Irmgard Schöndorf Welch

Aus Lovetown: Memories

 


 
 

Lovetown Memories

Gegen drei Uhr morgens kommt Lena heim, hellwach wie immer. Sie hat getrunken. Es gibt Zeiten, da trinkt sie nächtelang nur Tom Collins. Dann wieder ein paar Wochen nichts als Cognac-Cola. Lena arbeitet in der Colorado Bar. Sie raucht Salem Filters. In letzter Zeit solche mit Menthol. Weil sie oft erkältet ist. Mentholzigaretten seien Halsmedizin, sagen die amerikanischen Freunde. Gut gegen Husten, Schnupfen, Heiserkeit. Andere meinen, die wären noch gefährlicher als herkömmliche Glimmstengel, bösartig setze sich das Menthol in den Bronchien fest ... das reinste Gift! G.I s bringen Lena Zigaretten aus der PX mit. Stangenweise. Geschenke. Sie raucht viel.

Der Alkohol, das Nikotin machen sie lebendiger, wacher, glaubt sie. Ach was ... sie braucht das einfach, es gehört dazu.

Wenn sie einen gewissen Pegel Alkohol und Nikotin im Blut hat, geht es ihr gut.

Sechsmarksechzig kostet den Gast so ein Getränk, wenn er ein Animiermädchen an den Tisch einlädt. Sie selbst hat zwei Mark daran, sechzig Pfennig bekommt die Bedienung, vier Mark der Boss. Das Jahr ist 1964.

Mit den Drinks für die hauseigenen Damen macht Max, der Barmann, nicht viel daher. Die Mixerei im Shaker - mit aufwendigen Zutaten, wie sich das eigentlich gehört - fängt er gar nicht erst an. Wie könnte er auch? Er muss viel zu viele dieser 'Cocktails' in viel zu kurzen Abständen herausgeben, wenn der Laden voll ist. Und der Laden ist meistens voll. Tom Collins ist, ebenso wie Cognac-Cola das beliebteste Getränk der angestellten Frauen und geht bei Max ruck - zuck: gelbe Sinalco ins Glas, aus der Flasche ein paar Spritzer Wodka dazu, noch einen Eiswürfel und als luxuriösen Abschluss die unvermeidliche rosa Dosenkirsche auf ein farbiges Strohhälmchen gespickt und hinein ... fertig. Eigentlich müsste 'Tom Collins' aus Gin bereitet werden, aber Wodka verursacht keine Alkoholfahne  und das passt den Mädchen und dem Boss gut ... wo käme man hin, wenn die  Frauen herumliefen mit einem Atem wie alte Säufer. Wo bliebe da der Glamour?

Na ja, liebevoll gemixt oder gar wohlschmeckend sind die Drinks nicht, die Max für die Mädchen herstellt. Wenn aber ein Gast eine Dame von außerhalb mitbringt, und die sich etwas Stilvolles wünscht - von der Karte bitteschön - dann gibt sich Max alle Mühe. ‚Bloody Marys‘, ‚White Ladies‘, ‚Alexanders‘, alle bekommt er meisterhaft hin, wenn er nur will. Dafür hat er schon lokale Berühmtheit erlangt.

"Gieß in meinen Drink ein bisschen was rein, Maxl, sei nicht so knauserig", sagen die angestellten Mädchen. Besonders wenn es früh am Abend ist. Da wollen sie noch  Alkohol in ihre Getränke, so zum Auftauen, zum Lustigwerden. Nach Mitternacht geht der Barkeeper extrem geizig mit der Cognac- und Wodkaflasche um. Zum gesundheitlichen Wohl der schon angeheiterten Damen. Am Schluss bekommen sie fast nur noch Brause. Je später der Abend, je weniger nüchtern der spendierende Gast, desto schöner kommt ihm die Tischdame vor, desto weniger interessiert ihn, was sie da schlürft. Er zahlt.

Ist viel Betrieb, also an Gästen die freie Auswahl, dann geben Lena und ihre Kolleginnen sich mit einfachen Drinks nicht mehr zufrieden. Jetzt müssen es doppelte sein. Die kosten dreizehnmarkzwanzig und das Glas ist nun kein einfacher Kelch mehr, sondern eine schön geformte, breite Schale auf zierlichem Stengel.  Aufgabe der Barweibchen ist es, möglichst viele Männer dazu zu bringen, ihnen möglichst viele Drinks auszugeben. Damit das Geschäft blüht. Und wenn es den Gästen zu wohl wird, gehen die Esel aufs Eis. Dann wird Sekt bestellt.

So im Vorbeigehen  treiben die Mädchen hüftenschwingend bei den amerikanischen Soldaten Münzen auf: "Do you have a D-Mark, darling?"

Die D-Mark werfen sie in die bunt schillernde Musicbox, die in der Ecke prangt. Lichtversprühend  leuchtet magisch der wunderbare Apparat, in dessen Innerem sich geheimnisvolle Greifarme und Hebel in Bewegung setzen.

Die größten Hits jener Zeit zaubert man sich so in den Raum. Mit Nikotin– und Bierdunst, Schwaden aus Parfüm und Haarspray mischt sich der aufrüttelnde Klang von Elvis, den Beatles, auch der Nashville-Sound des markigen Johnny Cash: ‘Cause you are mine, I walk the Line ... oder: a train, they called the City of New Orleans. - Wie schön!

Und dann die  Sehnsuchtsklagen des ewig heimatlosen Freddy Quinn  von Wolken, Wind und Wogen, wo die Gitarre und das Meer unter fremden Sternen das eine oder andere - wieder einmal unglücklich verliebte, vom Weltschmerz gepackte und leicht besoffene - Barmädchen zum Weinen bringt ... oh, brennend heißer Wüstensand!

Die Musik vermittelt den Mädchen ein Gefühl von Heimat, im wochenlangen Immer-und-immer-wieder-Hören der zehn, fünfzehn  gerade beliebtesten Schlager-Favoriten eine Art Sicherheit und Kontinuität. Es ist, als ob die Atmosphäre der Bars auch die american soldiers nicht mehr losließe. Viele scheinen jede freie Minute hier zu verbringen:

I'm just a lonely boy,
lonely and blue.
I need a love
but nothing to do.
I need someone to love
someone to kiss ...

http://www.youtube.com/watch?v=hL5Kc6xffpc

Die Songs, die Melodien, die der farbenflimmernden Wurlitzer entströmen, geben dem Leben in der Nacht  Harmonie und Rhythmus. Die Musik IST das Leben. Wenn Lena am Abend zur Arbeit kommt, fluten ihr die Songs schon von der anderen Straßenseite wie zur Begrüßung entgegen. Eine altgewohnte, warme Woge, die sie einschließt, umhüllt, herein zieht ins Lokal. Lena mag diese Atmosphäre aus warmem Kneipendunst, gedämpften Männerstimmen und dem Sound der Music. Tausendmal gehörte Klänge ... sie sind es ... sie verbreiten jenen Lovetown-Glanz, jene Wehmut, die noch Jahre später nachwirken wird. In jedem Lokal steht eine ähnlich lichtsprühende Juke-Box, Prunkstück des Raumes. Wenn man in die Nachbarkneipen kommt, die Luna- oder Chicago-Bar, tönen dort die gleichen Schlagerhits. Nebenan im nächsten Lokal ebenfalls. Und in der Ohio-Bar gegenüber auch. Es ist der Sound jener Jahre.

 She loves you yeah yeah yeah 

I know she loves you
And you know you should be glad
She loves you, yeah, yeah, yeah
With a love like that
you know you should be glad

http://www.youtube.com/watch?v=wpNH8ThtwU8

oder:

There is a house in New Orleans ...
they call the "rising sun"..
It's been the ruin of many a poor boy,
and me oh God I' m one.

My mother was a tailor,
she sew my new Blue Jeans,
my father was a gambling man
down in New Orleans.

Und dann das furiose Finale:

There is a house in New Orleans
House of the raising sun ...
I'm going back to end my life
in the house of the rising sun
in the house of the rising sun..."

Zum Heulen schön.

Die Frauen, die im Colorado arbeiten, sind elegant gekleidet, nicht rotlichthaft heruntergestrippt. Hier herrscht keine Fleischbeschau, nein, im kleinen Schwarzen oder Cocktailkleid kommen die Mädchen. Nur das Decolleté darf tief sein. Und jeden Abend ist man duftend und frisch vom Friseur. Und die Augen: Da gibt es neuerdings eine Maskara - die beste bekommt man in der PX, Verehrer bringen sie einem mit - es sind diese Härchen darin, damit kann man die Wimpern so dicht machen, wie man will und um Zentimeter verlängern. Aber nicht nur in gebräuchlichem Schwarz wird diese Maskara hergestellt, nein smaragdgrün, nachtblau,violett ...  Wie großäugige Rehe sitzen die Mädchen da. Gucken unschuldig. Nicht schrill, nein ladylike wollen sie sein. Sie machen ‚etwas‘ aus sich. WAS? Jeden Abend aufs Neue. Man weiß nie, wohin einen die Nacht noch führt. Denn Lena und ihre Kolleginnen arbeiten nicht nur im Colorado. Nathan, der Boss, sendet seine Animierfrauen auch in andere Bars. Dort, wo gerade Not am Mann ist. Denn ihm gehört, wie auch den meisten seiner Landsleute und Konkurrenten, nicht nur ein Lokal. Nathan zum Beispiel besitzt deren fünf, darunter einen nobel gestylten Schuppen mit dem Namen 'Le Chat noir'. Das Chat noir ist Nathans Flaggschiff sozusagen, die Erfüllung seiner Gentleman-Träume. Dort gibt es keine G.Is, auch keine Musikbox zum Geld-Hineinwerfen. Sondern ‚edle‘ Gäste verkehren da und eine unsichtbare, sündteure Anlage sendet auserwähltes Musikgut dezent und klangvoll bis in den letzten Plüschwinkel: französische Chansons von der Piaf oder Greco gesungen, deutschsprachige von Hildegard Knef, Evelin Künneke, Helen Vita.

http://www.youtube.com/watch?v=F1E4eGaCRto

Die Regeln, die die Tischdamen befolgen, sind hier wie in den billigeren Lokalen die gleichen: locker, frivol sollen sie den Besuchern den Abend versüßen, doch bis zu einem gewissen Grad nur.  Es heißt anständig bleiben. Die Hauptsache: sie müssen - stets ladylike - auf Kosten der Gäste ... na ja ... für Umsatz sorgen. Und es geht sanft zu. Dezent und vornehm.

'Le Chat noir' ist einer der Vorzeigeplätze im Nachtleben der Stadt. Ausgewähltes, gedämpftes Licht verschönt die Gesichter.  Barmann und Kellner sind perfekt gestylt im Frack, während die Absätze der eleganten Dämchen bei jedem Schritt tief in nachtblauem Teppichboden versinken.

Am Heimeligsten fühlt Lena sich jedoch in der Colorado-Bar. Auch, wenn da Amisoldaten manchmal laut herumgröhlen und den Beat aufdrehen, dass die Wände wackeln. Das Colorado ist die erste Kneipe gewesen, in die es Lena bei ihrer Ankunft in Lovetown verschlagen hat. Sie war durch die dämmernden, herbstabendlichen Straßen gelaufen und hatte in den lässig mit DC-Fix beklebten, oder auch mit schwerem Samt verhangenen Fenstern der Nachtlokale - die früher einmal normale Geschäftsräume gewesen waren, überall neben  den Leuchtreklamen auch Schilder gesehen. - Bedienung gesucht - stand darauf. Mehr nicht. Da war sie einfach in eines dieser Etablissements hineingegangen und nach drei Minuten hatte sie den Job gehabt.

Wenn die einsamen G.I.s in den Bars in ein ‚Fräulein‘ verliebt sind, kaufen sie ihm Drinks, Drinks, um es möglichst lange am Tisch festzuhalten und sich seine Gesellschaft zu sichern. Sie kaufen solange Drinks, bis ihr Sold alle ist und sie wissen nicht, ob das Mädchen wirklich SIE mag oder nur dieses Gesöff meint ... mit dem sie ihr Geld verdient. Sie wissen nicht, ob es sich bei dem irrlichternden Geschöpf um eine Hure oder eine Unschuld vom Land handelt. Denn die Barschönen Lovetowns werden von den Bossen von weither herangebracht: kommen aus Dörfern auch, aus Bayern, den Tiroler Alpen, Frankreich, Holland, der Schweiz.

Auf Zeitungsannoncen hin haben sie sich gemeldet, sammeln sich in Hamburg, München, Wien, Genf. Dort werden sie abgeholt. Viele dieser Aufgelesenen - junge Mädchen noch, aber schon ziemlich vom Leben gebeutelt - sehen oft doch so klar und frischgewaschen aus wie das Nachbargirl der amerikanischen Boys zuhause und sind - was Weltgewandtheit betrifft - oft naiver als die Hillbilly-Töchter aus den westlichsten Hügeln von West-Virginia.

Andere geben sich zwielichtig und verrucht. Mit hungrigen Augen, die teuer bestrumpften Beine lässig ins Blickfeld gerückt, auf dem Barhocker, nie ohne Drink, so kauderwelschen sie in drolligem Englisch mit ihren Verehrern, flöten aus nikotinrauhen Kehlen Nichtigkeiten.

Wärme, Vertrauen möchten die amerikanischen Boys sich mit ihren Drinks einhandeln. Eine richtige Freundin. Eine zum Ausgehen. Zum Vorzeigen. Eine zum Lieben ... zum später-mit-in-die-Heimat-nehmen vielleicht sogar.

Sie laden die Auserwählte zum Dinner ein. Oder aufs Deutsch-Amerikanische Freundschaftsfest. Oder zum Movie on Base. Zum Bowling. In den NCO- oder Officers Club, wenn sie schon ARRIVIERTE Soldaten sind.

Die Mädchen sagen interessiert "ja." Meinen fast immer: "nein". Ach, sie haben so viele Angebote. Und dabei ist beinahe eine jede schon an den EINEN vergeben, gebunden, den Besonderen, den Chaoten, ob er nun Deutscher ist oder Ami ... an ihn, der ihr Herz und Hirn besetzt hält und mit diesem EINEN hat sie schon mehr als genug unlösbare Probleme. Was sollen da die anderen? Die sind zum Reden, zum Neppgetränke-Ausgeben gut. Sehr großzügig kann ein junger U.S–Soldat auf Brautschau ohnehin nicht sein. Sein Sold ist begrenzt. Und: ‚No drink ... no company.‘ Da bleiben die Bosse eisern. Bezahlt einer kein Glas mehr, so muss die fleißige Biene augenblicklich aufstehen, zum nächsten Tisch wechseln und sich dort ihren Nektar erlächeln.

Die Fräuleins der Nacht sind die Lili-Marleens für die frisch angekommenen U.S. Soldaten. Begehrt, umschwärmt und bald auch - ihrer falschen Versprechungen wegen - mit Misstrauen beäugt.

Barbesitzer wie Nathan und seine Freunde legen Wert auf die Anständigkeit ihrer Etablissements. Nachtlokale sind es, keine Bordelle. Für diejenigen Mädchen, die noch neu in der Stadt sind und vorübergehend im Colorado wohnen, das heißt, in der Etage über der Bar, würde ein Mann auf dem Zimmer den Rausschmiss bedeuten. Unten im Lokal geht es nicht gerade klösterlich, doch keineswegs ‚sittenlos‘ zu. Abgebrühtere Weibsstücke, solche, die aus Hamburg St. Pauli oder aus Amsterdam herübergewechselt und Lasterhaftes gewohnt sind, die hier mit den Gästen sexuelle Übungen zu vollführen sich anschicken, werden von den Chefs höchstpersönlich vermahnt. Und beim zweiten solchen Versuch schon gefeuert. Nein, Gefummel unterhalb der Gürtellinie oder gar beischlafartiges Treiben ist in diesen Bars nicht geduldet. Was die Damen in ihrer Freizeit - dann bitte außerhalb - tun, ist den Bossen egal.

In den spartanischen Zimmern über den Bars wohnen also die neuen, frisch herbei geholten Mädchen gerade einmal so lang, bis sie eine normalere Bleibe finden. Aber die meisten Lovetown-Animiererinnen kommen lediglich zu den Arbeitsstunden her, leben draußen in Stadt und Land bürgerliche Leben. Mit Haus und Hund, Mann und Kindern. Führen ein normales Frauenleben. Insofern man das ein normales Frauenleben nennen kann, wenn die Mutti im Morgengrauen mehr oder weniger geschafft und kaum mehr nüchtern bei ihren Lieben eintrudelt.

Fummelecken gibt es in G.I. Bars wie dem Colorado nicht. Der Raum ist simpel, weiträumig, beinahe kahl.  Kein Firlefanz, keine staubziehende Dekoration. Vom Eingang bis in den hintersten Winkel mit einem Blick zu erfassen. Ausgestaltet  im Bakelit- und Tütchenlampen-Look der Fünfziger Jahre. Abwaschbar, glänzend, einfach die Tische und Stühle. Nierenförmig die breite, hellbeige Bar in der Ecke, alles toll glänzend aus spiegelndem Kunststoff. Und in der Luft das mächtige Bassgedröhn des Beat, der Tag und Nacht aus der Jukebox bricht.

She loves you, yeah, yeah, yeah.
She loves you yeah, yeah, yeah..
With a love like that
you know you should be glad ....

http://www.youtube.com/watch?v=U1N04Jl02dA 

Aber auch:

Moulin des amours
Qui turne ses ailes
Moulin des amours
Rouge come mon coeur

http://www.youtube.com/watch?v=qmeIrOc5lGg

Jugend, hübsche Körper und die routinierte Koketterie der Tischdamen allein genügen nicht, um Gäste zu ‚Big Spendern‘ zu machen. Immerwährender Versprechungen von Seiten der Mädchen bedarf es auch.

Natürlich erwartet fast jeder Mann von der Gefährtin am Ende des Abends mehr als den flüchtigen Wangenkuss, wo er sie doch stundenlang reichlich mit Drinks oder sündteurem Sekt versorgt hat. Und die Süße darf dem Gast diese Hoffnung um Gottes Willen nicht rauben. Sie muss den Mann bei Lust und Laune halten, damit er nicht mit seinem Zaster in die Nachbarkneipe abwandert. Damit er HIER zecht und weiter für sie bestellt, damit er noch mehr trinkt, noch mehr bestellt und zahlt, ohne zu murren. So verspricht sie ihm eben ... nicht gerade das Blaue vom Himmel, aber doch ... Belohnung, Wärme, Hinneigung. Er weiß schon, was sie meint. Sie sagt zumindest nicht "nein" ... eher noch "vielleicht, vielleicht." Er glaubt ihr ... desto lieber glaubt er ihr, je mehr ihm der Alkohol zunehmend die Sinne benebelt.

Er darf ihr Händchen halten, es streicheln, beknabbern sogar. Die Knie betatschen darf er ihr auch nach der zweiten Flasche Sekt oder so ...

"Bis hierhin, nicht weiter",gibt sie dann verschämt zu verstehen und das kennt ja bald jeder, so ein kindliches Getue: "warte noch ein bisschen, my darling, was sollen sonst die Leute denken ... du, sei geduldig, lass uns noch eine Pulle Champagner .... du bist ja sooo ein toller Mann, such a big spender. Es ist ohnehin nicht mehr lang hin, wir schließen bald ... und ... aber dann!"

Aber dann! ...

Da glaubt er tatsächlich, sie wolle es auch, die Kleine. O, wie sie ihn schon die ganze Zeit über ständig ansieht ... die ist reif, die ist heiß wie die Sünde, die ist geil auf mich. Na warte, kleine Schlampe ...

*

Manches der Mädchen treibt es auf den Gipfel. Sie dreht dem ziemlich benebelten Gast am Ende noch ein, zwei Flaschen des wundersamen Champagners an. Die Flaschen werden nur gezahlt, aber nicht mehr geöffnet.

Denn: "die nehmen wir mit heim zu mir", meint sie lässig, "in ein paar Minuten ist hier ohnehin Schluss, ich geh nur noch schnell nebenan zum Abrechnen ... und dann ... freu dich schon mal und erwarte mich draußen, darling, gleich bei der Tür ..."

Ach ja ... a hustle here, a hustle there ... In der Regel ist der Mann immer der Gelackmeierte. Warum muss er auch so schwanzgesteuert sein? Die treulose Zaubermaus, unseriös, verlogen - hätte er sich ja denken können! - ist am Ende weg, löst sich wie durch Hexerei in Luft auf. Kolleginnen aber, vom lallenden Möchte-gern-Liebhaber ungeduldig nach dem verschwundenen Goldkind befragt, blinzeln ihn nur schalkhaft aus Schlafzimmeraugen an und er kann froh sein, wenn man ihn zuletzt noch gnädig für sein letztes Geld in eine Taxe Richtung Heimat verfrachtet, wo er dann die Botteln Champagner dem Fahrer schenken darf, damit ihm die liebe Frau Gemahlin nicht damit über den Schädel schlägt.

Auch Lena will möglichst viele Drinks ergattern. Sie hat weder den Witz, noch das erzählerische Talent, ein Gespräch über lange Zeit am Prickeln zu halten, das heißt, den Gast auf geistreiche Weise so zu faszinieren, dass er immer weiter zuhören oder diskutieren mag und dabei selbstvergessen Drink um Drink für sie springen lässt. Es gibt Weibsbilder, denen ein solches Kunststück gelingt und zwar ganz ohne Tuchfühlung oder schlüpfrige Versprechungen. Die ziehen mit Charme und Fabulierkraft die Männer so in ihren Bann, dass die es kaum gewahr werden, wie die Zeit vergeht, wie man die vollen Pullen rascher und rascher heranbringt und ein Hunderter nach dem anderen quasi im Geplauder der Schönen sich in Schaumwein auflöst, wobei ein Freier nicht einmal in die Lage kommt, die Hand der redegewandten Verführerin zu berühren, von sonstiger Annäherung ganz zu schweigen.

Nein, Lena hat, wie die meisten Frauen, kein solches Talent. Früher oder später landet sie in Ermangelung anderer Gesprächsthemen und vom Freier quasi dahin getrieben, doch auf der verbalen Sexschiene. Und dann müssen eigentlich  die falschen Versprechungen kommen, die Versprechungen  für den Rest der Nacht.

Lena verspricht nichts. Aber der Steg zwischen Wahrheit und Lüge ist nur schmal. Auch sie deutet leise an. Sie kann es sich nicht leisten, die Männer und ihre WIRKLICHEN Wünsche ganz zu ignorieren. Auch sie wird von Tag zu Tag besser im Jonglieren zwischen vorgespieltem Hingezogensein und wegflüchtender Zurückhaltung. Auch sie hat eine Palette von flittchenhaft leichtem Bargeplapper parat, gepaart mit kindlichem Gekicher - vor allem, wenn sie reichlich getrunken hat. Und dann spürt sie: das bin nicht ich. Am Anfang ihrer Animiermädchenkarriere hatte sie ehrliches Interesse für die Freier empfunden, selbst für die Simpelsten, Unattraktivsten. Hatte jedem aufmerksam zugehört. Sogar jetzt noch. Meistens. Noch immer ist sie das naive Mädchen. Zumindest  im Inneren. Nein, Konkretes verspricht sie nie. Und es fällt ihr verdammt schwer, die nötige Prise Blondinengetue einzuwerfen, wenn der Kunde an der Seriosität ihrer Versprechungen zu zweifeln beginnt. Blondinengetue nennt sie  dieses absolut hirnlose, mit hilflosem Lächeln servierte Nonsensstammeln, jenes sexy Gelispel und Geäuge, das Männer einhüllt wie eine Wolke aus duftender rosa Zuckerwatte, wie man es zum Beispiel von der Marilyn kennt, obwohl Marilyn in Wirklichkeit klug ist, weiß Lena. Süßes, wenn auch blödes Geschwätz also lässt das Herz der oft schon beim Hereinkommen angetrunkenen Freier so richtig aufglühen und es fällt auch Lena bald nicht mehr schwer, sie dazu zu bringen, noch das letzte, mitgebrachte Geld in Champagner umzusetzen. Und das macht dem Gast gar nichts aus, glaubt er doch, das niedliche Gänschen wartet nur darauf, nach Lokalschluss von ihm abgeschleppt und ins Bett gezerrt zu werden. Wie die meisten Barfrauen, auf die die Männer ihre One-Night-Stand-Hoffnung setzen, so ist auch  Lena kurz vor Zapfenstreich ... natürlich weg.

Beim Ausnehmen der Gäste steht sie also ihren abgebrühten Kolleginnen bald nicht mehr nach. Gewissensbisse hat sie sich   immer noch nicht ganz  abgewöhnt. Junge Amis   führt sie nie an der Nase herum. Sie macht sie nicht glauben, dass sie ihr Mädchen sein und mit ihnen ‚gehen‘ möchte. Sicher, sie lässt sich von ihnen den einen oder anderen Drink spendieren. Aber es bleibt im Rahmen. Sie nimmt junge GIs niemals aus.

Ältere, heftig trinkende Berufssoldaten knüpft sie sich vor, denn für die ist das ‚Besäufnis mit Weibern on Payday‘ ohnehin gute böse Tradition. Träumer sind die alten Haudegen keine. Die wissen, wo der Hase läuft. Und wie schnell die Püppchen nachher verschwunden sind. Und wie man sich mit dem guten Geld anderswo handfestere, intimere Freuden erkaufen könnte ... Sie kommen dennoch in die Bars. Monat für Monat. Und bringen ihre Dollars mit. Und spielen das Spiel. Wahrscheinlich auch, weil sie sich nicht gern allein besaufen.

Das Nicht-mit-den-Reizen-geizen und sich dennoch 'sauber' halten, ist für die Mädchen die Kunst im Bargeschäft.

Lovetown in seinen Glanzjahren quillt über von legendären, selbstbewussten Glücksritterinnen, die es zu Geld, Eigentumswohnungen, gar Häusern gebracht haben, aber auch von hilflosen, armen Seelchen, Heimkindern, die schon innen angeknackst hierhergekommen sind. Alle diese Frauen haben auf ihre Art gelernt, die simplen oder hochkomplizierten, meistens aber alkoholerhitzten, männlichen Gemüter zum Schwingen zu bringen. So erkämpfen sie sich mit viel Schaumschlägerei, mit Lachen und Lügen, ihre Drinks, ihren Lebensunterhalt. In Bordellen geht es sicherlich ehrbarer zu. Da kriegt der Besucher zumindest einen fassbaren Gegenwert für sein Geld.

"Kein Mensch zwingt die Blödmänner hierher" sagt Siggi, die Geschäftsführerin, "die Amis wissen eh nicht wohin mit den Dollars und die deutschen Beamtenärsche verdienen ihre Kohle ohnehin im Schlaf. Leicht verdientes Geld wird leicht ausgegeben. Warum sollen wir nicht auch etwas vom Kuchen abbekommen?"

*

Wenn Lena beim ersten Vogelgezwitscher durch die frühen, dämmrigen Straßen der Stadt nach Hause geht und sich, Schuhe in der Hand, die Treppen hinauf, in die Wohnung, dann in ihr Zimmer schleicht, ist sie wie eine gespannte Uhrfeder. Sie kann erst einmal nicht schlafen. Sie näht, repariert an Kleidungsstücken herum, an Kinderkleidung vor allem. Fängt an, aufzuräumen. Geht auf Zehenspitzen in die Küche. Räubert aus purem Heißhunger den Kühlschrank. Schmökert ein bisschen in der Morgenzeitung, die manchmal schon im Hausflur bereit liegt. Bis sie dann endlich, schwer wie ein Stein, auf ihrem Bett einschläft.

Später, beim Aufwachen ist sie meistens halb tot. Obwohl sie doch in der Bar stets auf ihre Gesundheit achtet und sich ihre Drinks statt mit Limo mit gesundem Sprudel verdünnen lässt. Es gibt Wochen, da ist sie so magenkrank, nicht einmal wässrigen Martini verträgt sie dann auf der Arbeit, von schärferen Sachen ganz zu schweigen.

Joe, ein langgedienter U.S.Sergeant, ein Stammgast, bringt sie auf einen tollen Gedanken. "Weißt du, dass die Asiatinnen in ähnlichen Etablissements von Korea bis Vietnam keinen Tropfen Alkohol, sondern ausschließlich Tee trinken und zwar für ebenso teures Geld. Jedem G.I ist das klar, jeder akzeptiert es. Noch nie was von Saigon-Tee gehört?"
"No, never!"

"Also die Butterflies dort begründen das mit ihrer Kultur, ihrer Religion. Mag ja sein. Ich persönlich glaube, sie sind einfach schlau, die haben noch ihr gesundes Körpergefühl. Sie wollen zwar auch Geld verdienen, aber doch nicht um den Preis einer ruinierten Gesundheit. Da seid ihr deutschen Frauen irgendwie zurückgeblieben", sagt Joe.
"Was würdest du machen, wenn mein Tom Collins, für den du gerade dreizehnmarkzwanzig berappt hast, Kamillentee wäre?" Lena lacht.
"Wär mir doch egal. I could care less."
*

"Bist jetzt ganz meschugge geworden, Prinzessin!" Max schüttelt den Kopf, als sie ihm den Vorschlag macht, ihr von jetzt an Tee zu servieren. Aber der Boss, Nathan, als er irgendwann in der Nacht mit seinem Gefolge vorbeischaut, ergreift Lenas Partei.
"Nu, soll sie’s doch probieren, was wird schon sein?

Lena kauft in der Apotheke eine Dose Magentee, pulverisierten. Den bereitet sie jeden Abend gleich nach ihrem Eintreffen in der Küche des Colorado mit heißem Wasser zu und füllt ihn in große Pepsiflaschen. Die Pepsiflaschen, mit besonderem Etikett versehen, verstaut  Siggi  dann im Kühlschrank. Der Tee ist braun wie Cola, riecht und schmeckt nach Lakritze ...

"Gib mir eine Cognac Cola, Max", flötet Lena, wenn ein Gast sie an der Theke zum Drink einlädt. Max ist recht geschickt. Was los ist, merkt keiner. Die Sache läuft super. Wird aber jemand einmal skeptisch, weil ihm der 'so andere'  Geruch verdächtig in die Nase steigt, möchte er probieren, was in dem Glas Seltsames drin ist und wird er pampig und insistiert, dann rumms, stößt Lena es um oder trinkt es grinsend in einem Ruck leer. Aber es sind höchstens Deutsche, die aufmerksam werden.  Und es kommt selten vor. Die meisten Besucher sind zu schüchtern, zu harmoniesüchtig, um Krach zu schlagen, oder es interessiert sie ganz einfach nicht, was die Kleine neben ihnen da auf ihre Kosten in sich hineingießt.

Das mit dem Teetrinken ist aber bei Lena nicht die Norm. Kaum geht es ihr besser, da bevorzugt sie wieder die ‚normalen‘ Getränke. Wenn auch in jedem nur ein paar Spritzer Alkohol drin sind. Da kommt man doch leichter in Stimmung. Manchmal hat sie während einer Schicht bis zu vierzig solcher Drinks. An ‚Payday‘ achtzig oder mehr.

An Payday und den darauf folgenden zwei, drei Tagen geht der Dienst schon morgens um 10 los und dann bis tief in die Nacht. Niemand fragt, wie sie und die Kolleginnen das machen. Zu den Drinks kommt noch der Schaumwein, der wöchentlich in Kisten vom Supermarkt angeliefert wird und den sie hier als Champagner verkaufen. Die Mädchen kippen ihn zum größten Teil heimlich ins Eis des Sektkühlers zurück, wenn der Gast gerade einmal wegschaut.

Lena ist keine der Top-Frauen im Colorado. Viele andere bringen es auf mehr Drinks als sie. Lenas Getränke stammen nie von einem Kunden allein. Sondern von vielen. Immer wieder muss sie sich auf neue Leute und gewohnte Unterhaltungen einstellen.

Deutsche Geschäftsmänner, Reisende, Spießer, vor allem dann, wenn sie noch ziemlich nüchtern sind  und nach einer Weile der Konversation feststellen müssen, dass die Frauen, die mit ihnen trinken und die sie für  - na ja - sagen wir  'Schöne der Nacht‘ gehalten haben, sich doch zuletzt als wenig gewillt entpuppen, ihre Wünsche nach Dienstschluss zu erfüllen, stellen irgendwann die Spendierbereitschaft ein und verlassen enttäuscht das Lokal.  

Die G.I.s sind da anders. Vielleicht, weil die meisten sehr jung sind. Die behandeln ein Mädchen, in das sie sich verliebt haben, dezent und respektvoll und fallen niemals mit der Tür ins Haus. Sie kommen für diese Mädchen aus den Kasernen und Garnisonsstädten der weiten Umgebung heran gefahren, umwerben sie unendlich, um sie für sich zu gewinnen.

*

Wenn eine neu angekommene Frau ihnen gefällt, sind auch die Bar-Bosse nicht uninteressiert. Persönlich, versteht sich...

"Biste so scheenes Mädchen", sagt Nathan nachts beim Abrechnen in seinem Büro zu Lena, als sie seit einer Woche da arbeitet.

"Biste so scheenes Mädchen, haste so viele Verehrer ... nu ... was is los mit dir, biste arm, haste keinen reichen Freund, keinen Schmuck, keinen Ring am Finger, NICHTS. Komm fahr’n wir nach Paris für ein paar Tage. Ich werde dich ausstaffieren!"

Nathan ist keiner von denen, die ihre 'Untergebenen' heimlich im Dunkeln beschleichen, wenn niemand es sieht. So ein Hinterhältiger ist Nathan nicht. Das rechnen ihm die Frauen hoch an. Und wenn eine wenig verdient hat, legt er ihr am Abend schon mal einen Schein drauf. Und er hat Humor. Vielleicht soll auch das nur ein Scherz sein, was er Lena da vorschlägt.. Übrigens sind sie nicht allein im Büro ... ein paar Kolleginnen, die auch aufs Abrechnen warten, stehen hinter ihr Schlange und grinsen schon.

Nathan ist ein totales Klischee, ein Prototyp. Er hat, wie er so dasitzt, tatsächlich die ( Kuba? )-Zigarre zwischen den wulstigen Lippen. Seine Schultern, ausgepolstert im Maßanzug, wirken   wuchtig und am Finger funkelt der Vierkaräter, den sie alle schon lange bewundern, der Lupenreine, auf den er so stolz ist. Nathan der Selfmade-Boss. Geradezu filmreif. Ist verheiratet, rosig-hell an Haut und Haaren, fett und fast einen Kopf kleiner als die meisten seiner Animiermädchen.

"Also, wann fahren wir beide nun nach Paris?"

Lena reißt den Mund auf, will protestieren. Es ist ihr so peinlich. Sie fühlt sich beleidigt. Macht er sich über sie lustig? Oder über sich selbst? Oder meint er es wirklich? Denkt er tatsächlich, dass sie ‚so eine‘ ... ?
Schlagfertig ist sie wohl auch nicht. Hinter ihrem Rücken klingt schon wieder Gekicher ...

Lena hat ein Geheimnis. Nie, nie würde sie einem solchen oder ähnlichen Angebot nachgeben. Ihr Herz hält sie Tag und Nacht für Großes bereit, für die Liebe nämlich, jene überwältigende, unsagbare ... die das ganze Leben aus den Fugen hebt, die wahre, die heilige Liebe, die bald kommen wird ... Bald ... Bald. Dabei - so denkt sie - geht es ihr ja nicht anders als allen Frauen der Welt. Wer würde sich schon mit einer halben oder schlechten Sache begnügen? Diesen Glauben an die Liebe haben Lena auch ihre vergangenen Erlebnisse nicht genommen. Weil sie immer so nahe daran war am Glück, es ihr praktisch nur um Haareslänge entglitt. Auf die Liebe wartet sie also stündlich.  Magie, Ekstase, das einzige, für das es auf Erden zu leben sich lohnt ... Sie wartet auf DEN Mann ... Ja, ihr Herz stellt große Ansprüche. Deshalb lässt sie sich auch in keine 'niedrige' Sache ein.

In diesen Zeiten kann täglich ein Wunder geschehen. Unter den zahlreichen Gästen, die das Colorado oder Chat Noir besuchen, wird plötzlich ER sein, der so aussieht, der so lächelt und Worte sagt, dass jedem Barmädchen die Knie weich werden. Aber er wird sie, Lena, wählen. Man kann nie wissen, ob die nächste blaue Nacht IHN nicht schon aus der Ferne hereinspült, den König aller Männer, den Herrlichsten, den heiß ersehnten ... Traummann.

Ich bin ein Mädchen vom Piräus
und liebe
die Schiffe, den Hafen und das Meer.
Ich liebe das Lachen der Matrosen ...

Ein Schiff wird kommen
und das bringt mir den einen,
den ich so lieb wie keinen.
und der mich gluuucklich macht ...

http://www.youtube.com/watch?v=BtJk9qwejwg


Oh pretty woman walking down the street,
pretty woman,
the kind I like to meet...
you look lovely as can be....
are you lonely just like me...?
Pretty woman.

Ist nicht jede von ihnen ein 'Mädchen vom Piräus'? Sind sie nicht alle ‚Pretty women‘, wenn sie nachmittags in Zweier-, Dreiergrüppchen, elegant, beschwingt im Glanz ihrer Jugend, im Reichtum ihres neuverdienten Geldes durch die Einkaufsstraße der Stadt bummeln, von den Bürgerinnen neidvoll beäugt ...

*

Lena hat vor ein paar Monaten eine Großmutter bekommen. Das heißt, sie hat sich eine angeheuert. Die wohnt jetzt bei ihr und Robi. Robi ist Lenas dreijähriger Sohn. Frau Ehre ist siebzig Jahre alt, schläft im Zimmer neben dem des Kindes. Sie kümmert sich um Robi, während Lena arbeitet oder ausruht.

Lena hat die alte Frau den jüngeren Bewerberinnen vorgezogen, die sich auf ihre Zeitungsannonce meldeten. Frau Ehre ist mütterlich. Sie kocht. Das ist gut für Robi, es herrscht endlich Regelmäßigkeit und Ordnung. Zum ersten Mal ist auch jemand da, der dafür sorgt, dass Lena gut zu Abend isst, bevor sie um sieben zum Friseur und dann auf Hochglanz poliert, high-heeled, das mit Haarspray gehärtete Blondhaar hoch auftoupiert a la Farah Diba, zur Arbeit hastet. Na ja, die Kaiserin des Iran, nach der die Frisur benannt ist, scheint nicht sehr sympathisch. Doch diese Haarmode!    Sie gilt eine Weile als topschick und bleibt die ganze Nacht lang perfekt in Form.

Gegen elf Uhr morgens wird Robi von der 'Oma' zum Kindergarten gebracht. Er könnte auch zuhause spielen. Oder mit Frau Ehre spazieren gehen. Aber Lena denkt, dass es gut für ihn ist, kleine Gefährten um sich zu haben. Dort wird er dann mit den anderen Kindern zu Mittag essen. Bevor Robi und Frau Ehre weggehen - so gegen zehn - kommt auch Lena herüber ins Wohnzimmer. Angeschlagen noch von der Nacht. Ziemlich wackelig auf den Beinen. Sie frühstücken zusammen, alle drei. Plaudern.  Das Kind eng an Lena gekuschelt. Oder umgekehrt? Kaffee-Aroma zieht durch die Wohnung und der Geruch frischer Brötchen mit Butter und Konfitüre. Wie schön, die rührige, praktisch veranlagte, alte Frau um sich zu haben und alles dreht sich um Robi, der so hübsch und immer fröhlich ist. Und sie selbst die kostbare, sehnsüchtig am Morgen vom Söhnchen erwartete, mit dünnen braunen Ärmchen umhalste, mit schmatzenden Küsschen verwöhnte Zucker-Mammi... Ach, Robis Liebe wärmt Lenas Herz sehr ... manchmal jedoch - sie weiß nicht – denkt sie, dass Frau Ehre vielleicht darauf besteht, dass er NETT zur Mutti ist und sich immer brav verhält.

Robi zu streicheln, ihn auf dem Schoß zu wiegen, zu spüren, wie klug er schon ist, wie warmherzig, zärtlich, das macht sie in solchen Augenblicken fast glücklich.
Ja, denkt sie, trotz früherer Schwierigkeiten, habe ich jetzt unser Leben doch fest im Griff.

Frau Ehre sorgt dafür, dass regelmäßig Mahlzeiten auf dem Tisch stehen, dass die junge Mutter nicht wie vorher immer mit dem Kind in Restaurants isst und so ihr Geld verplempert. Denn Robis und auch ihre Mahlzeiten hat Lena immer ziemlich pünktlich eingehalten. Am Morgen hatte Robi Cornflakes und andere mit Vitaminen angereicherte Knabber-Cerealien und Milch bekommen. Das hatte sie noch geschafft. Aber oft noch müd, taumelig von der Nacht, hatte sie nicht die Kraft gehabt, einkaufen zu gehen, zu kochen und all das. So waren sie dann um zwölf oder ein Uhr losgezogen. Zu Mittag aßen sie Stammessen. Es gab einige Reataurants in ihrer Straße oder gerade einmal um die Ecke, die sie abwechselnd besuchten und wo man sie schon kannte. Sie hielten sich ohnehin nachmittags meistens in der Stadt auf zu Besorgungen oder  in den Cafés eines der beiden großen Kaufhäuser, wo sie dann auch am Schluss zu Abend aßen ... Nachher kam dann eine Babysitterin für Robi, eine Schülerin, die auf der Couch im Wohnzimmer schlief. Die Babysitterin kam immer, wenn Lena zur Arbeit ging. Lena ging aber höchstens die halbe Zeit über arbeiten, eigentlich nur, wenn akute Geldnot herrschte. Sie blieb oft tagelang zu Hause, denn Robis Wohlergehen und dass er einigermaßen sein Geregeltes hatte, war ihr wichtiger als der Job. Deshalb überwarf sie sich häufig mit Siggi.

Jetzt ist das alles anders. Jetzt geht sie regelmäßig arbeiten und verdient regelmäßig. Jetzt ist Frau Ehre da und nimmt ihr vieles ab ... Nur muss Lena neben der Miete und den Nahrungsmitteln für drei, auch den Lohn für die Wahloma beschaffen. Es ist ihr sehr wichtig, dass sie der alten Dame keinen Pfennig schuldig bleibt. Die verlangt ohnehin eigentlich viel zu wenig. Frau Ehre, in Deutschland geboren, hat übrigens ein bewegtes Leben hinter sich, war in Venezuela und zuletzt in Brasilien verheiratet. Nun ist sie zum zweiten Mal Witwe und kämpft um eine Rente hier. Sie wird - Damoklesschwert über Lenas Haupt - nur noch so lange bei ihr und Robi bleiben, bis man ihr die deutsche Rente genehmigt ...

Lena füllt ihren Bar-Job zufriedenstellend aus, wenn es ihr einigermaßen gut geht,  aber wechselhaft wie das Wetter, ist auch ihr Befinden. Krank ist sie häufig. Schleppt sich dann matt herum. Oder liegt ganz auf der Nase. Nein, robust ist sie nicht. Wenn sie krank ist, dann ohne Absicherung. Sie bekommt kein festes Gehalt. Das ist auch verständlich. Eine Unzuverlässige wie sie! Tagelöhnerin ist sie - auch wenn das paradox klingt für eine, die nachts arbeitet. Sie bringt also jeweils das heim, was sie am Abend verdient.

Tasso, Robis Vater, den man den ‚schönen Griechen‘ nannte damals in München oder auch den ‚tollen Griechen', was ein Höchstmaß an Attraktivität, aber auch eine irgendwie geartete Fremdheit, Undurchschaubarkeit ausdrücken könnte, ist weit weg in Athen. Hat sich fortkatapultiert aus Lenas Leben, zahlt keinen Unterhalt für das Kind, obwohl das Jugendamt ihn gelegentlich halbherzig anschreibt. Keine Behörde gibt Lena auch nur einen Pfennig. Es gibt keine Gelder für alleinerziehende Mütter. Was heißt hier ‚alleinerziehende Mütter‘! Nicht einmal der Begriff existiert. 'Uneheliche Mütter' sind  das und die haben uneheliche Kinder. Sozialhilfe gibt es keine. Sollte doch so etwas existieren, dann weiß Lena nichts davon. Niemand hat ihr je etwas davon gesagt. Auch nicht die Leute auf dem Jugendamt.

Viele unverheiratete, oft nicht einmal volljährige Mütter kommen nach Lovetown. Manche bringen ihre Babies oder Kinder mit und geben sie in Pflegefamilien, andere haben sie vorläufig noch bei Verwandten oder Tanten geparkt, bis ihre Verhältnisse sich geändert haben werden. Diese Mädchen wollen nur kurz in den Bars arbeiten. Sie tun es zielgerichtet. Ihr Streben ist es, sich einen amerikanischen Ehemann zu sichern und in Übersee eine neue Heimat zu finden. Ein Wiederbeginn, der vielleicht ihre Wunden heilt. Denn Wunden haben sie alle aus der Vergangenheit. Manche schaffen es in ein geregeltes  Leben. Immer wieder macht sich diese oder jene mit nagelneuem Husband und dem Sprössling/ den Sprösslingen aus einer früheren Beziehung auf übers Meer Richtung Westen ... they go to America. So eine kann all ihre Sorgen hinter sich lassen, denken die anderen voller Bewunderung und Neid.

Angebote haben sie fast alle. Jedes deutsche Töpfchen könnte seinen Deckel aus USA finden. Meistens aber nicht den erträumten, der wirklich passt. Das ist das Problem. Deshalb bleiben viele Mädchen in den Bars hängen. Die meisten sind mit dem Leben zufrieden. Spaß wollen sie haben. Und Spaß gibt es genug und Abwechslung ohnehin ... WOHLHABEND kann man immer noch werden, ist man erst einmal dreißig!

Lena hätte auch zumindest wohlhabendER werden können, wenn sie sich nach Lokalschluss ‚tolerant‘ zu den Gästen verhalten hätte. Ein Teil der Mädchen im Colorado tut das. Ein eher größerer Teil ist sich dafür zu schade. Lena auch. Sie schlägt die  mehr oder weniger verschleierten materiellen Angebote, die ihr Männer in Sektlaune - manchmal auch nüchtern - machen, leicht und lächelnd in den Wind. Denn sie wirft sich nicht weg. Ihr ist die LIEBE kostbar. Immer noch heilig. Die große Ekstase. Die wird sie sich nicht von Durchschnittstypen, Durchschnittserlebnissen oder noch Schlimmerem kaputtmachen lassen.

Am Anfang erschien ihr der Job sehr unseriös. Da schämte sie sich bis in den Boden, wenn man sie zu - meistens schon -angetrunkenen Gästen an den Tisch schickte. Aus denen sollte sie dann möglichst viele Tom Collins oder bottelweise Champagner herausholen. Ohne das Geringste von sich einzubringen. Allein mit Hilfe eines weiblichen, wenn auch recht verhüllten und unberührbaren Busens und so weiter und einer eher blödsinnigen Konversation. Die Knete aus den Taschen eines unbeholfenen Mannes zu ziehen, der nicht wusste, wie ihm geschah, das ging am besten, wenn man mit dem Typen an der Theke saß. Die ersten Tage traute Lena ihren Augen nicht. Blitzschnell – im 10-Minuten-Rhytmus - platzierte Max die Drinks vor sie hin. Bevor sie das Glas überhaupt geleert hatte, stand schon das nächste da. Sie kam mit dem Schlucken kaum nach. Das Unglaubliche war ... die Gäste zahlten. Ohne Widerrede. Es rann ihnen manchmal in zwei, drei Stunden der halbe Monatslohn so durch die Finger.

"O nein", wehrte sich Lena, als man sie zu einem neunzigjährigen?? Greis an den Tisch schickte, einem hoch umjubelten deutschen Stammgast, den sie "Onkel Friedrich" nannten, der ziemlich kränklich, sehr hilflos und sehnsüchtig aus seinem blütenweißen Hemdkragen hervorblickte, einem Freier, der einmal im Monat das Colorado mit seinem Besuch beehrte und es traditionell so hielt, dass er immer das neueste Mädchen einlud, wohl in der Hoffnung, eine könne sich wie durch ein Wunder in ihn verlieben.

Es war an Lenas erstem Arbeitstag.
"Der kommt uns gerade recht", triumphierte Siggi, "Komm her, Lena, der ist pflegeleicht, da kannst du gleich üben." Sie zog die Verdutzte mit sich durch den Raum, drückte sie mit anpreisenden Worten, wie eine Sklavenhändlerin ihre Ware, auf einen Stuhl neben das alte Wesen. Onkel Friedrich kam Lena - Gott sei es gedankt - neutral und nicht mehr männlich (also auch nicht fordernd) vor und darum schien ihr die Sache irgendwie erträglich. Noch nie im Leben hatte sie bei einem so alten Menschen gesessen.

Die Bedienung brachte Sekt ( 200 DM ). Dabei schaffte es die Kollegin beim Öffnen der Flasche, dass die Hälfte des Inhalts sich zischend über Gläser, Tisch, Boden und leider auch über Hemd und Anzug des Greisleins ergoss. Bis man ihn gereinigt und getrocknet hatte, hatte Lena angeblich den Rest des Sektes schon geleert. In Wirklichkeit hatte Siggi für den problemlosen Abtransport der Flasche gesorgt. Schon kam die nächste Pulle dran. Die stieß jemand um - natürlich der alte Mann selbst, so machten sie ihn glauben - und wieder bekam er‘s auf die Rechnung ... Danach gab es Grund, die nächste Flasche anzuschleppen und dafür gleich wieder neu zu kassieren.

"Das bring' ich nicht", jammerte Lena leise, Lena, die aufgesprungen war und sich jetzt, vorm Tresen stehend, unter Siggis harten Blicken sehr unwohl fühlte, "so kann man doch nicht mit einem armen, alten ... "

"Bist du eine Wohltäterin oder willst du Geld machen, Weib?" sagte Siggi, "los, geh wieder hin..."

Dem Großväterchen schien die Sache tatsächlich die Laune nicht zu verderben. Er wurde immer munterer, erzählte mit altersmatter Stimme ein Witzchen nach dem anderen, hörte sich auch einige von Lena an - o je, Witze kann ich auch nicht erzählen, dachte sie. Aber das würde sie schon noch lernen, das war ja in Zukunft ausbaufähig, zum Beispiel sollte man sich einige gute auf englisch einprägen, zur Unterhaltung der Boys!

Das Greislein hielt nun Lenas Hand, lachte blechern und heiser über die eigenen, missratenen Pointen, knabberte wohl auch ein bisschen an Lenas Fingerkuppen herum, sah sie innig aus winzigen, rötlich umbluteten Augen an, gestand ihr, dass sie ihm sehr, sehr gut gefiele ... tatschte auch nach ihrem Knie. Lena nahm seine Hand und legte sie vorsichtig zurück auf den Tisch. Das musste sie mehrmals tun im Lauf der ‚Unterhaltung‘. Und dazu lachte sie ein bisschen blöd, kicherte kindisch und rauchte Kette. Er bestellte so nach und nach noch drei Pullen 'echt französischen Champagner', von dem Lena nur wenig, die Kolleginnen aber, die mit munteren Reden und viel Gelächter herbeigeeilt kamen, anscheinend maßlos tranken. In Wirklichkeit nippten sie nur, schleppten die gefüllten Gläser ständig weg, um sie irgendwo heimlich auszukippen. Gegen zehn am Abend schon rauschte der Gast recht aufgelöst - aber nicht hinfälliger, als er gekommen war - mit einer Taxe davon, hatte Lena zuvor galant die Hand geküsst, ihr ernst und gütig blickend 50 DMark in den wie wir bereits wissen, ziemlich hochgeschlossenen Ausschnitt getan, wobei es ihm schwer fiel, ihr den Schein an dieser Stelle zuzustecken. Siggi lobte Lena sehr: "Du hast dich tapfer geschlagen und gut für Umsatz gesorgt. Auch selbst eine schöne Stange bei der Sache verdient! Zufrieden?"

Lena hatte dem alten Mann versprechen müssen, ihm beim nächsten Besuch in vier Wochen wieder Gesellschaft zu leisten.
"Ich weiß nicht", hatte sie blöde gesagt, ich weiß noch nicht." Und später zu Siggi: "Ich bringe das nicht. Nein ich bringe das nicht ... Schicken Sie mich nie wieder an so einen Tisch!"

"Merk Dir das", sagte Vera, eine Kollegin aus Berlin, "kein Schwanz ist so hart wie das Leben!
Und mach dir keine Gedanken über den Typen. Der ist saureich und verkehrt hier schon seit Jahren. Wenn der das nächste Mal kommt, erkennt er dich gar nicht mehr, dann sucht er schon wieder etwas Neues, so ist das immer mit ihm!"

Manchen Bargängern merkt man an: sie sind die geborenen Verlierer. Nachgiebige, sanfte Typen. Es ist leicht, sie in einer Stunde um einige Hundertmarkscheine zu erleichtern. Wenn eines der Mädchen sich scheut oder Gewissensbisse hat, da hinzugehen, reißt sich eine andere die Jammergestalt blitzschnell unter den Nagel. Denn leichte Opfer erkennt man, wenn man sie sieht.

"Strengt euch an ... wenn sie ihr Geld nicht hier bei uns lassen", sagt Siggi, "dann nebenan in der Las Vegas-Bar, im El Paradiso oder sonstwo... "

Vielleicht sind diese Leute wie Spieler, denkt Lena, die verlieren WOLLEN. Masochisten, die genau das eine erwarten, nämlich nach Strich und Faden ausgenommen zu werden...

Oh you
come to me
I hope you understand,
oh you
come to me,
I want to hold your hand.
I want to hold your hand

tönt es aus der Musik-Box

oder:

It's been a hard days night,
I' ve been working like a dog ..
. and so on...

Man sollte es nicht glauben, aber im Colorado verkehren selbst stadtbekannte Rechtsanwälte und Ärzte. Sogar ein Baulöwe kommt regelmäßig mit seinen Geschäftsfreunden. A big Spender. Wenn er betrunken genug ist, mimt er den Caballero, tanzt auf dem Tresen ‚la Bamba‘, dieser Spinner, begießt die quietschenden, kreischenden Bargören mit dem zweifelhaften Gesöff, das hier als Krimsekt verkauft wird.

"Sind diese Leute noch zu retten?", fragen sich die Barmädchen. Es ist schon so ... komische Spelunken wie die ihre scheinen eine große Anziehungskraft auf männliche Wesen aller Art auszuüben. Wie weich und spendabel sie alle werden, wenn sie erst einmal von der stimulierenden Wirkung des Alkohols ergriffen sind!

Nathan, der Fleischige, macht seit Wochen eine Diätkur. Da werden sogar seine Hände dünner. Und er verliert seinen Brillianten. Als er eines Nachts vor dem Colorado aus seinem Mercedes steigt und die Tür wie immer schwungvoll zuschlägt, springt ihm der Ring vom Finger und verbirgt sich hämisch in der Schwärze der Nacht. Gibt das einen Aufstand! Auf das Rufen und die Flüche des Suchenden, der nicht findet, kommen sie alle langsam aus der Bar herausgeschlendert, seine Freunde, die Stammgäste, Juristen und andere Honoratioren der Stadt. Da beginnt ein Stochern, Herbstblätter-Aufwühlen im Rinnstein, ein auf der Erde kriechendes, blindes Herumgetaste. Da untersuchen sie jeden Winkel der Straße, des Bürgersteigs im Umkreis von 100 Metern. Warum gibt es hier auch keine bescheuerte Beleuchtung? Erst muss ja mal das Auto weggefahren werden. Vorsicht, Vorsicht, er könnte unter einem der Reifen liegen und dann ... crunch. Nathan hält sich Augen und Ohren zu, als Max sich ans Steuer setzt und den Wagen langsam, langsam vorfährt. Nein unter dem Mercedes hat er sich auch nicht versteckt, der Superdiamant. Jemand bringt eine Taschenlampe. Die Barmädchen suchen grinsend mit ... Er muss doch irgendwo hin gerollt sein. Warum funkelt des blöde Stück jetzt nicht? Funkelt doch sonst so. Es hilft nichts, die anderen Autos im Umkreis müssen auch alle ein Stück weggefahren werden. Aber, wie gesagt, auch das hilft nichts.
"Der ist im Gulli", meint einer schlau.
Aber das Gulligitter, unter dem eine schwarzschlammige Brühe schwappt, gibt keinen Zentimeter nach, so sehr sie sich auch bemühen. Es sitzt fest ...
"Morgen, morgen ... man muss die Stadtreinigung zu Hilfe rufen", heißt es..
"Er ist weg, er ist für immer weg, ich weiß es" wimmert Nathan, "ich habe gespürt, dass er locker war, wollte ihn  morgen zum Goldschmied bringen, ich bin gestraft!"
Nein, der Ring wird in der Nacht nicht gefunden und dennoch pendelt sich die Stimmung später in der Bar wieder ein.
"Da kann man nichts machen. Was wird sein!" sagt Siggi.

*

Erhobenen Hauptes spaziert Lena am Tag durch die Stadt. Schick angezogen, stöckelt sie zum katholischen Kindergarten. Dort holt sie Robi nachmittags um vier oder fünf ab. Eine hübsche, junge Frau, wie es viele gibt. Mit gefärbtem Blondhaar. Aber ein südlich samtenes, braunhäutiges, schwarzgelocktes Wundergeschöpf... das ist Robi mit dem Robilächeln. Er ist schöner und lieblicher als andere Kinder. Die Leute drehen sich um. Sehen den beiden wohlwollend nach. Robi ist Lenas Augapfel.

Was sie denn so mache, beruflich? ... fragen die anderen Mütter. Oh. ihr Mann sei sicher ... Amerikaner? Aber die lauernden Augen haben längst erkannt, dass ihr am Finger der Ehering fehlt. Und arbeiten tut die bestimmt auch nicht! So wie die aussieht. Irgend eine hört dann,  wo die ihr Geld verdient. Da sind die Frauen sich einig: sie ist ein Flittchen, Prostituierte vielleicht gar. - Schauder, Schauder bei den ehrbaren Müttern - Man darf nicht vergessen, wir sind in den frühen neunzehnhundertsechziger Jahren!

Lena hat keine Ahnung, dass man sie missachtet. Sie denkt, alle Menschen hätten sie gern. Bemerkt nichts. Nett sind aber die Nonnen, die den Kindergarten führen. Diese seltsamen Wesen behandeln sogar eine, die sie für eine Gefallene halten müssen, mit christlicher Nächstenliebe und Wärme. Bewundern sie ernsthaft, wenn sie ein schönes Kleid trägt oder noch höhere Absätze, als gewöhnlich. Sie machen ihr Komplimente. Erzählen ihr von Robis Klugheit, seinen kleinen Besonderheiten und Streichen. Auch die Frau Oberin begrüßt Lena stets herzlich, unterhält sich eine Weile mit ihr.

*

Als Lena an diesem Morgen zuhause aufwacht, schrillt die Wohnungsklingel. Wie das helle, sirrende Geräusch eines Bohrers beim Zahnarzt. "O, nein, nein!". Der Schlaf, aus dem sie hochschreckt, ist schwer gewesen, traumlos, steinern. Es ist halb acht Uhr früh. Um vier erst ist sie aus der Bar heimgekommen. Ihr tut jedes einzelne Haar weh! Gestern hat sie zuviel geraucht. Wie so oft.

Frau Ehre ist ja da. Die wird sich schon um das Läuten kümmern, denkt sie,  schon fast beruhigt und will weiterschlafen.

Da weht ein Luftzug durch die geöffnete Tür herein. Und sie spürt, dass jemand ins Zimmer getreten ist... Es ist Ben in seiner U.S. Airforce Uniform. Riecht nach Frische. Ausgeschlafenheit. Riecht nach herbem Duschgel und feuchter Morgenluft. Nach der ersten Zigarette auch. Seine Haut sonngedunkelt, das kurzgestutzte, schwarze Haar lockig, drahtig. Die Züge hager. Und diese Augen ... das selbstbewusste, ironische Lächeln des erfahrenen Mannes darin. Als Jahre später die James-Bond-007-Filme aufkommen, da weiß Lena: Sean Connery sieht aus, als ob er der Doppelgänger von Ben sei. Deshalb wird sie immer und immer wieder ins Kino laufen und voller Erstaunen das Bild dieses irischen Filmstars in sich aufnehmen und dabei die Züge und die Art ihres Geliebten annähernd wiederfinden. Da gibt es Ben aber schon  nicht mehr.

Ben ist irischer Abstammung. Er redet wenig. Versucht nicht, den Grund seines Hierseins durch einen Vorwand zu verbrämen. Er hat gewusst, dass sie noch im Bett sein würde. Genau da, so will er, soll sie auch bleiben.

Der hochgewachsene Mann hat sich schnell seiner Uniform und des Darunters entledigt, schneller als sie es in ihrem narkotisierten Nebelhirn erfasst. Er drängt zu ihr unter die Decke, dass das baufällige Bett bis in sein Messinggestänge vibriert. Er hält sie in seinen Armen. O Ben, wenn er sie heute nichts als streichelte, hin und her wiegte, kuschelte. Das wäre das Paradies.

Aber nur auf reine Zärtlichkeit ist er nicht aus. Er will auch das EINE. Das macht nichts. Je mehr er sie benutzt, desto mehr Hinneigung spürt sie. Zugehörigkeit. Verwunderung auch, dass er ihren schlaftrunkenen Körper so sehr begehrt. Wie gut ... sie ist klein, matt, bedürftig nach Liebe. Lena schmiegt sich eng an seinen Körper. Der rauhe, kitzelnde, kratzige Haarflaum auf seinen Armen, Beinen. Auf seiner Brust. Der ganz leichte Geruch nach Schweiß.  Er ist ihr vertraut. Begierig ist sie,  jetzt von ihm genommen zu werden.
Wenn er weniger dunkel wäre, weniger hochmütig, weniger unberechenbar, dann zöge es mich nicht so furchtbar zu ihm hin, weiß sie.

Lena zittert auch sonst jedes Mal, wenn sie ihn nur von weitem kommen sieht. Ein untrügliches Zeichen für Liebe. Sie denkt an ihn, an sonst keinen, wenn sie Männlichkeit und Sexualität meint.

Er hält Verabredungen fast nie ein. Ist jedoch plötzlich da, wenn sie NICHT mit ihm rechnet. Auch ist sie zu keiner Zeit sein einziger Schatz. Er hat noch ein paar andere Geschichten, das glaubt sie dem Gerede seiner Freunde entnommen zu haben. Und die Zukunft? Er ist geschieden, denkt an eine Zweitehe und die stellt er sich mit einer 'echten Jungfrau' vor. Das hat er ihr eines Tages klipp und klar und allen Ernstes zu verstehen gegeben. Ja ganz im Ernst. Ziemlich bekloppt, was? Pretty funny. Ja ja. Da kann sie nicht mithalten. This I cannot give you.

Eben hat sie noch gedacht, dass sie heute am liebsten nur kuscheln möchte. Jetzt ist sie froh, als sie ihn in sich spürt. Die Wärme. Geborgenheit. Die Sehnsucht. Der vertraute Sog. Körper zu Körper.

"Du bist so klein und empfindlich", hatte Ben am Anfang gesagt. Er hat recht. Er tut ihr weh. Sein Schwanz. Sie IST zu eng für ihn. Er benutzt Gleitgel. Das benutzt er immer. Auch dann, wenn sie munter und wach ist und feucht und begierig, ihn in sich zu spüren. Sie ist definitiv zu eng für ihn.

Sie träumt davon, endlich seiner Seele nahezukommen. Und dass er ihr noch ein bisschen mehr Wärme schenke. Es scheint, als ob er sie in letzter Zeit schon viel respektvoller  behandle. Nein, Liebe ist nicht leicht zu bekommen von einem wie ihm. Trotzdem ... er ist EIFERSÜCHTIG . Gewesen. Hat sie am Anfang ihrer Beziehung manchmal aus der Bar gezerrt. Aus der Bar gezerrt!! Tatsächlich.  Wild  bei den Schultern gepackt. Herausbefördert. Wenn sie mit 'Idioten' zusammensaß und trank. Und ER sie gerade um sich haben wollte. Und nicht bis Lokalschluss warten mochte. Zu seinem Auto hatte er sie dann getragen, auf den Sitz bugsiert und nahm  sie auf diese Art mit zu sich, in seine Wohnung. Das war bevor sie 'fest' miteinander gegangen waren. Siggis Zetern endigte er zuvor auf einfache Weise. Ein paar Scheine, von ihm angewidert auf die Theke geknallt, besänftigten das fuchsteufelswilde Getue der Geschäftsführerin. Lena schämte sich nicht, wenn er, so groß, schön, so selbstverständlich und überlegen, sie als seinen Besitz vor aller Augen packte und davontrug.

"So lass ich denn die Verrückte wieder einmal ziehen", hatte  Siggi zu den anderen hin geschnaubt. "Die ist bekloppt, schmeißt mitten im Hochbetrieb alles hin, stößt die Stammgäste vor den Kopf und das für einen Kerl, der sich um ihre Probleme keinen Dreck schert. Dabei sollte sie einen ordentlichen Mann haben, der es gut meint, der für sie und das Kind sorgt."

Jetzt  ‚geht‘ Lena schon seit über einem Jahr mit Ben. Er gibt ihr nie Geld. Aber er verbietet ihr auch ihren Job nicht mehr. Sie hat es so gewollt. Sie haben lang  über alles gesprochen. Er mischt sich da nicht mehr ein. Sie will  ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen. So kann sie noch immer an ihre Würde, ihren Wert, glauben. Manchmal kauft er etwas in der PX für sie, Robi und Frau Ehre. Kleine, nette Geschenke ... Lebensmittel niemals, die sie manchmal so gut brauchen könnten. Wenn er Lena früher aus dem Colorado holte - was er jetzt nicht mehr tut -  dann bedeutete ihr der Verdienstausfall nichts. Das Gekicher, die Blicke, die sich die Bargefährtinnen zuwarfen, bemerkte sie kaum. Denn sie fühlte sich 'besonders'. Weil ER sie begehrte. 

Wahre Liebe und Leidenschaft ist ein großer Luxus hier in dieser Nacht- und Bar-Welt und Lena leistet sich den Luxus ihrer Liebe zu Ben. Obwohl er ihr niemals Zukunftshoffnung macht. Sie fühlt sich irgendwie den anderen Frauen in der Bar überlegen, weil sie nicht auf materielle Sicherheit aus ist. Weil sie rein auf Liebe gesetzt hat. Es ist schwer zu erklären ... sie fühlt sich einfach VERSCHIEDEN von den anderen.

Ben ... der Egoist? Und eine Affäre, die Minou in seltenen Augenblicken auch überfordert. Es geht nicht leise zu und daran ist diese quiekende, miserable  Bettstatt  ebenso schuld, wie ihr Geliebter. 

"Bitte, Ben ... die Frau nebenan ... und Robi!"

In ihrem Leib spürt sie ihn furchtbar. Das ist immer so. Im Kopf ist sie nicht einmal richtig da. Noch ein wenig schwindlig und blöde vom gestrigen Schaumwein, dem Limo-Wodka-Gemix und dem vielen Kaffee dazwischen. Er aber: Warm. Stark. Ausgeschlafen. Sie begehrt ihn so sehr. In der Seele vielleicht sogar mehr als im Bauch. Aber sein wuchtiger, viel zu langer Schwanz ist für ihn wichtiger als alles, ein Schwanz, der ihr wehtut. Der vielleicht gar nicht gut ist für sie. 
"Meine sonderbare, kleine Deutsche ..."
 "Eingebildeter Ami." 
"Es gefällt dir, wenn ich dir Schmerz bereite", sagte Ben einmal.

"Ich bin keine Masochistin, wenn du das meinst!"
"I know", sagte er.

Nach ihm, wenn er mich eines Tages verlässt, werde ich nie mehr einen anderen Mann lieben..." weiß sie. Befürchtet auch: Ich bin eine schlechte Bettgefährtin und heute bestimmt schlechter, denn je. Sie hat erst drei Stunden geschlafen. Der Restalkohol geistert in ihrem Kreislauf herum, hat sie übel im Griff. Sie rührt sich kaum, allzu leicht wird sie an einem solchen Morgen schwindlig. Zum Glück hat sie heute nicht, wie so oft, auch noch  'a splitting headache'.

DANACH hängt sie schlaff in seinen Armen. Schmiegsüchtig dazu. Matt. Etwa so knackig wie eine Gummipuppe, der man die Luft abgelassen hat, denkt sie und muss grinsen. Sie ist furchtbar müde. Und so ganz besiegt.

Dass er überhaupt meinen Nikotin- und Alkoholdunst erträgt und mich dabei küsst! Dass er mir wenigstens vorher hätte erlauben sollen, die Zähne zu putzen, denkt sie. Aber er hat sie erst gar nicht aus dem Bett steigen lassen.

Sie darf noch eine Weile in seinen Armen ruhen. Er nimmt zwei Zigaretten gleichzeitig an den Mund, zündet eine für sich, eine für sie an, steckt ihr die ihre zärtlich zwischen die Lippen.

Nachher darf sie schnell ins Bad laufen. Taumelig zwar. Kommt selbstsicherer zurück. Mit frisch geputzten Zähnen. Im weißblau, längsgestreiften Schlafshirt aus Seide, das wie ein Herrenhemd aussieht, ihre Beine frei lässt, ihr gut steht. Sie kuschelt sich fester an seinen Körper, als er es vielleicht möchte. Fester, als sie DENKT, dass er es vielleicht möchte. Sie fühlt sich ... klettenhaft.

Lena fühlt sich extrem anlehnungsbedürftig. Schwach und aufgewühlt. Schmerzend spürt sie die Nachwirkung seines Liebemachens.

"Tell me that I am your sweet and only one", flüstert sie leise. Fürchtet augenblicklich, sie könnte ihm damit auf die Nerven gehen ... Sie fragt ihn das fast jedes Mal. Er grinst, küsst sie auf die Nase.

"My sweet and only one", sagt er nicht, doch er berührt sie, streichelt sie freundlich und ..."oh I LOVE so much being with you", sagt er.

Seine starken Arme! Im Festhalten, Beschützen ist er ebenso gut wie bei der Eroberung, denkt sie.

Durch die sommerlich geöffneten Fenster herein läuten auf einmal die Kirchenglocken. Wie verrückt läuten die Kirchenglocken von nebenan. Wahnsinnig  ihr Gebrause. Die gehen einem so oft auf die Nerven. Dröhnen, dröhnen. Die Schläge der ehernen Klöppel hallen durch Kopf und Hirn. Ben hält sich mit beiden Händen die Ohren zu. Als das Geläute der Glocken langsam verstummt, fällt ihr erst ein, dass heute ja Sonntag ist. Man spürt es auf einmal in der Atmosphäre.

Die Sonntage können herrlich sein. Wenn Ben Zeit hat. Lena hat Sonntags frei. Da fahren sie dann schon früh am Morgen los. Bens rotes Cabrio ist schnell. Sie kommen weit herum. Driften lässig von einer blühenden Landschaft in die andere. Wo es ihnen am besten gefällt, nehmen sie in romantischen Lokalen die Mahlzeiten ein. Bleiben bis zum späten Nachmittag unterwegs. Wie eine kleine Familie. Manchmal war Frau Ehren auch schon dabei. Aber nicht immer. Robi darf aber nie fehlen. Lena hat das von Anfang an geklärt. Was für ein Sommer. Mit offenem Verdeck gleiten sie über die Straßen des schönen Deutschland. Wind im Haar. Und Sonne auf der Haut. All das satte Grün. Die Weindörfer. Die weiten Ausblicke. Flüsse, Wiesen, Wälder, Hier und da ein See. Dann eine Stadt, durch die man im Strom des zähen Verkehrs langsam rollt. Und die Leute sind aufmerksam. Denn Bens Auto ist ein besonderes. Manchmal kommen sie aus einem Restaurant und dann stehen Jugendliche da und beäugen es mit großem Interesse. Später auf den Landstraßen. Lena neben Ben. Robi, sich immer wieder vorbeugend, sie oder Ben ab und zu antippend, süß plaudernd, lachend auf dem Rücksitz. Und wenn Lena zu Ben hinschaut, dann sieht sie seine sicheren Hände auf dem Lenkrad und sein entspanntes, schmunzelndes Gesicht. Und wieder denkt sie wie schon manchmal früher im Leben, dass es SCHÖN ist, so schön wie nie und dass das erst der Anfang sein wird von all dem Glück und der Ekstase, die noch auf sie warten. Und einer ihrer Autoausflüge ist immer erlebnisreicher als der andere. Die Felder stehen herrlich, die Landschaft ist satt und fett, die Städte sind voller imposanter Bauwerke und Monumente, die Lena gierig in sich speichert. Und in ausgesuchten Restaurants essen sie köstliche Dinge.

"Bleib doch heute hier, Ben", sagt sie jetzt an diesem Sonntag Morgen, "wir könnten Robi nehmen und wegfahren, das Wetter wird schön ... Nach Rothenburg wieder einmal oder in den Odenwald. Bitte, bitte ..."
"Sugar, es geht nicht. In drei Stunden muss ich in Malta sein."
Er ist in Eile.
Er ist Pilot der Airforce.

Schweigend sieht sie zu, wie er Shorts und T-shirt, das beige Hemd, wie er die makellose Uniform sehr rasch wieder anzieht. Er ist in jeder Bewegung so viel schneller als sie. Er ist vital. Er hat viele Dekorationen und Streifen an Schultern und Brust seiner Uniform, von deren Bedeutung sie keine Ahnung hat. Sie hat ihn nie danach gefragt. Nie. Noch einen Kuss gibt er ihr, flüchtig schon. Die Kappe setzt er sich jetzt auf sein dunkles Haar. Wenn er die Kappe aufsetzt, weiß sie: Jetzt geht er wirklich. Wo sie sich doch gerade jetzt so nah sind ... Ihr Herz springt in der Brust. Der Puls jagt bis in den Hals. Dass er schon wieder weg muss, jetzt, wo sie so warm ist von seiner Liebe, so bedürftig auch ... dass er schon wieder weg muss.

*

Eines Tages - ein halbes Jahr ist seit jenem Sonntag vergangen - und dieses halbe Jahr hat sie in ihrem Glauben bestärkt, dass er sie jetzt sehr gern habe. Er ist kein Mann, der sein Herz auf der Zunge trägt. Aber alles war von Mal zu Mal harmonischer geworden mit ihnen, wenn das überhaupt noch möglich war.

"You are my sweet and only one", hatte er eines Tages bei der Liebe geflüstert. Aber dann auf einmal hört sie zwei Wochen lang nichts mehr von ihm.

Da geht sie, Robi an der Hand, zu seiner Wohnung. Die liegt mitten im Zentrum von Lovetown. In einem der neuen, sonst ausschließlich von Deutschen bewohnten Appartementhäuser. Das Gebäude steht in einer schönen Grünanlage auf dem Weg, den sie immer nimmt, wenn sie Robi nachmittags vom Kindergarten abholt. Sie ging nie von sich aus zu Ben hinein, obwohl sie es meistens kaum ertrug, nicht hinzugehen, wenn sie mit Robi vorbeikam. Sie ist schon oft in Bens Wohnung gewesen. Aber nur, wenn er sie zu sich geholt hatte.

Robi ist auch schon oft dort gewesen. Dann nämlich, wenn Ben die beiden zu einer Autofahrt am Sonntag nachmittag oder auch einem ganzen Tagesausflug mitgenommen und gegen Abend noch eine Weile oben bei sich auf der Terrasse bewirtet hatte. Manchmal hatte er  auch für sie beide gekocht. Ein vollständiges Menu. Mit mehreren Gängen. Und wie er gearbeitet hatte, mit welcher Sicherheit er sich in der blitzenden Küche bewegte, wie er plötzlich hausväterliche Beflissenheit entwickelte. Wie jeder seiner Handgriffe schnell und zielsicher war. Für sie und Robi hatte er das gemacht. Da kannte sie ihn kaum wieder. Wie er sie beide liebevoll bediente, ihnen all diese Leckerbissen auf edlem Porzellan servierte... Und nur schöne, besondere Dingen enthielt seine Wohnung. Er schien alles Banale, auch Schmutz und Unordnung zu verabscheuen ... hatte einen exquisiten Geschmack, selten hatte sie eine harmonischere Wohnung gesehen.

Ja, die Wohnung war teuer und mit Schönheit, Stil, Eleganz eingerichtet. Wenn Robi dabei war, hatte Ben Lena wie eine Lady behandelt. Er hatte sie zärtlich, fast vorsichtig geküsst. Aber nicht angerührt wie sonst.

Auf Bens Schreibtisch stand im Mahagonierahmen das Foto eines dunkelhaarigen, lockenköpfigen kleinen Geschöpfes mit riesengroßen, hellen Augen. Erst hatte sie gedacht, es sei ein Mädchen. Er hatte sie aber aufgeklärt: Es war sein Sohn Mark. Der ist in Robis Alter. Die beiden Kinder gleichen sich sogar. Ziemlich. Tatsächlich. Das hatten sie beide mit Staunen festgestellt. Mark lebt bei Bens Exwife irgendwo in New England.

Ben mag Robi und scheint über ihn nachzudenken "Er könnte ebensogut unser beider Sohn sein", sagte er eines Tages zu Lena.
"Mark aber genauso", sagte Lena.
Lena hat - wie oben erwähnt - nie von sich aus Ben besucht. Er hat sie immer zu sich geholt, wenn er sie haben wollte. Nie ist sie ihm nachgelaufen. Darauf ist sie stolz gewesen.

Heute aber....
Außen, an der Eingangstür des schönen Appartmentgebäudes ist das Feld auf dem Klingelschild zwischen all den anderen Klingelschildern LEER. Dort wo immer sein Name stand: O‘Brian. LEER. Da wird sie fast ohnmächtig vor böser Überraschung. Nein, an so etwas hatte sie nicht gedacht. Vergisst für einen Augenblick sogar Robi, der sie verwundert mustert.  

Da taumelt sie zur Hausmeisterwohnung. Läutet. Der amerikanische Colonel habe das Appartment schon vor drei Monaten ordnungsgemäß gekündigt. Die Möbel und alle seine Sachen seien letzte Woche von einem U.S. Moving-Van abgeholt worden.

Als sie bei der Kommandantur in Ronstein anruft und man ihr keine Auskunft geben darf oder will, da verlangt sie am Telefon nach Major Durell. Er ist auch  Offizier, ein gelegentlicher Gast im Colorado. Er war es, der damals Ben O‘Brian zu ihnen in die Bar gebracht hatte. Zusammen mit einer größeren Gesellschaft. An jenem Abend war ihr beim allerersten Anblick Bens, seiner Augen, seiner hohen, kraftvollen und zugleich schlanken Gestalt schwach und schwindelig geworden vor lauter Hingerissensein, vor tiefem, plötzlichem Begehren.

Und Ben hatte, wie durch ein Wunder oder eine große Zuneigung, Lena an dem ersten Abend gleich ganz mit Beschlag belegt, was ihn sehr viele Drinks kostete. Er war dann zwei Wochen lang jede Nacht gekommen, hatte ihr massenhaft Getränke ausgegeben, sie hatten Stunden um Stunden geredet, getrunken. Seine Kameraden, auch Major Durell, hatten ihn wegen seiner Beharrlichkeit gehänselt und sie, Lena, wegen ihrer Standhaftigkeit und hartnäckigen Weigerung, sich von ihm ‚nach Hause‘ bringen zu lassen, bestaunt. War Ben doch als einer bekannt, zu dem Frauen sonst nur selten "nein" sagten ... Dann war er einen Monat lang nicht mehr ins Colorado gekommen und sie hatte ständig an ihn gedacht und tatsächlich getrauert. Als eines Nachts die Drehtür aufging und er plötzlich da war, sie lachend ansah, fiel Lena vor Aufregung fast um. Schon in der gleichen Nacht fuhren sie zu ihm nach Hause und dann ...

"Ben ... wo ist er hin", fragt sie jetzt tief getroffen durchs Telefon. "Seine Wohnung ist leer."

"Ben O‘Brian ? Yes ... He is in South-East-Asia", sagt Major Durell. "Vietnam. Ist vor drei Tagen abgeflogen."
"So plötzlich ...?"
"Nein, nicht plötzlich. Es ist sein zweiter Einsatz dort. Diesmal hatte er sich freiwillig gemeldet. Vor einer Weile schon."
Ob sie es denn nicht gewusst habe ...?
"Nein!, nein!"

Ob sie denn überhaupt wisse, dass er wieder geheiratet habe. Vor einigen Monaten schon. Eine Soldatin. Einen weiblichen Captain. Kampfpilotin auch sie ....

O das muss jene 'verschrobene Jungfrau' gewesen sein, von der er ihr einmal so nebenbei erzählt hatte

Etwas in Lena drin, ( ihr Herz? ) tut einen seltsamen Klick. In dem Augenblick  ist es, als ob da innen  etwas mit merkbarem Klirren zersprungen sei ...

Love is a burning thing.
And it makes a firy ring.
Bound by wild desire
I fell into a ring of fire ...

http://www.youtube.com/watch?v=XQ2yzKWRHz8

Das ist von da an Lenas Schicksalslied. Sie spielt es ständig im Colorado. An der Jukebox. Zwei Dutzendmal am Abend. Mindestens. Bittet auch noch die drinkspendierenden G.I.s, den Song für sie zu drücken, wenn sie Musik auswählen gehen.

I fell into a burning ring of fire,
I went down, down down
and the flames went higher,
and it burns, burns, burns
the ring of fire
the ring of fire.

Auch beim vielhundertsten Abspulen macht die Melodie sie noch todmatt. Ihr ist innen, als sei alles Leben gewichen. Es wird immer schlimmer. Dieses Lied und die Gedanken an ihn sind eins. Sie haben sich auf mysteriöse Weise zu einem seltsamen Konglomerat verbunden. Einem Wust aus Traurigkeit, Schwermut, Sehnsucht, Müdigkeit. Sie ist wie behext. Gelähmt. Bei den zahlenden Gästen, die jeden Abend im Colorado Zuneigung oder nur Zeitvertreib suchen, sitzt sie wie eine Fremde. Sie nimmt an nichts und niemandem mehr Anteil.
"Und sie labert von Ben, immer wieder labert sie einem vor, leiert einem ihr Gejammer ins Ohr wie eine gesprungene Schallplatte", sagen die anderen Frauen.

Nicht einmal Robi ist imstande, sie Ben vergessen zu lassen. Robi, den sie doch liebt, den sie doch liebt ... Auch er kann ihre Qual nicht lindern.

I fell for you like a child,
oh, but the fire went wild.
I fell into a burning ring of fire,
I went down, down
and the flames went higher ...

http://www.youtube.com/watch?v=XQ2yzKWRHz8

Ständig krampft sich ihr Herz zusammen. Die Tränen sind immer ganz nah am Rand ihrer Augen. Bereit, herauszustürzen, wenn einer sie nur ansieht und ein falsches Wort sagt ... Nein, sie kann Ben nicht vergessen.

Ben o’Brian hat noch einen Sohn bekommen von seiner ‚jungfräulichen‘ Pilotin, hat aber im Endeffekt Vietnam nicht überlebt. Die traurige Nachricht erfährt sie von Major  Durell, als sie sich einige Jahre später zufällig auf einer Party auf Patrick Airforce-Base über den Weg laufen. Lena hat nämlich irgendwann einen amerikanischen Major geheiratet und lebt mit Robi und ihm in Florida. Aber das ist eine neue Geschichte.


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.10.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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