Harald Haider

Wenn Rosen verwelken - 4.JULIETTE

4.JULIETTE
 
 
 
 
 
Der Mann im schwarzen Trenchcoat war schon auf dem Weg zu seiner verfallenen Behausung, als er mit seinem rostigen Ford am ‚Cool Spirit’ vorbeifuhr. Das ‚Cool Spirit’ war eines der beliebtesten Internet-Cafes der Stadt...und auch eines der billigsten. Für einen Dollar konnte man ohne Einschränkungen eine Stunde surfen. Zuerst wollte der Mann weiterfahren, doch dann fuhr er fast automatisch an den Straßenrand. Er hielt an, warf noch einmal einen kurzen Blick auf seine alte am Beifahrersitz liegende Fotokamera, auf dessen eingelegten Film unwiderstehliche Aufnahmen seiner Rose nur darauf warteten, entwickelt und dann bewundert zu werden. Dann schloss er den Wagen ab und betrat das Internet-Cafe. Um die Mittagszeit waren wie auch diesmal nur wenige Jugendliche vor den Computern. Die Angestellte saß gerade selbst vor dem Monitor eines PCs, achtete nicht auf den neuen Besucher. Erstens, weil so viele Leute dieses Gebäude besuchten, sodass man sowieso den Überblick über alle Personen verlor, aber auch zweitens, weil sie diesen Mann kannte. Er war schon öfters hier gewesen. Meistens surfte er knapp zwei bis drei Stunden im Netz umher, ging dann zur Kassa, zahlte ohne Probleme das Geld und verschwand wieder. Der Mann trat bei der jungen Frau vorbei und suchte sich einen Rechner am Ende des Raumes und stellte die Internet-Verbindung her. Instinktiv gab er die Adresse der lokalen Chatsite ein und wenige Sekunden darauf landete er bei der Anmeldung zum Chatraum. Ohne zu zögern gab er seinen Nickname ein... ‚Angel021’.
 
Nachdem Juliette genussvoll die Salami-Pizza verschlungen und danach schnell die Englisch-Hausaufgabe in ihr Heft gekritzelt hatte, legte sie sich wieder auf den Balkon. In ihrer linken Hand hatte sie die Rose ihres Verehrers, auf dem kleinen Tischchen neben dem Liegestuhl lagen seine zwei Briefe. Immer wieder musste Juliette überlegen, wer nun dieser Kerl bloß war. Da schloss sie einen Entschluss. Sie würde IHM einfach wirklich eine Nachricht in ihrem Spind hinterlassen und darauf warten, bis er kam, natürlich versteckt hinter einer Ecke. Sie musste erfahren, wer ihr diese Liebesbeweise zukommen ließ. Sie setzte sich auf, holte sich einen Zettel und einen Kugelschreiber und begann mit dem Brief. Was sollte sie bloß hineinschreiben? Zuerst einmal sich für die schönen Rosen und die charmanten Briefe bedanken! Eifrig schrieb sie die ersten Zeilen auf das Papier. Und wie jetzt weiter? Aufgeregt überlegte sie, wie sie weiter schreiben sollte. Nach knapp einer halben Stunde hatte sie endlich den Brief fertig. Juliette las ihn sich noch einige Male durch, auf der Suche nach Opfern des Fehlerteufels, aber sie hatte den Eindruck, als ob die Nachricht in Ordnung war. Morgen früh würde sie ihn gleich in ihrem Spind verstauen und auf ihren Verehrer warten.
 
Ah, wer ist denn da alles im Chat? ‚Ravergirl’,...nein, das ist so eine fette 18-Jährige, die sich für etwas Besseres hält. Er hatte zwar schon ein paar Mal kurz mir ihr gechattet, doch sein Interesse galt anderen Mädchen. ‚Sue1104’,...auch nicht, zwar süß, aber zu jung. Nein, der Mann im schwarzen Trenchcoat war auf der Suche nach einem neuen atemberaubenden Mädchen. Er sah sich die Liste der eingeloggten Chatter am Rand des Fensters an, suchte aufgeregt alle Nicknames weiblicher Internet-Surfer heraus. Einige der zu dieser Zeit anwesenden Chatter kannte der Mann, zuerst fand er keinen Namen, die ihn von einem wunderbaren Mädchen überzeugte. Immer wieder überflog er die Liste der eingeloggten Jugendlichen, die sich im Moment über Probleme in der Liebe oder in der Schule unterhielten, ohne befriedigt zu werden. Doch dann wandte sich sein Blick auf eine Nachricht, die im oberen Feld des Bildschirms erschien und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem hinterlistigen Grinsen. „’Rose’ betritt den Channel.“ Mit vor Erregung zitternden Fingern zog er den Mauspfeil auf den Namen des gerade eingetroffenen Mädchens. Seines neuen Opfers...
 
Diana Hawkins wusste zunächst nicht, was sie machen sollte. Sie starrte aufgeregt auf den Bildschirm und den Namen, der zu lesen war. „Angel021“, er war im Chat! Der vermutliche Mörder von Susan Thompson! Die junge Frau fuhr sich mit beiden Händen nervös durch ihr langes brünettes Haar, blies tief durch. Einige Fragen flogen in ihrem Kopf herum. War das DER „Angel021“? War ER im „Cool Spirit“? Oder chattete ER von wo anders? Was sollte sie bloß tun? Andre...er würde wissen, was zu tun war. Hastig durchkramte Diana ihren Schreibtisch, fand schließlich ihr Notizbuch mit der Nummer ihres Kollegen. ...Durchwahl 45... Sie tippte so schnell sie konnte die Nummer ein und wartete angestrengt darauf, dass Andre Dumont den Hörer in seinem Büro abnahm und ihr half. Doch er hob nicht ab. Dauernd ertönte der Besetztzeichen durch den Telefonhörer. Das auch noch! Sie wandte sich wieder dem Computer zu und suchte nach dem Namen des Gesuchten....ah, er war noch da,...aber was sollte sie unternehmen. Da kam sie zu einem verhängnisvollen Entschluss. Diana Hawkins legte ihre schmalen Finger auf die Tastatur, überlegte noch kurz und gab dann ein Wort in den Computer ein. Sie wusste, es gab jetzt nur noch einen Weg, um herauszufinden, ob dieser „Angel021“ DER „Angel021“ war, nach dem alle suchten. Sie suchte mit dem rechten Zeigefinger die ENTER-Taste, betätigte sie und fand sich als ‚Rose’ im Chatraum wieder.
 
Währendessen hatte Andre Dumont sein Gespräch mit Dr. Conroy schon längst beendet und wählte nun die Nummer der Polizei von Dallas, um nach Sylkas großer Liebe suchen zu lassen. Der Inspektor hatte so ein Gefühl, dass diese junge Dame ein größeres Teil in diesem verflixten Puzzle war. Darum lag ihm sehr viel davon, sie ausfindig zu machen. Während er auf das Freizeichen wartete, musste er kurz seinen Kopf schütteln. Er untersuchte diesen Fall mit dem Hintergedanken, dass Paul Sylka noch lebte und wirklich der Mörder von Susan Thompson war. Das Problem, mit dem Dumont nicht zurechtkam, war das, dass rein theoretisch diese Vermutung unmöglich war. Sylka war tot und lag am Zentralfriedhof von Dallas begraben. Er war durchgeknallt gewesen,...doch er war tot. Oder? Die Stimme einer jungen Polizistin riss ihn aus seinen Gedanken, die sich doch immer um dasselbe drehten und trotzdem nicht wirklich zu erklären waren. „Äh...hier spricht Inspektor Andre Dumont von der Mordkommission in Arlington. Ich hätte eine Bitte. Ich suche nach einer Frau. Leider kann ich nur einen Vornamen und ein paar Aussehensmerkmale aufzählen.“ Die nette Dame am anderen Ende der Leitung antwortete: „OK, was können Sie mir zu der Person sagen?“ Dumont zählte rasch alle Merkmale auf, die ihm kurz zuvor Dr. Steve Conroy, der auch nicht gerade ‚normal’ zu sein schien, mitgeteilt hatte. „Ich weiß, dass ist fast nichts, aber ich hoffe, sie können mir so bald wie möglich eine Liste aller in Frage kommenden Frauen ins Revier faxen.“ „Wird gemacht. Ich werde mich beeilen, Mister Dumont.“ „Danke für die Hilfe! Auf Wiederhören!“ Dumont legte den Hörer wieder auf die Gabel und dachte wieder nach. Wie soll er nun weiter vorgehen. Das für den Inspektor nervendste war, dass man kaum Hinweise hatte, die Vorgehensweisen zuließen. Keine Zeugen, keine Spuren(außer welche eines seit einem halben Jahr Verstorbenen). Es war zum aus der Haut fahren! Andre erhob sich aus seinem schwarzen Ledersessel und kreiste durchs Bürozimmer und fasste sich auf den Kopf. Wenn ihn so einige seiner Kollegen gesehen hätten, sie hätten ihn glatt als total überfordert und ausgelaugt eingestuft, aber Andre Dumont war es nicht, besser gesagt, er wollte es sich nicht eingestehen, dass dies bald passieren konnte, wenn dieser Fall das verwirrende und mysteriöse Netz weiterspann und man nicht zu einer glaubhaften Lösung kommen sollte. Aber Dumont wollte nicht aufgeben. Das war er sich schuldig. Und Susan Thompson. Und ihren Eltern. Dieser Psychopath musste geschnappt werden. Und zwar so bald wie möglich. Doch was sollte er tun? Zunächst würde er auf die Liste aus Dallas warten. Vielleicht könnte diese Janette endlich mehr Licht in diese Angelegenheit bringen. Andre heckte einige Hoffnung in ein Gespräch mit Sylkas ehemaliger Liebe. Es würde sicher viel Aufschluss auf Sylkas Psyche machen. Ja, diese Janette musste gefunden werden, so schnell es ging.  Er musste mit ihr reden. Über Sylka. Doch zu einem Gespräch sollte es nie kommen.
 
Knapp zwanzig Minuten, nachdem Dumont bei der Polizeizentrale in Dallas um die Suche nach dieser Janette gebeten hatte, kam die Polizistin, die Andre am Apparat hatte, kreidebleich die Gänge hinunter gerannt. Direktor Roy Carson saß gerade in seinem Büro, als Andrea Waynes ins Zimmer gestürmt kam. „Entschuldigung, Mister Carson, aber ich glaube, sie sollten sich das ansehen.“ Die junge Frau reichte ihm einen Zettel. „Ein Andre Dumont von der Polizei in Arlington hat vorhin angerufen und nach einer Frau, die hier in Dallas leben sollte, gesucht. Ich habe seine von ihm bekommene Beschreibung in den Computer eingegeben und in der städtischen Personendatenbank nach dieser Frau gesucht. Und ich bin mir fast sicher, dass ich sie gefunden habe...“ Mrs. Waynes zeigte auf das Blatt Papier. Erstmals warf der Mann einen Blick darauf. Oben stand der Name einer Frau: Janette Peeters. Darunter ein Foto eines hübschen jungen Mädchens Anfang zwanzig. Unter dem Bild war eine kurze Beschreibung von ihr zu lesen. Beim letzten Absatz stand dann geschrieben:

  

Geboren am: 3. Juli 1978 in Dallas /Texas

Gestorben am: 19. Mai 1999
Todesursache: Getötet in ihrem Wagen durch drei Stiche ins Herz durch einen Unbekannten, der bis heute nicht gefasst werden konnte.
 
„Sind Sie sicher, dass die gesuchte Frau dieses Mädchen auf dem Foto ist?“ wendete sich Roy Carson wieder an seine Mitarbeiterin. „Es muss diese Dame sein. Zu keiner anderen im Computer passen alle Merkmale so perfekt zusammen. Es scheint so, als müssten wir Mr. Dumont eine schlechte Nachricht übermitteln.“ „Nein, Andrea, ich mache das schon selbst. Ich möchte nämlich zu gern erfahren, ob der Mord an diesem Mädchen in Arlington mit dieser Janette Peeters etwas zu tun hat, weil ich habe so ein Gefühl, dass sich in dieser Stadt etwas zusammenbraut.“ Der Direktor lehnte sich in seinen Sessel zurück und legte den Zettel auf den Schreibtisch. „Ah, danke, Mr. Carson. Dann gehe ich wieder.” Verlegen schloss die junge Frau die Tür. Carson blickte ihr kurz nach. Dumont also, wie interessant! Dann wandte er sich seinem Telefon zu und tippte die Nummer der Polizei von Arlington.
 
‚Angel021’: Kommst Du auch aus Arlington?
‚Rose’: Ja.
‚Angel021’: Und was machst Du gerne?
Diana dachte angestrengt nach. Was sollte sie schreiben? Wie konnte sie schnell herausfinden, ob sie mit einem harmlosen Kerl oder mit einem psychopathischen Killer chattete? Was waren die Vorlieben dieses Typen?
‚Rose’: Fortgehen, Kino,...aber am liebsten kuschle ich.
‚Angel021’: Mit wem?
Diana spürte, dass sie die Neugier des Mannes geweckt hatte.
‚Rose’: Am liebsten wäre es mir mit Dir...
‚Angel021’: Aha...wie stellst Du Dir mich überhaupt vor?
Jetzt wusste Ms. Hawkins, was zu schreiben war.
‚Rose’: Muskulös, sexy, braungebrannt, südländischer Teint.
Diana hatte ihm genau die Merkmale aufgezählt, die der Mörder Susan Thompson in seinen Mails mitgeteilt hatte. Sie musste einige Augenblicke warten, bis sie eine Antwort bekam.
‚Angel021’: Es kommt mir so vor, als könntest Du mich konkret vor Dir sehen. Genau so sehe ich aus.
‚Rose’: Und wie stellst Du Dir mich vor, mein Engel?
‚Angel021’: Dunkle Haare, wunderschöne Augen, schlanker Körper, bezauberndes Lächeln...ich könnte noch Dutzende von weiteren Sachen aufzählen, aber...
‚Rose’: Ich habe wirklich dunkelbraunes Haar und bin schlank.
‚Angel021’: Meine Rose, wie viele Jahre blühst Du denn schon?
Meine Rose, er hat meine Rose geschrieben. Aber war das ein eindeutiger Beweis für die Identität dieses Kerls? Nein, leider. Diana hatte sich ja auch den Nickname: ‚Rose ‚ gegeben, also, war das kein Beweis. Sie hatte noch gar nichts in der Hand. Es blieb ihr jetzt nur noch eine Möglichkeit: Diana musste weitermachen...
‚Rose’: 21.
Diana war zwar schon 26 Jahre alt, doch erstens schien der Mörder auf jüngere Mädchen fixiert zu sein und zweitens sah sie laut ihrer Freunde jünger aus als sie war. Darum musste sie diese Notlüge anwenden.
‚Angel021’: Ich werde in einem Monat 27. Ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn Du mit mir feiern würdest.
Diana hatte ihn am Haken. Das dachte sie wenigstens.
‚Rose’: Sicher doch, wenn ich Dich bis dahin besser kennen lerne. Weil ich finde, Du bist ein echt netter Kerl.
‚Angel021’: Das bin ich auf jeden Fall, meine süße Rose. Und Du wirst mich schon besser kennen lernen.
‚Rose’: Was machst Du überhaupt beruflich?
‚Angel021’: Momentan arbeite ich als Künstler. Ich male und fotografiere sehr gerne. Mich würde es sehr reizen, ein Porträt von Dir zu schaffen. Was hältst Du davon?
‚Rose’: Hört sich interessant an. Richtig verführerisch.
Diana fühlte sich auf einmal unsicher. Sie wusste nicht, warum, aber es überkam sie ein komisches, kaltes Gefühl.
‚Angel021’: Und was machst du beruflich, meine Süße?“
So, das war es. Jetzt musste Diana ihre Fantasie spielen lassen. Welche Arbeit würde ihn reizen? Ok, versuchen wir’s damit...
‚Rose’: Momentan studiere ich und gelegentlich verdiene ich mir als Fotomodell etwas Taschengeld.
‚Angel021’: Oh, das hört sich verdammt verlockend an. Könntest Du mir ein Bild von Dir schicken?
‚Rose’: Aber nur, wenn Du mir auch eines von Dir schickst!
Diana musste wiederum einige Sekunden auf eine Antwort warten.
‚Angel021’: Natürlich. Wie ist denn Deine E-Mail-Adresse?
So, jetzt musste Diana nachdenken. Sollte sie dem Typen ihre wirkliche E-Mail-Adresse geben. Wenn nicht, welche dann? Nein, sie musste es tun.
‚Rose’: sie lautet: dianahawkins@hotmail.com . Und Deine?
,Angel021’: ah, Diana heißt Du also. Ein schöner Name.
‚Rose’: Deine E-Mail-Adresse?
,Angel021’: Liebe Diana, du hast sicher einen Freund, oder?
‚Rose’: Leider nein. Ich wollte aber eigentlich deine E-Mail-Adresse wissen.
,Angel021’: sorry… angel021@aol.com . Ich warte schon auf Dein unwiderstehliches Foto.
‚Rose’: Mir geht es genauso.
‚Angel021’: Meine Süße, ich muss leider gleich aufhören. Ich habe nämlich noch einen Fotoauftrag zu erledigen. Aber am liebsten wäre mir eine Session mit Dir, Rose.
‚Rose’: Ja, das wäre toll. Schade, dass Du schon gehen musst. Aber ich weiß ja, wie ich Dich erreichen kann.
‚Angel021’: Also, bis bald, meine blühende Schönheit!
Noch bevor Diana Hawkins eine weitere Frage stellen konnte, erschien folgende Zeile am Monitor. ‚Angel021’ verlässt den Channel.“
 
„Ja, hier spricht Direktor Roy Carson von der Polizei Dallas. Könnte ich bitte Direktor Payton sprechen?“ Nach einer kurzen Wartezeit wurde er mit seinem gewünschten Gesprächspartner verbunden. „Hier Direktor Payton!“ „Hallo, Ed, wie geht’s? Ich bin’s, Roy Carson aus Dallas.” „Ah, Roy, was verschafft mir die Ehre? Hast ja lange nichts mehr von Dir hören lassen...also, was gibt’s?“ Carson kam gleich zur Sache. „Ed, bei Euch ist ja momentan die Hölle los. Dieser Mordfall an dem Mädchen muss Euch wirklich Sorgen bereiten...“ Er sprach unschuldig weiter. „Wer ist eigentlich für den Fall zuständig? Nein lass mich raten,....Andre Dumont?“ Hawkins seufzte. Er wusste, was jetzt kommen würde. „Roy, was willst Du?“ “Willst Du wirklich dieses Nervenbündel so einen Fall bearbeiten lassen? Dumont? Der hat doch nicht alle Tassen im...“ Carsons bösartige Stimme wurde von Payton unterbrochen. „Roy, sei ja ruhig! In den drei Jahren, die Inspektor Dumont für uns arbeitet, hat er wirklich vorbildliche Polizeiarbeit geleistet, wir hatten nie mit ihm Probleme. Ich weiß, dass das damals in Dallas ein wenig komplizierter war, aber...“ „Aber was?“ schnauzte Carson. „Ich meine, er wird damals auch nicht den besten Vorgesetzten gehabt haben. Für Dich war ja schon seit seinem ersten Arbeitstag ein Loser. Da braucht es Dich nicht zu wundern, wenn Dumont von Dir die Schnauze voll hatte und um Versetzung gebeten hatte!“ Das hatte gesessen. Aus dem Hörer vernahm Edward Payton nur ein wütendes Schnaufen. Dann meldete sich der nervende Carson wieder zu Wort. „Weißt Du überhaupt, dass Dein toller Inspektor lauter toten Menschen nachjagt? Glaubt er vielleicht, DIE hätten das Mädchen auf dem Gewissen. Wahrscheinlich haben SIE das arme Ding so erschreckt, dass sie gestorben ist...warum wendet er sich nicht gleich an die ‚Ghostbusters’?“ Ein sarkastisches Lachen ertönte aus dem Hörer. Dieser verdammte Schweinehund! „Ich wünsche Dir viel Glück bei diesem Fall, weil Glück wirst Du dringend brauchen. Dumont wird diesen Fall niemals lösen, aber tröste Dich...“ Carsons’ Stimme wurde wieder bösartig. „...vielleicht stellt sich ja der Täter selbst. Ansonsten sehe ich keine Hoffnung für Dich. Also, Ed, ich wollte Dich nur helfen. Stell Dumont von dem Fall ab und ich schicke Dir zwei fähigere Leute, die blitzschnell den Mörder hinter Gittern bringen. Die suchen nämlich nicht nach Toten...“ Edward Payton donnerte verärgert den Hörer auf die Telefongabel. So ein dummes Arschloch! Er saß noch einige Minuten da und musste sich über Carsons’ Bemerkungen ärgern. Nein, er würde Dumont weiterarbeiten lassen. OK, bei einigen Fällen, die ihn an den Mord an seiner Schwester erinnern, versetzt er sich zuviel hinein, doch ansonsten ist er ein sehr verlässlicher und sorgfältiger Mitarbeiter, der dringend sein weiteres Vertrauen benötigte. Aber was quasselte Carson da von Toten? Payton wusste nur von dem Mädchen im Park, was hatte Dumont bloß herausgefunden. Am besten war es, ihn selber zu fragen. Er nahm sein Telefon und wählte die Durchwahl von Andre Dumonts Büro. Nach siebenmaligem Läuten legte er den Hörer wieder auf. Wo war denn dieser Dumont schon wieder. Schnell suchte er nach der Handynummer des Inspektors.
 
„He, Diana! Wie geht’s?“ Diana Hawkins drehte sich überrascht um und sah Andre Dumont im Türrahmen stehen. Sie wusste nicht, ob sie ihm vom Chat mit ‚Angel021’ erzählen sollte. Nein, es wäre besser, erst damit herauszurücken, wenn sie mehr über diesen Kerl herausgefunden hatte. „Ah, Andre! Na ja, viel Arbeit....und was hast du herausgefunden?“ So! Diana versuchte, gleich Andre losreden zu lassen, bevor er etwas merkte. Sie hatte noch immer ein mulmiges Gefühl und musste sich zusammenreißen, um ein glaubwürdiges Lächeln hervorzubringen. „Nicht viel. Dieser Sylka war bis zu seinem Tod sieben Mal mit der Polizei in Konflikt gekommen, auch wegen Körperverletzung und abnormalen Handlungen gegenüber jungen Frauen. Mir gibt nur eine Spur Hoffnung. Sylka sprach mit seinem Psychiater oft über seine große Liebe. Ihr Name war Janette und sie verließ unseren vermeintlichen Mörder. Das hinterließ bei ihm ein traumatisches Verhalten. Er wurde nicht damit fertig, dass diese Frau ihn nur verlassen hat. Und nun versuche ich, diese Frau ausfindig zu machen. Vielleicht bringt sie uns weiter.“ Diana hatte ihm interessiert zugehört. „Andre, aber wenn dieser Sylka tot ist, was hilft uns dann die Suche nach dieser Frau?“ „Na ja, ich habe so eine Vorahnung. Dr. Conroy, der Betreuer von Sylka hat angemerkt, dass er diese Janette immer ‚Rose’ nannte. Ich glaube, sie könnte uns weiterhelfen. Außerdem passt mir etwas in Sylkas Akte nicht zusammen. Irgendetwas ist faul.“ Diana sah Dumont voller Bewunderung an. Er war mit Leib und Seele ein Bulle. Ok, man musste auch einer sein, aber Andre wirkte in diesen Minuten für sie wie ein ganz Großer. „Überfordere dich nur nicht, Andre!“ schoss es plötzlich aus ihr hinaus. Die Sorge um seine Gesundheit war nicht vergessen. „Ich finde es lieb von dir, dass du dich um mich sorgst, aber ich muss nun mal alles Mögliche versuchen, um diesen Mörder zu fassen.“ Er betrachtete ihr hübsches Gesicht, ihre schönen Augen. „Diana?“ „Hm?“ „Wenn diese Sache vorbei ist, hättest du Lust, mit mir mal Essen zu gehen?“ Diana Hawkins war positiv überrascht. Endlich hat er mich eingeladen! „Liebend gerne, Andre!“ Sie stand auf und berührte mit ihrer Hand sanft sein Gesicht. Dann flüsterte sie fast: „Aber pass bitte auf dich auf...“ Andre wusste nicht, was er sagen sollte. Er strich ihr durch ihr langes Haar und sah sie unentwegt an. „...Versprochen!“ stammelte er. Und wieder mal war es das Piepsen seines Handys, das diese wunderbare Ruhe störte. Mit einer Wut im Bauch zog er das nervende Gerät aus seiner Tasche und sah am Display die Nummer von Payton, dem Polizeidirektor. „Was will denn der jetzt?“ dachte er laut nach. „Ja, Dumont?“ „Ah, endlich erreiche ich sie. Wo sind sie gerade?“ „Bei Diana....äh...Miss Hawkins in der Computerabteilung. Ist was passiert?“ „Nein, könnten sie schnell zu mir heraufkommen. Ich muss mit ihnen sprechen.“ „Ok, bin schon auf dem Weg...“ Verärgert beendete er das Gespräch und wandte sich noch einmal an Diana. „Also, ich muss zum Boss. Leider. Aber wie schon Arnold Schwarzenegger im ‚Terminator’ sagte: Ich komme wieder!“ Diana musste schmunzeln. Jetzt hatte sie ihn schon so weit gebracht, dass er anfing, Sprüche zu reißen. Sie kamen sich näher, keine Frage. Und Diana fand es schön. Sie winkte dem hinauseilenden Inspektor nach und begab sich anschließend wieder hinter ihren Schreibtisch, wo noch viel Arbeit auf sie wartete.
 
„Anhand dieses Faxes, welches mir Direktor Carson gerade aus Dallas zukommen ließ, müsste es sich bei der gesuchten Frau um Janette Peeters handeln. Ihren Wunsch auf ein Gespräch mit der Dame kann ich leider nicht erfüllen.“ „Warum denn nicht?“ kam gleich die Frage von Dumont. „Na ja, Ms. Peeters ist seit dem 19.Mai 1999 tot. Sie wurde in ihrem Wagen erstochen aufgefunden. Was den Verdacht, dass dieser Sylka für mehrere Morde verantwortlich ist, erhärtet, ist die pikante Tatsache, dass diese Frau auch mit drei gezielten Stichen in den Oberkörper getötet wurde, genauso wie Susan Thompson.“ Kam die erschütternde Antwort von Payton. „Was haben sie gesagt? Wann ist Ms. Peeters getötet worden?“ „...am 19.Mai 1999, warum fragen...Oh mein Gott!“ Direktor Paytons Gesichtsausdruck konnte man ablesen, dass er dieselbe Theorie wie Dumont hatte. Dieser Sylka, ob nun tot oder nicht, tötet seine Opfer immer an einem 19.Mai. So war die Theorie, die Praxis war komplizierter. „Es gibt übrigens noch eine Gemeinsamkeit von Daten in Sylkas Akte. Seine Mutter starb an einem 13.11., genauso wie dreizehn Jahre später auch Sylka selbst. Na ja, aber wer soll dann der Täter sein?“ Payton sah den fast verzweifelten Blick in Dumonts Augen und ermutigte ihn: „Inspektor Dumont, ich weiß, dieser Fall wird immer verwirrender, ...aber ich glaube, sie sind der richtige Mann dafür.“ „Danke, Direktor Payton, ich weiß das zu schätzen, darum ist es jetzt besser, wenn ich wieder bei meiner Arbeit weitermache.“ Dumont erhob sich aus dem Stuhl und verließ wenige Sekunden danach das Büro von Direktor Payton. So, nachdem er dem Boss jetzt alle Neuigkeiten zum Fall anvertraut hat, konnte es jetzt weitergehen. Aber wie sollte er nun vorgehen? Die heiße Spur, Janette, ist auch nicht unter den Lebenden und so die Chance, Näheres zu Sylka heraus zu bekommen wieder geringer geworden. Dr. Steve Conroy, Sylkas ehemaliger Psychiater, dürfte nichts mehr wissen, was von Bedeutung wäre. Aber Dumont sah noch eine Chance: den ehemaligen Arbeitskollegen und Mitbewohner von Paul Sylka aufzuspüren. Vielleicht konnte mit seiner Hilfe einiges geklärt werden. Voller Zuversicht schritt Andre Dumont zu seinem Büro, um unverzüglich die Suche nach diesem Mann zu veranlassen.
„Danke für ihre Hilfe! Auf Wiederhören!“ Dumonts Anruf bei ‚Chevrolet Texas’ war sehr hilfreich gewesen. Es war die Firma, in der Sylka zuletzt gearbeitet hatte...und wo er ums Leben kam. Der Mitarbeiter, der mit Sylka zusammengewohnt hatte, war ein mexikanischer Einwanderer und hieß Ramon Hernandez. Sein letzter gemeldeter Wohnsitz war außerhalb von Dallas, aber diese Wohnung war nun schon längst weitervermietet worden. Andre Dumont wandte sich zu seinem Computer und sah in der Verbrecherkartei nach diesem Hernandez nach und wenige Sekunden später fand er tatsächlich eine Akte. Oh, wie interessant! Der Mexikaner war sowohl in seiner Heimat als auch in den Vereinigten Staaten schon mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Ladendiebstähle, Drogenbesitz und Körperverletzungen standen bereits auf der Liste seiner Delikte. Ohne noch irgendwelche Zeit zu verlieren, gab Dumont per Anruf gleich die Suche nach diesem Mann heraus.
 
 
DIENSTAG, 22.Mai 2001
 
Ha, jetzt wird das Geheimnis um die Identität meines süßen Verehrers bald gelüftet werden. Den Brief gut sichtbar am Spind befestigt huschte Juliette sogleich um die Ecke und wartete gespannt. Sicher, die Chance, dass ihr Märchenprinz jetzt sofort den Brief abholen würde, war mehr als gering, aber wenn es ein Mitschüler war und davon musste sie doch ausgehen, würde es wenigstens seine Neugier wecken. Ihre hübschen blauen Augen ein wenig zugekniffen, konzentriert, ja fast wie hypnotisiert auf ihren Spind blickend, harrte sie aus. Noch knapp zehn Minuten bis zum Unterrichtsbeginn! Hoffentlich geht’s sich die Zeit aus, um ihn auf frischer Tat zu ertappen. Eine schrille Stimme hinter ihr ließ sie aus ihren Gedanken reißen. „He, Juliette, was machst denn da?“ Es war Emily Watson, eine Mitschülerin von Juliette. Sie konnte eine richtige Nervensäge sein. „Ah, Emily, du bist es!“ zischte es durch Juliettes Lippen. So eine Freude! „Wie geht’s? Alles im Lot?“ fragte das klein gewachsene Mädchen mit den übergroßen Brillen. „Ja sicher, es passt schon alles!“ Und jetzt, verschwinde wieder! Ihr Wunsch wurde leider nicht erfüllt. Emily Watson bohrte weiter an ihren Nerven. „He, hast du schon fleißig Mathe gebüffelt? Hä, ich checke es nämlich gar nicht. Das wird sicher morgen ein Reinfall! Hä hä, so was Blödes!“ Oh, dieses nervende Kichern! Aber Juliette hätte wirklich fast aufs Lernen vergessen! So ein Scheiß, da steht mir heute noch ein prima Lernnachmittag bevor... „Natürlich hab ich schon gelernt....und du wirst es schon schaffen, glaub mir!“ Juliette hoffte, Emily irgendwie loswerden zu können. Und tatsächlich schien sich die Nervensäge wieder auf den Weg zu machen. „Ok, wenn du meinst! Ja, hoffentlich hast du recht, obwohl es ist ja wirklich so ein blöder Stoff. Komplizierter geht’s ja kaum mehr. Hä hä! Also, ich gehe schon mal in die Klasse. Kommst auch?“ „Ja ja, gleich...muss nur noch schnell was aus meinem Spind holen...“ Erleichtert registrierte sie Emilys Nicken und ihr Verschwinden in das Klassenzimmer. So, und jetzt wieder zurück auf meinem Beobachtungsposten! Sie drehte sich wieder um die Ecke und erstarrte. Das gibt’s doch nicht! Oh nein! Mit großem Bedauern, fast Entsetzen, musste sie zur Kenntnis nehmen, dass der Brief von ihrem Spind weg war. Sie hatte ihren Verehrer verpasst. Wütend hüpfte sie auf der Stelle hin und her! Scheiße! Nein, nein, nein! Sie rannte zu ihrem Spind, begutachtete ihn ungläubig von oben nach unten, aber außer einigen Rostflecken und bereits ausgebleichten Stickern war nichts Außergewöhnliches zu erkennen. Auch auf dem Boden lag kein rotes Kuvert. Irgendwer hat es weggenommen. Und jetzt wich Juliettes Wut der Unwissenheit. Hatte ihr Verehrer den Brief an sich genommen, wie es ja auch geplant war, oder...nein, warum sollte jemand anderes einen fremden Brief klauen? Nein, ER hat ihn sicher. Hoffentlich gefällt er ihm. Dieses dumme Gans Emily! Sie hat alles vermasselt. Wut stieg wieder durch ihren Körper. So, die braucht mich heute ja nicht mehr blöd anreden. Dann setzt es aber was! Verärgert wendete sie sich von ihrem Spind ab und machte sich auf den Weg zu ihrer Klasse.
 
Während Juliette fast trotzig ihre Klasse betritt, öffnete der Mann im Trenchcoat ganz sachte ein rotes Kuvert. In seinem alten Ford sitzend, zog er langsam einen weißen Zettel heraus.
Oh, Juliette, meine hübsche Rose! Beinahe hättest du mich ertappt, aber ich war einfach zu gerissen für dich. So, jetzt schauen wir mal, was du mir geschrieben hast. Er faltete den Zettel auseinander und begann erregt zu lesen.
 
Lieber Unbekannter!
 
Ich habe mich über deine wunderschönen Briefe sehr gefreut!
Du scheinst ein sehr romantischer Typ zu sein.
Ich bin zum Entschluss gekommen, dass du anders als die meisten anderen in meiner Schule bist. Nach langem Überlegen musste ich sogar feststellen, dass du ziemlich einzigartig in deiner Art bist.
Keinem anderen von den Jungen traue ich es zu, so schmeichelnd zu schreiben.
Obwohl ich es ziemlich interessant finde und einen kleinen Nervenkitzel bekomme, wäre ich wirklich nicht abgeneigt, deine wahre Identität zu erfahren.
Es wäre mir sogar ein großes Anliegen, dich privat kennen zu lernen.
Ich hoffe, dass du mir meine Bitte erfüllen könntest, da mir sehr viel daran liegt.
 
Kuss,
Deine Juliette
 
P.S.: Lass mich bitte nicht allzu lange warten!(Ha ha)
 
Keine Sorge, meine Liebe, ich werde dich nicht lange warten lassen, darauf kann ich dir mein Wort geben...
 
„Was? Das kann doch nicht ihr Ernst sein!“ Andre Dumont konnte es nicht fassen. Wie ein Anruf nach Dallas herausstellte, hatte die Polizei kein Foto von Paul Sylka in ihrer Datenbank. Sie beharrten zwar darauf, dass mindestens eines von ihm gespeichert sein müsste, aber er schien so, als ob sich die Aufnahmen in Luft aufgelöst hätten. Und auch ein weiterer Anruf, diesmal nochmals zur Psychiatrischen Heilanstalt ergab dieselbe Antwort. Wie konnte es sein, dass alle Fotos von Sylka, die im Umlauf sein müssten, verschwunden sind. Ja, es wurde immer geheimnisvoller und Dumont wusste momentan keinen Weg heraus.
Auch die Fahndung nach Ramon Hernandez brachte vorerst kein Ergebnis. Es war zum Haare raufen. Er brauchte Ergebnisse, Spuren. Aber alle, die er fand, lösten sich wie Staub in Luft auf. Fassungslos knallte Andre den Hörer auf die Gabel und setzte sich in seinen Bürosessel. Wer bist du? Ja, WER bist du? Er ließ die Frage durch seinen Kopf wandern. Paul Sylka, ein Mann mit scheinbar unendlich vielen Rätseln.
 
Während Inspektor Dumont auch bis zum Abend noch keine weiteren brauchbaren Ergebnisse ermitteln konnte(trotz nochmaliger Durchsuchung von Susan Thompsons Zimmer und des Wagens der Mutter), packte Juliette total genervt und ausgepowert ihre Mathematikunterlagen weg. So, mehr geht nicht mehr. Und auch noch sturmfreie Bude! Ihre Eltern sind nämlich heute zu einer Firmenfeier ihres Vaters eingeladen worden und Juliette brauchte nicht mitgehen. Zum Glück! So, was gibt’s denn heute Abend so in der Glotze? Flink griff sie zum Fernsehgerät und zappte durch alle Sender, bis sie bei den ‚Friends’ Stopp machte. So, vorher die Arbeit, jetzt das Vergnügen! Da registrierte sie ein unruhiges Knurren in der Magengegend. Sie hatte heute noch gar nichts gegessen. Wie wär’s mit einer Pizza? Voller Vorfreude schwang sie sich zum Kühlschrank, öffnete ihn eilig-und seufzte. Schade, keine Pizza mehr da! Enttäuscht wollte Juliette sich wieder an den Rückweg machen, als ihr ein Gedanke kam. Ich lasse mir einfach eine Pizza kommen, es hat vor kurzem sowieso in der Nähe ein Nähe Pizzaladen mit Lieferservice aufgemacht, das war’s! Juliette, ich muss mich wirklich jetzt selber loben. Tolle Idee! Sie suchte sich aus der Postablage das vor kurzem geschickte Flugblatt der Pizzeria ‚Alessandro’ heraus und flitzte voller Heißhunger zum Telefon, um die Bestellung aufzugeben. „Hier Pizzeria ‚Alessandro’! Was kann ich für Sie tun?” meldete sich eine typisch nach Italiener klingende Stimme. „Ja, hallo! Ich hätte gerne eine Salamipizza mit viel Pfefferoni. Könnte sie mir jemand bis neun Uhr vorbeibringen?“ „Ja, kein Problem! Wie lautet ihre Adresse?“ „Baker Street 18, ich wohne im fünften Stock, Tür Nummer 64. Mein Name ist Juliette Sanders. Ok?“ „Ok, kein Problem. Um neun Uhr ist die Pizza bei ihnen. Ich wünsche ihnen einen guten Appetit.“ „Danke, freu mich schon. Auf Wiederhören!“ Erfreut legte Juliette den Hörer wieder auf die Gabel und setzte sich wieder zum Fernseher, wo Ross und Rachel gerade wieder eine ihrer Beziehungskrisen durchmacht. Verträumt verfolgte Juliette die Serie und merkte danach zunächst gar nicht, dass es schon kurz nach neun war.
 
Pünktlich fünf Minuten vor neun hielt der Pizzabus vor dem Wohnhaus. Als der Lieferant mit der Pizza aus seinem Wagen steigen wollte, fiel ihm im Rückspiegel ein Schatten hinter dem Bus auf. Als er noch einmal hinsah, war aber nichts mehr zu sehen. Muss ich mich geirrt haben! Schließlich war es um diese Zeit schon etwas düster und da konnten einen die Augen leicht einen Streich spielen. Der Pizzamann schloss die Fahrertür hinter sich und machte sich auf dem Weg zur Tür, als er ein Knacken hinter sich wahrnahm. Erschrocken drehte er sich um. Alles wirkte ruhig. Mann, Luigi, was ist heute nur mit dir los? Verwundert drehte er sich wieder Richtung Eingangstür. Doch bevor er sie öffnen konnte, erklang ein Räuspern hinter ihm. Wieder drehte er sich um. Das Letzte, was er wahrnahm, bevor sich ein Jagdmesser tief in sein Herz bohrte, war ein seltsamer Mann in einem schwarzen langen Trenchcoat. In dessen Jackentasche steckte eine Blume. Eine verwelkte Rose. Dann brach er auf dem Asphalt zusammen und starb.
 
Nachdem ‚Friends’ aus war und schon ‚Sex and the City’ anfing und der Pizzalieferant noch immer nicht da war, obwohl es ja schon zehn Minuten nach neun war, wurde Juliette ein wenig ungeduldig. Sie wollte schon zum Telefon gehen und den Leuten bei der Pizzeria Feuer unterm Hintern machen, als die Haustürglocke ertönte. Zuerst kurz einmal, dann zweimal schnell hintereinander. Ja, das musste ihre Pizza sein! Hmmm! Sie nahm ihre Geldbörse vom Wohnzimmertisch und ging zur Tür. Zuerst sah sie durch den Spion und entdeckte vor ihrer Tür einen Mann mit einer grünen Kappe mit der unübersehbaren Aufschrift ‚Alessandro’ auf dem Kopf. Außerdem trug er ein Namensschild, ‚Luigi’ stand darauf. Obwohl der Lieferant einen langen Trenchcoat trug und einen mysteriösen Blick hatte, war Juliette nur eines wichtig: die Pizzaschachtel in seiner Hand. Ihre Hand griff zum Sicherheitsschloss und öffnete es mit einer flinken Bewegung.
 
Ah, ich höre sie schon kommen! Jetzt gehört sie gleich mir...hoffentlich schöpft meine Süße nicht Verdacht, aber mit der Kappe, dem Namensschild und der lecker duftenden Pizza in der rechten Hand wird schon alles klappen. Aha, wenn ich mich nicht irre, schaut sie mich gerade durch den Spion an. Ja, soll sie nur, meine bezaubernde Rose, sie kann es ruhig tun.
 
„Ich mach’ schon auf!“ Juliette öffnete fast hastig vor Hunger die Wohnungstür und blickte ihrem Mörder das erste Mal richtig in die Augen. Als sie sein düsteres Grinsen und das aufblitzende Messer in seiner linken Hand bemerkte, war es schon zu spät...
 
 
MITTWOCH, 23.Mai 2001
 
Es war gegen zwei Uhr morgens, als Viviane und Howard Sanders leicht angetrunken und in heiterem Gefühlszustand im fünften Stock aus dem Lift stiegen. Howard erzählte seiner Frau gerade bereits zum fünften Mal an diesem Abend denselben Witz, und obwohl beide die Pointe schon auswendig kannten, mussten die zwei trotzdem vor der Haustür kräftig auflachen. Ja, der Alkohol hat sicher das Wesentliche zum lockeren Gemütszustand von Juliettes Eltern beigetragen, aber es sollte auch das letzte Mal für sehr lange Zeit sein, dass sie über etwas herzhaft lachen sollten. Während dem Gelächter drehte Viviane bereits den Haustürschüssel im Schloss um und öffnete die Türe langsam. Zuerst konnten sie nicht bemerken, welch dramatisches und grausames Ereignis hier vor wenigen Stunden stattgefunden hatte. Wie auch, es war auf den ersten Blick nichts Verdächtiges zu entdecken. Mrs. Sanders zog ihre Stöckelschuhe aus und wankte barfuss durch das Vorzimmer. Ihr Mann lächelte ihr glücklich nach. Und dann kam der Schrei. Ein so durchs Mark gehender Schrei, dass Howard Sanders ihn in seinem ganzen Leben nicht mehr aus seinem Kopf bringen würde. „Juliette...NEIN!“ So schnell er konnte lief der Ehemann in Richtung ihres Schreis, ins Wohnzimmer. Und als er den Raum betrat, schreckte er zuerst voller Schock zurück. Juliette Sanders lag halbnackt auf dem Wohnzimmertisch, überall klebte Blut, ob an Gesicht, Bauch oder Beinen. Auch auf den Möbel und den Fußboden war alles rot besudelt. Und obwohl beide Elternteile unter großem Schock standen, konnten sie die große Stichwunde in der Herzgegend nicht übersehen. Auch nicht die verwelkte Rose, die auf Juliettes blutigem T-Shirt lag.
 
Oh nein! Nein! Liz! LIIIZZZ!! Das Handy riss Andre Dumont aus seinem Albtraum. Seit er an diesem Fall arbeitete, träumte er jede Nacht von seiner toten Schwester. Er sah, wie der Mörder sie umbrachte und er konnte in diesen Traum nicht eingreifen, nur nutzlos zusehen, wie ihm sein geliebtes Schwesterchen entrissen wurde. Erstmals seit langem war Dumont über das sonst eher lästige Handypiepsen eher erfreut, obwohl ein Blick auf die Uhr verriet, dass etwas passiert sein musste. Es war nämlich erst drei Uhr morgens. Und auf dem Display blinkte auch schon die Nummer des Reviers auf. Noch ein wenig ruhelos wegen des Albtraums musste er erst noch einmal tief durchatmen, bevor er den Anruf annahm. „Ja, hier Dumont! Was gibt’s?“ „Herr Inspektor, ich habe sehr schlechte Nachrichten...“ Und obwohl Andre Dumont noch gar nichts vom Mord an Juliette Sanders wissen konnte, sagte ihm der Unterton des anrufenden Beamten schon alles. „...es hat ein zweites Opfer gegeben, nicht wahr?“ „...woher...naja, im Grunde genommen, sind es zwei Opfer, Herr Inspektor. Beide gestorben durch Stiche ins Herz. Vermutlich derselbe....Herr Inspektor?“ Dumont hatte bereits aufgelegt.
 
Juliette, nun ist es vorbei. Zugegeben, es war wirklich leichter als ich dachte. Susan hat sich wenigstens gewehrt aber du...du konntest nicht realisieren, dass ich dich töten wollte. Auch als ich dich vergewaltigte, ließ du alles über dich ergehen. Braves Mädchen! Der Mörder saß in seinem Drehsessel, vor ihm ein brennender Mülleimer. Darin schmolzen gerade Fotos von einem schönen Mädchen in sich zusammen. Bei näherem Betrachten sah man, dass das Mädchen Juliette Sanders war. Der Mann legte leise vor sich herflüsternd weitere Aufnahmen ins Feuer. Die rote Glut verschlang sie auf der Stelle. Du hast nie geschluchzt, Tränen rannten über dein Gesicht, aber du machtest es mir wirklich leicht. So gefällt es mir. Ich wusste doch, dass ich auf dich zählen kann. Und als ich das erste Mal das Messer in deinen Körper rammte, konnte ich die Ergebenheit, die Resignation in deinen wunderhübschen blauen Augen sehen. Na ja, meine Rose, du bist Geschichte. Nun werde ich mir eine Neue suchen, wunderschön blühend, nur auf mich wartend, nur auf mich. Hmm...wie wär’s mit... Der Mann im schwarzen Trenchcoat drehte sich voller Tatendrang zu seinem Laptop. Wenn man diesen Raum genau betrachtete, fiel auf, dass darin eine wahre High-Tech-Ausrüstung vorhanden war. Neben dem Computer lagen Wanzen überall umher, außerdem eine Reihe von verschiedenster Software und Hardware und direkt daneben Hackeranleitungen und Spionagebücher. Mitten in dieser fast unwirklich wirkenden Welt saß der Mann im schwarzen Trenchcoat voll Eifer vor seinem Laptop, nach etwas suchend.
So, jetzt sehen wir einmal nach, wer du wirklich bist, meine Süße Diana. Mit flinken Fingerbewegungen tippte der Mann im Trenchcoat alle möglichen Befehle in die Tastatur des Laptops. Als das Ergebnis seiner Suche mitsamt Foto auf dem Bildschirm anschien, huschte ein gehässiges Lächeln über sein Gesicht. Ich glaube, du hast ein wenig gemogelt, liebe Diana. Du bist gar nicht 21. Aber, ehrlich gesagt, wenn ich mir so dein Foto ansehe, du siehst wirklich verdammt sexy aus, echt verführerisch,...auch wenn du eine hinterlistige Polizeischlampe bist...
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.10.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Als junges Mädchen erfand ich schon lustige Geschichten, die ich meiner Nichte erzählte. Meine Dichterei geriet in Vergessenheit, erst meine Kinder Walter und Beatrix gaben mir, durch ihren herzigen Kindermund die Idee wieder zu schreiben.
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