fahrrad vor dem hohen Gebäude, machte das Sicherungsschloss noch dran, und ging dann zur Eingangstür. Mann, der Lift dauert heute wieder lange! Ah...endlich! Nachdem sie per Aufzug in den fünften Stock gefahren war, betrat sie die in dieser Etage gelegene Wohnung der Sanders - Familie. Geschickt aus ihren Sandalen geschlüpft trat sie in die Küche, wo sie sich eine Tiefkühlpizza aus dem Kühlschrank holte und ins Rohr des Herdes schob. Lecker,...Salami! Während ihr Mittagessen so richtig warm wurde, setzte sie sich auf den Balkon, wo Juliette sich noch ein wenig bräunen lassen würde, bevor sie sich über ihre Lieblingsspeise stürzen konnte.
 
Da oben sitzt sie und lässt ihren schönen Körper bräunen...Juliette...Oh Juliette! Die rechte Hand des Mannes griff instinktiv zum neben ihm liegenden Fotoapparat rüber, nahm ihn und stellte das Visier Richtung Balkon von den Sanders. Klick! Klick! Wie auch schon wenige Minuten zuvor schoss sich der Mann im rostigen Wagen in einen richtigen Wahn, drückte immer wieder auf den Auslöser, bis er schließlich merkte, dass der Film aus war. Er drückte weiter, in der vergeblichen Hoffnung, dass der Apparat noch irgendwelche Reserven für weitere lustvolle Fotografien frei legte. Nach knapp einer halben Minute kam er wieder aus seiner Traumwelt zurück, in die Realität. Er legte das alte Gerät wieder auf den Beifahrersitz zurück und blickte einfach zum Balkon hinauf, wo das hübsche Mädchen einen Zettel in die Hand genommen hatte und ein wenig darin schmökerte. Ihre braunen Haare glänzten im Licht der Sonne. Sie sah richtig verträumt aus. Erregt seufzte der Mann vor sich hin. Er konnte es kaum noch erwarten, bis dieses Mädchen endlich ihm gehören würde. Nur ihm, und sonst keinem anderen mehr... Der Mann blieb noch knapp zehn weitere Minuten in seinem Auto sitzen, bis Juliette den Balkon verließ und in die Wohnung zurückging. Kurz ihr noch nachblickend, setzte er schließlich seinen Wagen, welcher gegenüber des Wohngebäudes, in dem Juliette Sanders wohnte, geparkt war, in Bewegung und fuhr die Straße hinunter, zurück zu seiner Behausung, um in seinem selbst eingerichteten Fotolabor die unwiderstehlichen neuen Aufnahmen seiner Rose zu entwickeln.
 
„Hier, bitte! Aber pass auf, er ist noch sehr heiß!“ Andre Dumont reichte seiner Kollegin den Plastikbecher voll gefüllt mit cremigen Kaffee. „Danke!“ Diana Hawkins nahm den Becher und stellte ihn sich auf den Bürotisch. Anschließend setzte sie sich nieder und sah Dumont erwartungsvoll an. „Und, wie lange wird es noch dauern, bis die Akten hergefaxt werden?“ fragte sie ihn. Ungeduldig blickte der Inspektor auf seine Armbanduhr und antwortete mit einem mürrischen Unterton. „Ich hoffe bald...“ Er nahm einen großen Schluck aus dem Becher und musste danach wegen der wirklich noch sehr warmen Temperatur des Getränkes kurz durchatmen. Er blickte Diana an. „Ich weiß, dass ich mich jetzt schon zu sehr in diesen Fall hineinsteigere, für die Tatsache, dass ich erst seit nicht einmal zwei Tagen daran arbeite, kommt es mir schon wie eine halbe Ewigkeit vor. Es ist so ein komisches Gefühl. Ich verspüre es die ganze Zeit, wenn ich an den Mord und den Täter denke. Und ich muss sehr oft an das denken. Kaum ein Mordfall nahm mich bisher so mit wie dieser. Womöglich auch, weil ich das komische Gefühl habe, dass dieser Mord erst der Anfang ist....“ „Der Anfang....wovon...?“ Diana Hawkins hörte interessiert zu. Dumonts Worte bestätigten ihren Verdacht über seine Gedanken. Sie hatte Recht behalten. Dumont fuhr fort: „Ich weiß nicht,...aber ich habe so ein mulmiges Gefühl, dass ich...wir noch sehr viel zu überstehen haben...in dieser verzwickten Sache. Ich weiß, ich muss mich wie ein selbstmitleidiger, pessimistischer und durchgeknallter Ermittler anhören, den dieser Fall nervlich ans Ende seiner Kräfte treibt...“ Er sah seine Kollegin mit einem traurigen Blick an. „Nein, du siehst eher wie ein Ermittler aus, der so schnell wie möglich diesen Schweinehund hinter Gittern bringen will und so lange dir das nicht gelingt, macht dich diese Gewissheit total fertig.“ Diana versuchte Dumont damit ein wenig zu helfen, doch ein Teil von ihr haderte auch mit Dumonts letzten Worten: ‚...den dieser Fall nervlich ans Ende seiner Kräfte treibt’. Sie passten wirklich zum momentanen Zustand von ihrem Kollegen, sie hatte Angst, dass sie womöglich Wirklichkeit würden. Dumont war ein zu sensibler Typ, um so etwas schnell wieder zu verarbeiten, sich zu regenerieren. In diesem Augenblick läutete der Telefonapparat auf ihrem Schreibtisch. „Ist Inspektor Dumont bei Ihnen?“ fragte die Sekretärin der Mordkommission. „Ja, ist er!“ „Ich wollte nur, dass er weiß, dass er ein wichtiges Fax bekommen hat, es stammt vom Polizeirevier in Dallas.“ „Ah,...ja...danke...ich werde es ihm ausrichten...“ Sie verabschiedete sich bei der hilfsbereiten Mitarbeiterin und legte den Hörer wieder auf die Gabel des Telefons. „Andre....die Faxe sind da!“ „....na endlich...!“ Mit einem kurzen Winken verließ er das Zimmer von Diana Hawkins und machte sich auf den Weg in sein Büro. Die Computerspezialistin blickte ihm sorgvoll nach. Dann ließ sie sich seine Worte noch mal durch den Kopf gehen: ‚...den dieser Fall nervlich ans Ende seiner Kräfte treibt.’ Ja, er hatte Recht. Es würde wahrscheinlich soweit kommen. Armer Andre! Mit den Gedanken bei ihrem Kollegen merkte sie gar nicht, dass der Kaffee inzwischen fast schon kalt geworden war.
 
Andre Dumont stürmte förmlich zum Faxgerät in seinem Bürozimmer. Sieben Seiten lagen auf dessen Ablage. Der Inspektor nahm sie voller Neugier mit einem Griff und setzte sich auf den Bürosessel. Er nahm sich den ersten Zettel und fing an den Inhalt schnell zu überfliegen.
 

Polizeirevier Dallas, Texas

  

  

Akte 21368/85                                                                                              16. November 2000

  
Name: Paul Sylka
Nationalität: US-Staatsbürger
Geboren: 23. September 1967 in Dallas, Texas
Gestorben: 13. November 2000 in Dallas, Texas
Todesursache: Brandopfer(siehe Akte 24536/72)
  
Lebenslauf:
  
Paul Sylka wurde am 23.09.1965 im City Hospital in Dallas, Texas geboren. Er wuchs in einer Handwerksfamilie auf. Sein Vater Dan besaß eine eigene Tischlerei, bis er aufgrund von Herzanfällen 1995 in Frühpension gehen musste. Er starb am 03.05.1999 auf Grund eines weiteren schweren Schlaganfalls. Paul Sylka war ab diesem Tag elternlos, da auch seine Mutter Jessica zwei Monate nach seinem einundzwanzigsten Geburtstag, am 13. 11. 1987,  bei einem Autounfall ums Leben kam. Ab dieser Zeit entwickelte P. Sylka erstmals große Aggressionsanfälle gegenüber seiner Mitmenschen. Er musste seine Arbeit in einem Fotogeschäft aufgeben, da er psychisch überfordert war. Er war sehr gereizt und verschlossen.
  
Plötzlich stoppte Dumont. Er las die letzten Zeilen noch einmal durch und sein Blick erstarrte. Paul Sylkas Todestag war auf den Tag genau dreizehn Jahre später als der tödliche Unfall seiner Mutter...13. 11.2000, 13.11.1987...das konnte doch kein Zufall sein. Die Beamten mussten diese Gemeinsamkeit übersehen oder kein Interesse gezeigt haben. Doch dem Inspektor brannten schon wieder alle Gehirnzellen. Dieser Sylka gab ihm immer mehr Rätsel auf. Nach einem tiefen Durchatmen las er weiter.
 
Darum kam er ab Jänner 1988 in die psychiatrische Behandlung bei Dr. Steve Conroy. In unregelmäßigen Abständen, meist nach Konflikten mit dem weiblichen Geschlecht oder mit dem Gesetz, suchte Sylka immer wieder seine Praxis auf. Mit Hilfe von Dr. Conroy fand er zunächst Arbeit in einem Fachgeschäft für Computer-Hardware & Software. Doch mit dem Tod seines Vaters wurden die gezähmten Aggressionen wieder aktiv und Paul Sylka wurde immer unberechenbarer. Er blieb jetzt dauerhaft in Dr. Conroys Behandlung, bis diese mit Juni 2000 beendet wurde, da Sylka ab diesem Zeitpunkt wieder arbeitsfähig und für seine Mitmenschen keine Gefahr zu sein schien. Er fand einen kleinen Job in einer Autoherstellungsfabrik, bei der er bis zu seinem Tod am 13.11.2000 arbeitete. Er wurde eines von fünf Opfern bei einem verheerenden Brand im Gebäude.
Seine Leiche wurde am Zentralfriedhof in Dallas begraben.
  
Delikte:
  
17.11.1987: 
Paul Sylka bricht beim Begräbnis seiner Mutter zusammen. Als ihn sein Vater zum Hausarzt bringt, fängt er wie wild um sich zu schlagen an und verletzt die Sprechstundengehilfin im Gesicht. Sie trägt bis heute eine kleine Narbe an der Stirn. Sylka wird vom Opfer angezeigt und zu einem Schmerzensgeld von 3.500 Dollar verklagt.
  
4.12.1987:
P. Sylka fängt an der U-Bahn-Station eine Schlägerei an, bei der ein unschuldiger Mann leicht verletzt wird. Sylka verbringt eine Nacht im Polizeirevier und wird dann wieder auf freien Fuß gesetzt.
  
30.04.1993:
P. Sylka belästigt eine junge Frau in einem Restaurant, wird handgreiflich. Der Freund der Dame stößt dazwischen und beginnt mit ihm eine kleine Rauferei. Als die Polizei kommt, versucht Sylka zu flüchten, doch die Beamten können ihn rechtzeitig fassen. Da die Frau von einer Anzeige absieht, kann er nicht festgehalten werden.
  
23.06.1996:
Paul Sylka stiehlt zwei Pornomagazine in einer Trafik. Er wird vom Trafikanten selbst gestellt, der die Polizei verständigt. Die nimmt ihn fest und gibt ihm eine Geldstrafe von 80 Dollar.
  
  
  
15.10.1997:
P. Sylka beschädigt Geschäftseigentum im Computershop, in dem er zu dieser Zeit angestellt ist. Obwohl es nicht bewiesen werden kann, behauptet ein Mitarbeiter, es war Absicht und gibt der Polizei zur Aussage, das Sylka aggressiv und leicht reizbar wäre. Nach einer Entschädigung von 850 Dollar wird die Anzeige dieses Angestellten zurückgezogen, da der Firmenleiter kein Aufsehen erregen wollte. Auf Grund von Dr. Conroys Überredungskunst behält Sylka die Arbeit, wird aber ins Lager versetzt.
  
09.05.1999:
Bei der Beisetzung seines Vaters bekommt Sylka einen von seinen nicht steuerbaren Anfällen und bedroht einige der wenigen Begräbnisbesucher. Vor dem Friedhof legt er sich mit einem ehemaligen Freund seines Vaters an und schlägt ihn zu Boden. Der Mann trägt zwei Rippenbrüche und Prellungen am Oberkörper und im Genitalbereich davon. Sylka wird angezeigt, wird aber zum wiederholten Male auf freien Fuß gesetzt, da er das Schmerzensgeld in Höhe von 3.300 Dollar zahlen kann und noch immer unter Behandlung steht.
  
20.07.1999:
P. Sylka belästigt eine Schülerin auf dem Nachhauseweg. Er greift sie an intimen Stellen an und bedroht sie mit schlimmen Folgen, wenn sie die Polizei einschalten würde. Das Mädchen bleibt tagelang stumm, doch bricht sie dann in einem Weinanfall alle Versprechen an Sylka. Er kann jedoch nicht verhaftet werden, weil erstens zu wenig Beweise für die Schuld von Sylka vorliegen, und zweitens, weil er von Dr. Conroy von der Psychiatrischen Heilanstalt als ‚unzurechnungsfähig’ beurteilt wird und außerdem momentan in einer schweren Behandlungsphase wäre.
  
13.11.2000:
Es gibt einen schweren Brand in der Autoherstellungsfirma, in der Sylka arbeitet. Bei dem Feuer sterben fünf Mitarbeiter, unter ihnen Sylka selbst. Obwohl es der Firmenleiter nicht beweisen kann, wird gemunkelt, dass Sylka selbst diesen Brand gelegt hat. Er fiel einige Male wegen Sticheleien an seinen Kollegen auf. Seine verkohlte Leiche wurde vier Tage später am Zentralfriedhof von Dallas begraben.
  
Nachdem Andre Dumont die ersten Seiten zu Ende gelesen hat, lehnte er sich zunächst in seinen Sessel zurück und durchdachte alle gerade aufgenommenen Informationen. Sylka war zweifellos ein Mann mit einer gestörten Psyche gewesen. Der Tod seiner Eltern war ein Mitgrund, doch Dumont hatte das Gefühl, ob nicht doch etwas anderes dahinter stecken könnte. Er nahm noch mal die durchgelesenen Zettel in die Hand und überflog den Inhalt noch einmal. Sieben Mal hatte Sylka mit der Polizei zu tun, darunter zweimal wegen sexueller Belästigung, dreimal wegen Körperverletzung und je einmal wegen Diebstahls und absichtlicher Beschädigung von Verkaufswaren. Bei allen Punkten kam die Aggressivität, die Unberechenbarkeit von Paul Sylka zu Tage. Was fand in seinem Kopf statt? Welche Gedanken spukten ihm darin herum? Dumont dachte angestrengt nach. Er versuchte sich ein wenig in die Psyche von ihm hineinzusehen, doch es schien ihm nicht zu gelingen. Am besten wäre es sicher, weiterzulesen. Vielleicht konnten die kommenden Seiten ein wenig das erklären, was in Sylka vorging. Darum nahm er die nächsten Seiten des Faxes zur Hand und begann die Mitschriften von Dr. Steve Conroy zu untersuchen.
 
Psychiatrische Heilanstalt Dallas 
Hunther Street 64
US, Dallas, Texas
  
Name des Patienten: Paul SYLKA (*geboren 23.09.67)
Beginn der Behandlung: 09.01.1988
Vorläufiges Ende der Behandlung: 17.07.2000
  
‚Vorläufiges Ende der Behandlung’, das klang für Dumont ein wenig makaber wegen der Tatsache, dass der Patient ja schon unter der Erde lag(oder legen müsste).
 
Behandelnder Arzt: Dr. Steve Gerome CONROY
  
  
Zusammenfassung der grundlegenden Meinung des behandelnden Arztes über den Zustand des Patienten:
  
Paul Sylka kam das erste Mal Anfang Jänner 1988 in meine Praxis. Er machte einen unruhigen, aufgebrachten Eindruck. Als ich ihn auf seine Mutter ansprechen wollte, wurde seine Stimme sehr laut und ungehalten. Doch nach knapp einem Monat Behandlung wurde er zugänglicher, ließ die Schutzmauer, die er um sich aufgebaut hatte, fallen und fing an, mit mir in diszipliniertem Maße zu kommunizieren an, nur das Thema um seine Mutter durfte ich nie anschneiden, da er sonst seine Schutzmauer wieder um sich aufreihte. Sein Vater erzählte mir einige Male, dass Paul Sylka auch zuhause kaum etwas sprach beziehungsweise in abnormalem Zustand war. Ich beließ es damit, den Patienten nur noch über Themen zu befragen, über die er mit mir sprechen wollte, besser gesagt, über die er mit sich sprechen ließ. Er war schon zu Beginn der Behandlung einer der schwersten Patienten, die ich je behandelt hatte. Dann aber, eines Tages, als er wieder zur Therapie zu mir kam, schaffte ich es erstmals, ein wenig in seinen Kopf, in seine Gedanken zu blicken. Zuerst saß er nur so da, sagte kein Wort, doch nach ungefähr zehn Minuten brach er sein Schweigen. ‚Sie hat mich verlassen, sie hat mich einfach allein gelassen.’ Auf meine Frage, wen er denn damit wohl meine, zuckte er zusammen und redete erneut kein Wort. Ich wusste, ich musste das Gesprächsthema gleich wieder ändern, sonst wäre ich an diesem Tag wohl nicht mehr an ihn rangekommen. Aber als ich ihn auf etwas anderes ansprechen wollte, sagte er mit trauriger, leerer Stimme ihren Namen. Den Namen des Mädchens, das er liebte. Den Namen des Mädchens, das ihm das Herz gebrochen hatte. Sie hieß Janette. Wie sich in den kommenden zwei Stunden herausstellen sollte, war sie seine erste richtige Liebe, er hatte sie einige Wochen zuvor kennen gelernt. Zunächst fühlte sie sich bei ihm geborgen, sie empfand anscheinend einiges für ihn. Doch dann, einen Tag vor dieser Aussprache, hatte sie ihn verlassen. Aus welchem Grund, wollte Paul Sylka mir nicht sagen, doch ich habe den Verdacht, das seine Anfälle, seine auf irgendeine Art unheimliche Persönlichkeit, auch seiner Liebe oder Rose, wie er sie nannte, Angst eingeflößt hatte. Das könnte wirklich der Grund für die Trennung gewesen sein. In den kommenden Wochen hatte ich nur damit zu tun, Sylka zu überzeugen, dass es noch mehr Frauen auf der Welt gab als Janette, doch es schien, als würden meine Ratschläge immer an seiner wieder um ihn aufgereihten Schutzmauer zerschmettern, bevor sie auch nur in Reichweite des Empfängers kam. Er erzählte mir davon, dass sie zunächst ihn tröstete, weil sie ihm leid tat, weil er so depressiv war. Und sie musste sich auf irgendeine Weise von ihm angezogen gefühlt haben, obwohl Sylka ehrlich gesagt, keine Schönheit war und auch keine Spur von Attraktivität ausstrahlte. Aber trotzdem, es scheint, als hätte er eine besondere Art von Charme gehabt, die Frauen anziehen. Und doch wollte er nur was von Janette wissen. Nur sie wollte er. Er begehrte sie förmlich. Und nach seinen Beschreibungen nach muss sie wirklich eine echte Schönheit gewesen sein. Seine Rose wurde jedenfalls zum Hauptgesprächsthema der folgenden Wochen. Immer, wenn ich einmal auf ein anderes Themengebiet kommen wollte, wehrte er ab und fing einfach wieder von ihr zu erzählen an, nicht mehr auf meine Stimme oder auf irgendwelche sonstige Geräusche achtend. Er befand sich in seiner eigenen Traumwelt, in der er noch immer mit seiner Janette zusammen war, glücklich, vereint. Paul Sylka war besessen von ihr. Er wollte sie besitzen. Er begehrte sie, ihren Charakter, ihren Körper, ihre Schönheit. In den darauf folgenden Wochen war er anfällig, Frauen, die Janette ähnlich sahen, zu belästigen. Er hatte aus diesem Grund auch einige Male Schwierigkeiten mit der Polizei. Nur durch meine Überzeugungskraft, schaffte ich es, den Patienten von der ihm bevorstehenden Haft zu bewahren. Aber ich bestand dafür darauf, dass Sylka in meine Klinik einzog, damit ich noch mehr über ihn erfahren konnte, auch wenn er meistens nur auf seine große Liebe anzusprechen war. Was mich wunderte, war, dass Sylka kein einziges Mal über den Tod seines Vaters sprach, ich habe das Gefühl, dass seine Psyche schon soweit verworren war, dass er nichts mehr rund um ihn erlebte. Er versteckte sich immer mehr in seiner Traumwelt, wollte ungestört sein, nur an seine Rose denken. Als sich sein Zustand binnen Monate wieder um einiges besserte, wollte ich ihm eine weitere Chance geben und  suchte ihm einen kleinen Job in einer Autoherstellungsfabrik. Ich hoffte, dass er die Sache diesmal disziplinierter anstellte als 1997, als Sylka durch meine Mithilfe in ein Computergeschäft eingestellt wurde. Dort hatte er einige Aggressionsanfälle und zerstörte teures Geschäftsinventar. Aber es schien immer besser zu werden. Wie ich erfuhr, freundete er sich mit einem Arbeitskollegen an, unter dem Gesichtspunkt gesehen, dass er die letzten Jahre überhaupt nie welche Freunde hatte, außer seine Liebe Janette, war diese Folge für mich mehr als nur ein positives Zeichen. Vielleicht hätte er ein neues Leben begonnen, auf jeden Fall kein normales, doch ein Leben. Wenn nicht dann dieser schreckliche Brand in der Fabrik gewesen wäre. Es wird behauptet, dass Sylka selbst das Feuer gelegt habe, doch dieser Aussage kann ich nichts abgewinnen, da Sylkas Aggressionsanfälle immer geringer geworden sind und er sich auch wieder viel zugänglicher und offener gezeigt hat. Auch wenn er ein wirklich seltsamer Kauz gewesen ist, einen Brand zu verursachen, das habe ich ihm zuletzt nicht mehr zugetraut.
Für mich war Paul Sylka ein Patient, an den ich sehr oft zurückdenken muss. Er bleibt für mich ein ewiges Rätsel. Trotz aller Bemühungen konnte ich nie feststellen, wer er wirklich war.
  
Dr. Steve Genome Conroy
  
Darunter war noch gedruckt:
 
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Wir werden ihre Fragen mit großer Diskretion behandeln.
  
Dumont richtete sich auf. Er legte die Zettel auf den Bürotisch. Sylka war ein echt kranker, von Frauen besessener Psychopath gewesen. Eigentlich ein eindeutiges Indiz dafür, dass er für den Mord an Susan Thompson verantwortlich war. Wenn er nicht tot wäre... Dumont fuhr sich mit seinen Zeigefingern an seine Schläfen und massierte sie. Er war müde, müde wegen all den Gedanken, die er sich zerbrochen hatte. Für ihn sollte alles logisch sein, es war auch logisch. Paul Sylkas Spuren wurden auf der Leiche des Mädchens gefunden, er  war auch schon einige Male an Frauen handgreiflich und... er begehrte Frauen. Und noch etwas hatte Dumont erkannt: Sylka nannte seine Liebe immer ‚meine Rose’...genauso wie der Mörder von Susan in den Mails, die er ihr geschrieben hatte. Das würde auch die verwelkte Rose bei der Leiche erklären. Doch es gab ein Indiz, an welchem der Inspektor zerbrach: Paul Sylka war tot. Lag seit einem halben Jahr unter der Erde von Texas. Andre Dumont nahm den letzten Zettel zur Hand. Es war der Bericht von der Feuerwehr Dallas über den Brand in der Autoherstellungsfabrik mit der Aktennummer 24536/72. Der Ort, an dem der Hauptverdächtige im Mordfall Thompson das Zeitliche gesegnet hat. Auf dem Zettel fanden sich kaum weitere Hinweise. Es war ein normaler Unfall gewesen, nichts wies auf Brandstiftung hin, doch trotzdem, die genaue Brandursache konnten sie bis heute nicht feststellen. Die Feuerwehr nahm an, dass eine Maschine plötzlich überladen und explodiert war. Die Folge war, dass zehn Personen von der Außenwelt abgekapselt waren. Ein Flammeninferno trennte den Weg in die Freiheit. Doch es konnten noch ein paar Leute gerettet werden, außer fünf Angestellten, darunter Paul Sylka. Sie kamen im Feuer um. Dumont wusste, was er als nächstes machen wollte. Zunächst würde er Diana Hawkins über die neuen Hinweise informieren, dann würde er sich auf die Suche nach Sylkas großer Liebe machen. Janette hieß sie. Sie könnte Dumont vielleicht noch einiges zu der Psyche von ihrem Ex-Liebhaber erzählen. Und warum sie ihn verlassen hatte. Aber die Antwort auf diese Frage glaubte Dumont selbst zu wissen. Doch wie konnte er diese Janette finden? Vielleicht würde ihm dieser Dr. Conroy helfen, Sylkas Seelenklempner. Ihm hatte dieser Irre ja das Aussehen seiner ‚Rose’ beschrieben. Das könnte Andre Dumont weiterhelfen.
 
„Psychiatrische Anstalt Dallas, guten Tag. Hier spricht Dr. Steve Conroy.“ „Ah, Dr. Conroy, ich heiße Andre Dumont und bin von der Mordkommission in Arlington und möchte Ihnen einige Fragen zu einem ehemaligen Patienten von Ihnen stellen.“ „Sicher, um wen geht’s denn?“ „Um Paul Sylka.“ Der Inspektor musste einige Sekunden auf eine Antwort des Psychiaters warten. „...ah...Paul Sylka...der ist schon seit einiger Zeit tot...was wollen Sie denn über ihn wissen?“ „Sylka sprach in ihren Therapiestunden doch lange Zeit mit Ihnen über seine Liebe, eine Frau namens Janette. Könnten Sie mir vielleicht sagen, wie er sie Ihnen beschrieben hat?“ Dumont musste wieder einen kurzen Augenblick warten, doch dann begann der Doktor zu erzählen. „Janette war seiner Beschreibung nach groß, hatte lange blonde Haare, schöne große blaue Augen, ein verführerisches Muttermal auf der linken Wange, eine üppige Oberweite und war sehr humorvoll. Bis sie ihn verlassen hatte. Das brach Sylka das Herz. Aber warum bloß möchten sie das alles wissen, Mr. Dumont?“ „Ich möchte mehr über die Gedanken von diesem Verrückten erfahren...“ zischte Dumont hervor. Diese Aussage tat ihm sogleich wieder leid, da es bei Conroy eine wütende Resonanz hervorrief. „Paul Sylka war nicht verrückt, nur missverstanden und ausgenützt. Alle, die ihm etwas bedeutet hatten, verließen ihn. Erst der Tod seiner Mutter, dann seine Rose. So nannte er sie immer. Aber er war nicht verrückt. Sie haben überhaupt keine Ahnung, was in seinem Kopf vorging.“ „...und wissen sie, was in seinem Kopf vorging?“ kam die konternde Frage vom Inspektor. „Nein,...auch ich konnte nie wirklich zu ihm vordringen, aber für mich war er ein Patient,...nein, ein Mensch, für den auf dieser Welt kein Platz zu sein schien. Erst sein Tod konnte alle seine Feinde befriedigen, alle, für die er auch nur der Verrückte von nebenan gewesen war...“ Stille. Dann redete Conroy weiter. „...aber ich hätte auch gerne gewusst, was wirklich in ihm vorging...nur eines weiß ich, er war besessen von den Personen, die ihn respektiert haben, die ihn geliebt haben...das war zunächst seine Mutter und dann Janette. Ansonsten wollte er nichts Böses anrichten. Diese Anfälle, die er hatte, er selbst konnte sie nicht steuern...lassen Sie Paul in Frieden ruhen. Diese Ruhe hat er sich verdient...“ Dumont saß an seinem Schreibtisch und war froh, als er schließlich das Gespräch mit Steve Conroy beenden konnte. Gereizt legte er den Hörer des Telefons auf die Gabel und schrieb sich die Aussehensmerkmale von Sylkas Liebe auf seinen Notizblock auf. Trotz denen würde es verdammt schwer werden, diese Janette zu finden. Aber sie war eine weitere heiße Spur in diesem verwirrenden Fall. Und man musste jeder Spur nachgehen.
                                                       
Diana Hawkins surfte durchs Internet, auf verschiedenste Sites von der Polizei Dallas, in andere , auf deren es über Mordrituale ging. Die verwelkte Rose bei der Leiche von Susan Thompson. Was hatte sie zu bedeuten? Angestrengt suchte sie nach ähnlichen Vorkommnissen bei anderen Morden. Es wurden schon oft Leichen mit Gegenständen gefunden, meist waren das Sektenmorde oder ähnliches. Seufzend gab sie die nächste Adresse ein, um weiter zu suchen. Wenn sie schon nicht zusammen mit Andre Dumont auf Mördersuche gehen konnte, wollte sie ihm wenigstens mit dieser Art von Nachforschungen helfen. Doch sie hatte keinen Erfolg auf der Suche nach weiteren Hinweisen in diesem Mordfall. Als sie schon resignierend die Internet-Verbindung unterbrechen wollte, sagte ihr ein Gefühl, dass sie sich noch in den lokalen Chat von Arlington, der ‚Texas Chatworld’, in dem ja auch Susan Thompson gechattet hatte, reinklicken sollte. Zunächst fand sie auch im Chatraum nichts besonderes, doch dann blieb ihr Blick auf einem Wort hängen. Auf der Liste der anwesenden Chatter leuchtete auch folgender Nickname auf: ‚Angel021’ ...

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.10.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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