Natalie Kurz

Gewidmet einem Unbekannten

Er saß auf einer Bank. Es war die einzige schwarz gestrichene im Park. Und er war der Einzige an diesem sonnigen Tag im Park der nicht glücklich zu sein schien. Alle anderen Leute hatten ein Lächeln auf den Lippen. Es gab eigentlich keinen Grund nicht glücklich zu sein. Kinder spielten auf den Wiesen, Eltern spielten entweder mit ihren Kindern oder saßen auf Decken unter den weit ausladenden, viel Schatten spendenden Kronen der Parkbäume. Andere Leute gingen allein oder mit ihren Hunden spazieren.
    Als sie ihn entdeckte, saß Ginnie auf ihrer Decke unter einem Baum, ganz in der Nähe der einzigen schwarz gestrichenen Bank. Sie hatte vor ein paar Stunden ihr erstes eigenes Buch fertiggestellt und überlegte nun, wem sie es widmen sollte. Sie war alle Personen, die in Frage kamen, durchgegangen. Doch keinem davon wollte sie ihr Buch widmen. Bei ihrer Schwester überlegte sie länger, da diese Ginnie ein wenig zu ihrem Buch inspiriert hatte. Aber eben nur ein wenig.
    Doch dann sah sie ihn. Wie er allein und mit gesenktem Kopf dort auf dieser schwarzen Bank saß. Die Hände in den Schoß gelegt und die Beine gegeneinander gepresst. Als Ginnie ihn sah, vergaß sie ihre Widmung, ihr Buch, sie vergaß die ganze Welt, so sehr fesselte sie sein Anblick. Er saß da, als erwarte er jeden Moment den Weltuntergang. Seine Augen sahen starr auf seine Hände, als ob es nichts anderes auf der Welt geben würde. Als ein kleines Mädchen, das auf einen Baum geklettert war, herunterfiel und schrie, sah er nicht auf, drehte sich nicht um, um zu sehen, was passiert war. Es war, als hätte er es nicht einmal gehört. Ginnie hatte den Eindruck, dass er trauerte und verzweifelt war. Sie hatte den Eindruck, dass er etwas oder sogar alles verloren hatte. Sie hatte den Eindruck, dass egal, was man tun würde, um ihm zu helfen, nichts nützen würde. Ginnie dachte, dass er niemanden mehr hatte, der an ihn dachte. Er wirkte auf sie irgendwie verloren und am falschen Ort, wie ein Eisberg in der Wüste. Sie starrte ihn sehr lange an und auf einmal, als wäre er aus einem tausendjährigen Schlaf erwacht, starrte er zurück. Zuerst war Ginnie so erschrocken, dass sie wegschaute, aber dann guckte sie ihn wieder an. Seine Augen waren leer, aber nicht ausdruckslos. In seinen Augen stand trotz der Leere Angst und Verzweiflung. Irgendetwas in seinem Blick sagte Ginnie, dass er wollte, dass sie ihm hilft, dass sie ihn rettet. Er wollte, dass jemand an ihn denkt. Dass er nicht vollkommen vergessen wird. Sie sah ihn mit einem Blick an, der sagen sollte, dass sie ihn nicht vergessen würde und sie dachte dabei, dass sie noch nie in Augen gesehen hatte, die so leer schienen, aber gleichzeitig so viel sagten.
    Plötzlich lächelte er. Es war ein sehr vages Lächeln, vielleicht auch nur die Andeutung eines Lächelns, doch es schien, als wollte er ihr damit danken, dass sie ihn überhaupt angesehen hatte. Und sie glaubte, dass er verstanden hatte, was sie mit ihrem Blick sagen wollte. Dass sie ihn nicht vergessen würde. Er sah wieder auf seine Hände, die immer noch in seinem Schoß lagen und Ginnie entschloss sich, ihm ihr Buch zu widmen. Sie holte ihr Manuskript hervor und schrieb unter den Titel und ihren Namen: Gewidmet einem Unbekannten, dem ich versprach, ihn nicht zu vergessen.
    Und als Ginnie wieder aufsah, war er weg.  

Eine meiner ersten Kurzgeschichten überhaupt.Natalie Kurz, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.10.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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