Silvia Pree

Der Strafverteidiger

Wenzel Holzmann las sich eine neue Gerichtsakte durch.
Seinen nächsten Fall.
Genau genommen.
Er versuchte es.
Schon die ganze Zeit.
Aber er konnte die Fakten nicht behalten.
Nicht wirklich.
Entnervt legte er die Mappe nieder.
Eine Zigarette!
Eine kleine Pause würde ihm gut tun!
Er stand auf.
Griff das Zigarettenpäckchen und das Feuerzeug.
Ging langsam in die Küche der Anwaltskanzlei.
Zündete sich eine Zigarette an.
Schloss die Augen.
Inhalierte den Rauch genussvoll.
Zwei, drei Mal.
Gedankenverloren blickte er auf die Uhr.
Es war schon spät.
Vielleicht sollte er überhaupt heimfahren…
Morgen weitermachen….
Das war klüger als sich weiter zu quälen.
Eine Kollegin kam herein.
Nickte ihm wortlos zu.
Und suchte ein Trinkglas.
Wenzel beachtete sie nicht weiter.
Bis ihn ein lautes Klirren zusammenfahren ließ.
Die Kollegin lächelte ihn verlegen an.
Nichts passiert…

Das Klirren…
Es erinnerte ihn an gestern.
Gestern.
Als er mit seinem Mandanten Franz Mader beisammen gesessen war.
Hier in der Küche der Kanzlei
Nach dem Prozess.
Die Sekretärin hatte schnell Sekt besorgt.
Im Supermarkt um die Ecke.
Sie hatte ihn angestrahlt.
Für den Freispruch!
Sein erster Fall hier.
Und gleich ein Erfolg.
Franz Mader war ein großer, ungeschlachter Mann.
Er blickte auf ihn, Wenzel, herab.
Als sie nebeneinander standen.
Man stieß an.
Wenzel erinnerte sich an die großen Hände seines Mandanten.
Grob.
Ungepflegt.
Eine lange Narbe am Daumen.
Und ein schmaler Mund.
Brutal.
Hart.
Fast völlig hinter dem dunklen Schnurrbart verborgen.
Die Gläser klirrten.
Danke.
Franz Mader hatte während des ganzen Prozesses nicht viel gesagt.
Außer.
Ich war es nicht.
Sie holen mich da raus, ja?
Das hatte er, Wenzel, tatsächlich getan.
Es war nicht schwer gewesen.
Alles in allem.

Wenzel dämpfte die Zigarette aus.
Ja, es war nicht schwer gewesen.
Die Mutter war hysterisch gewesen.
Total aufgelöst.
Und sehr unsachlich.
Kein Wunder.
Ihr Sohn war missbraucht worden.
Auf dem Heimweg vom Fußballtraining.
Mehrfach.
Äußerst brutal.
Wenzel hatte kein Problem gehabt ihre Aussage zu zerpflücken.
Sie in Widersprüche zu verwickeln.
Der Bub war erst zehn Jahre alt.
Hatte in der Dunkelheit seinen Täter nicht richtig gesehen.
Aber an die Narbe konnte er sich erinnern.
Die Narbe an der Hand.
Mit der ihn der Täter gepackt hatte.
Da hatte der Angeklagte Glück gehabt.
Der Bub hatte von der linken Hand gesprochen.
Aber der rechte Daumen seines Klienten war vernarbt.
Der Rest war Routine.
Kein Sperma.
Der Täter hatte ein Kondom benutzt.
Oder besser gesagt mehrere.
Sicher war Mader einschlägig vorbestraft.
Aber der letzte Fall lag einige Jahre zurück.
Freispruch aus Mangel an Beweisen.
Wenzel erinnerte sich an das Gesicht der Mutter.
Nach der Urteilverkündigung.
Sie hatte hemmungslos zu schluchzen begonnen…
Konnte sich nicht mehr beruhigen.

Mader hatte sich verabschiedet.
Die Sektgläser und die Flasche standen noch immer da.
Auf dem Tisch in der Küche.
Halb leer.
Er, Wenzel, hätte sich freuen können.
Guter Einstand in der neuen Kanzlei.
Darauf konnte man aufbauen.
Aber genau genommen fühlte er sich ekelhaft.
So, als hätte er Teer gegessen.
Wenzel erinnerte sich.
Nach dem Freispruch.
Er war mit seinem Mandanten aus dem Gericht gekommen.
Ein paar Schüler fuhren mit dem Rad vorbei.
Einer bremste abrupt.
Um sich die Turnschuhe zuzubinden.
Fast genau vor ihnen.
Wenzel hatte sich dabei ertappt, wie er Mader beobachtete.
Und der hatte nur Augen für den Buben.
In seinen glänzenden Augen lag eine widerliche Geilheit.
Wenzel konnte förmlich sehen, wie Mader den Schüler auszog…
In Gedanken.
Er ist schuldig!
Blitzartig durchfuhr ihn die Erkenntnis.
Franz Mader war schuldig.
Aber er war freigesprochen worden.
Er selbst, Wenzel, hatte sich mit aller Kraft darum bemüht.
Einen grausamen Triebtäter freizubekommen.
Es würde neue Missbrauchsfälle geben.
Und neue Opfer.
Daran konnte es keinen Zweifel geben.
Wenzel stand vom Tisch auf.
Wie hatte sein Chef gestern noch zu ihm gesagt?
Vergessen Sie es, Holzmann.
Wir können so vieles nicht ändern…
Das gehört zu unserem Beruf.

Vivienne

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.10.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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