Harald Haider

Wenn Rosen verwelken - 10.SCHMERZEN

10.SCHMERZEN
 
 
„Möchten Sie auch einen Kaffee, Officer?“ Die attraktive Frau richtete ihren beunruhigten Blick auf den Polizisten, der neben ihr auf einem Stuhl Platz genommen hat. Auf das dankbare Nicken des Mannes hin stand Diana Hawkins auf und verschwand sogleich in ihrer Küche. Nachdem sie bei der Aufklärung des vermuteten Unterschlupfes Sylkas mithelfen konnte, war sie bereit wieder in ihre Wohnung gefahren zu werden. Obwohl die Ermittlungen durch die neuesten Spuren eine rasante Wendung genommen hatten und nun die große Chance bestand den Rosenmörder endlich zu fassen, war Diana noch total aufgewühlt. Es wäre einfach zu schön, wenn dieser Alptraum ein schnelles Ende finden würde. Einfach schon zu viele unschuldige Opfer, die weder einfach zur falschen Zeit am falschen Ort waren beziehungsweise einfach als nächstes Opfer ausgesucht wurden. Wie kann so ein Mistkerl einfach so brutal mit dem wertvollsten Gut umgehen, dem Leben? Aber er würde bald die gerechte Strafe für all seine Taten bekommen und Diana würde jeden Augenblick daran genießen. Paul Sylka hat ihren Verstand durcheinander gebracht, ihr Todesangst eingejagt und es soweit gehen lassen, dass die junge Frau nun sogar Polizeischutz bekam. Aber vor allem drehten sich ihre Gedanken im Moment fast nur um ihren Kollegen, den Mann, den sie liebte. Andre, hoffentlich passiert dir nichts. Komm bald wieder zu mir zurück, ich brauche dich! Obwohl sie keine Möglichkeit hatte, Andre Dumont zu sehen, fiel ihr Blick trotzdem aus dem Küchenfenster. Die warme Sonne würde in den nächsten Stunden aber einem Sommergewitter Platz machen. Von Westen konnte man schon graue Wolken erkennen, die sich langsam der Stadt näherten. Doch Diana fiel diese Tatsache gar nicht auf. Stattdessen drehte sie sich wieder der Espressomaschine zu und verfiel wieder in ihre emotionsgeladenen und verwirrten Gedanken.
 
Nachdem die beiden Polizisten ihren Kaffee getrunken hatten, war Diana gerade dabei, die benützten Tassen in den Geschirrspüler einzuräumen, als der Officer vor der Tür schwere Schritte auf den Treppenstufen hörte. Sie kamen immer näher. Vorsichtshalber fasste der Mann, der Jeremy Watts hieß und schon seit sechs Jahren bei der Polizei von Arlington war, an den Halfter. Vielleicht bekam er das selbst kaum mit, aber von seinem Unterbewusstsein wurden solche Bewegungen schon instinktiv und automatisch gesteuert. Man musste immer auf der Hut sein. Neugierig blickte der junge Mann die Stufen hinab, doch er konnte noch nichts erkennen. Egal, wer hier heraufkam, er musste Diana Hawkins als Ziel haben, denn die zwei anderen Wohnungen dieser Etage standen leer. Das hatte die Polizei bereits gecheckt. Außer der jungen Frau und seinem Kollegen war er der Einzige in diesem Stockwerk. Wer wird nun also gleich ins Blickfeld kommen? Seine rechte Hand fasste fester um den Halfter. Dann kam eine Gestalt in mittelblauer Jacke und schwarzer Hose und einer ebenso mittelblauen Kappe tragend die Treppe herauf. Um seine Schulter hing ein großer brauner Lederbeutel, gefüllt mit Dutzenden von Briefen. Auf dem Beutel stand in gelben Lettern groß ‚Post’ geschrieben. Etwas erleichtert ließ der Polizist seine Hand wieder sinken. Es war nur ein Briefträger. Langsam schritt der Mann in Blau die letzten Stufen hinauf, seinen Blick auf den Boden gerichtet. Erst als seine Füße auf den Fliesenboden traten, warf er Watts einen unschuldigen Blick zu. Wie sollte er auch wissen, warum diese Frau in der Wohnung Polizeischutzbenötigte? „’tschuldigung, ich hätte zwei Briefe für Ms. Hawkins…ist sie zu Hause?“ Jeremy Watts registrierte einen leicht besorgten Blick des Briefträgers, scheinbar war wirklich etwas verwirrt über den Mann in Uniform vor sich. „…kein Problem, geben Sie sie einfach mir. Ich werde sie dann an Ms. Hawkins weitergeben.“ „Ok, wenn sie meinen…warten sie…“ Der Mann ließ den Beutel zu Boden sinken und kramte darin herum. Schließlich zog er zwei Kuverte und ein kleines Päckchen heraus. „…ah, das gehört auch noch…Ms. Hawkins…“ Mit schüchternen Schritten näherte der Briefträger sich dem stämmigen Polizisten, der breit vor der Tür stand. „Hier!“ Er reichte Jeremy Watts Dianas Post. Dieser bedankte sich freundlich bei dem Postmann. Was dann in den folgenden Sekundenbruchteilen geschehen sollte, bekam der junge Polizist gar nicht mehr richtig mit. Auf jeden Fall griff der Mann in Blau ein weiteres Mal in den Beutel, zog etwas heraus und rammte dieses Etwas dem verdutzten Polizisten in den Bauch. Brutal wurde dann dieses Etwas, welches sich als Jagdmesser herausstellte, wieder aus der stark blutenden Wunde gezogen. Röchelnd und kein Wort von seinen Lippen bringend musste Jeremy Watts miterleben, wie er vom Briefträger zum Geländer gezerrt wurde. Das nächste und zugleich das Letzte, was er anschließend deutlich spüren würde, war der Aufprall auf dem harten Marmorboden im Erdgeschoß. Der Polizist war auf der Stelle tot. Mit einem zufriedenen Lächeln sah der Briefträger, der in Wirklichkeit gar keiner war, noch einmal zu der Leiche hinunter. Der wirkliche Postbeamte lag tot im Kofferraum seines Wagens. Beim Weg zur Arbeit war er von seinem Mörder überrascht worden. Dieser wandte sich der Wohnungstür zu. Das klebrige Blut, welches auf dem scharfen Messer klebte, wurde von ihm beilaüfig mit einem Tuch abgewischt. Dann klopfte Paul Sylka zweimal kurz an die Tür.
 
Mit starken Schmerzen bewegte Andre Dumont seinen Kopf nach rechts, mit seinen Augen suchte er nach Tom Wilkie, doch der starke Rauch machte dieses Unterfangen unmöglich. Langsam versuchte der Inspektor seinen rechten Arm zu heben, doch sofort ließ er ihn mit einem unterdrückten Fluchen wieder niedersinken. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hatte er sich die Hand gebrochen. Was war passiert? Dieser Dreckskerl von Sylka muss Sprengsätze im ersten Stock platziert haben. Beim Aufmachen der Zimmertür, aus dessen Raum Geräusche gedrungen waren, musste die Explosion ausgelöst worden sein. Alle waren in seine feige Falle getappt. Paul Sylka machte keine Fehler, außer er machte sie absichtlich. Andre Dumont musste sich fürchterlich ärgern. Warum war er so blind gewesen, hatte die Gefahr nicht kommen sehen? Er hätte es wissen müssen, dass dieser Mörder es ihnen plötzlich nicht so einfach machen würde. Verdammt! Mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte er erneut etwas zu erkennen. Dann musste er stark husten. Es brannte fürchterlich in seinem Rachen. Der stickige Rauch und das in der Nähe qualmende Feuer würden bald dafür sorgen, dass Dumont ersticken würde. Außer er fände aus dem Gebäude heraus. „Wilkie?“ Nur mit Mühe brachte er dieses Wort heraus, doch er erhielt keine Antwort. Noch einmal versuchte er es, doch erneut keine Antwort. Bitte, sag etwas, irgendwas. Mit zitternden Beinen richtete er sich langsam auf. Durch seinen linken Knöchel fuhr dabei ein starker Stich, der ihn fast wieder niederfallen ließ. Doch irgendwie konnte sich der Inspektor an etwas festhalten. Was es war, konnte er nicht einordnen. Doch er hatte eine böse Vorahnung. Langsam fuhr er mit seiner gesunden Hand über die besagte Fläche. Oh Gott, dieses Etwas, an dem er sich festgeklammert hatte, war eine menschliche Schulter. Das musste der Einsatzleiter sein. „Wilkie?“ rief er noch einmal und dieses Mal glaubte er ein leises Stöhnen zu hören. Und dann hörte er ganz deutlich Stimmen von weiter unten. „Hört uns jemand? Wir kommen rauf!“ „Hilfe!“ Dumonts Schrei wurde durch den starken Rauch zwar gedämpft, doch sein Ruf wurde erhört. Schwaches Taschenlampenlicht drang durch das Dunkel. Kurz darauf wurde der Inspektor von drei Männern ins Freie getragen. Es handelte sich dabei um die Mitglieder der Spezialeinheit, die im ersten Stock Stellung bezogen hatten. Auch sie sahen leicht benommen aus, doch sie sollten noch am glimpflichsten davongekommen sein. Sachte wurde der Inspektor in die Wiese im sicheren Abstand zum brennenden Gebäude gelegt. Es dauerte einige Momente, bis er sich an das grelle Sonnenlicht gewohnt hatte. Verwirrt blickte er zum Haus hinüber, aus dessen Obergeschoß die Flammen schossen. Teile des Stockwerkes existierten gar nicht mehr, waren durch die Wucht der Detonation weggesprengt worden. Die ohnehin schon mehr als abrissreife Ruine hatte jetzt endgültig ausgesorgt. Und eines wurde dem Inspektor auch bewusst: jeder der Männer, die sich zum Zeitpunkt der Explosion im ersten Stock aufgehalten hatten, konnten unmöglich überlebt haben. Niemand wäre im Stande gewesen, sich so schnell nach unten retten zu können. Für fünf Leute der Spezialeinheit würde damit jede Hilfe zu spät kommen. Und was mit Wilkie war, da konnte er nur das Beste hoffen. Selbst hatte es ihn auch ärger erwischt, als er zunächst gedacht hatte. Sein rechter Arm schmerzte nicht nur wegen des womöglichen Bruchs, es bildeten sich bereits dicke Brandblasen auf der Hautoberfläche, vom Ellbogen abwärts bis zu den Fingeransätzen. Als er sich leicht mit der gesunden Hand übers Gesicht fuhr, musste er seine Zähen fest zusammenbeißen. Seine Wange hatte auch seinen Teil abbekommen und fing bereits an zu pochen und brennen. Oh Gott! Wie konnte es nur soweit kommen. Fassungslos starrte er in den Himmel hinauf, bis er von den Schreien der Männer aufgeschreckt wurde. Geschockt musste er mitansehen, wie Tom ‚The Snake’ Wilkie schwer verletzt und nur noch leise röchelnd aus dem Gebäude getragen wurde. Er sah noch viel ärger als Dumont aus. Da er sich zum verhängnisvollen Zeitpunkt einige Stufen vor ihm befunden hat, musste ihn die Wucht die Treppe hinuntergeschleudert haben. Schließlich war er so ungünstig aufgekommen, dass er genau gegen das harte Eisengeländer geprallt war und sich dabei einige schwere Rippenbrüche eingeholt hatte. Es war tatsächlich Wilkie gewesen, bei dem Dumont Halt gefunden hatte, als er beinahe zusammengeknickt wäre. An den halb offenen Augen des Einsatzleiters konnte er genau ablesen, was nun in seinem Kopf vorging. Dieses Mal habe ich versagt, ich habe meine Männer ins Verderben geschickt. Wie konnte ich das tun? Schmerzvoll zuckte Wilkie bei einem heftigen Hustenanfall zusammen. Er schaffte es kaum sich zu beruhigen. Erst als er von den Männern etwas Wasser eingeflösst bekam, beruhigte sich sein Körper wieder etwas. Auch Dumont bekam etwas zu trinken. Die schweren Verletzungen wurden notdürftig behandelt. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis der Rettungswagen kam. Total ausgelaugt und schwer ramponiert drehte sich der Inspektor in der Wiese um und schloss seine müden Lider. Wie konnte es nur so weit kommen?
 
„Das ist meine kleine Tochter Marie und das mein elfjähriger Sohn Matthew,…und hier ist meine geliebte Frau Francine…“ Der liebevolle Familienvater zeigte Diana die Fotos seiner Liebsten. Dann steckte er die Aufnahmen wieder zurück in seine Uniform. „Sie bringen mir Glück, sorgen dafür, dass ich immer gesund nach Hause komme…“ Der Polizist sah die junge Frau neben sich schmunzelnd an, bekam von ihr ein verständnisvolles Lächeln zurückgeschenkt. Diana Hawkins war froh über die kurze Ablenkung, der Polizist Joseph Charleston war ein besserer Gesprächspartner, als man im ersten Moment annehmen sollte. Obwohl er ein stiller Typ war, wusste er vieles zu erzählen und hörte auch gerne zu. Da er wusste, was in dieser Frau vorgehen musste, versuchte er etwas auf andere Gedanken zu bringen, jedoch wissend, dass er das nicht schaffen konnte. Auch er war wirklich froh, wenn dieser Mörder endlich hinter Schloss und Riegel gebracht werden würde. Seit Paul Sylka in dieser Stadt als Wahnsinniger unterwegs war, hatte er jeden Tag Angst um seine Familie. Was wäre, wenn gerade seine wundervolle Frau das nächste Opfer werden würde. Nein, soweit durfte es nicht kommen. Hoffentlich konnte die Spezialeinheit diese Bestie schnappen, dann würde Arlington wieder das ruhige verschlafene Städtchen werden, welches es vorher war. Da war es kein Problem gewesen, einmal spätabends alleine nach Hause zu gehen. Jetzt konnte sogar ein kurzer Gang in den Garten schon zu gefährlich sein. Nein, lassen wir dieses Thema! Auch Charleston konnte diese haarsträubenden Szenarien nicht aus seinem Kopf bringen. Um wieder etwas entspannen zu können, richtete er seinen Zeigefinger Richtung Fenster. „Schauen Sie, wird heute noch so richtig krachen!“ Obwohl Diana Hawkins nicht wirklich wissen wollte, was der Polizist neben ihr meinte, kam ihr ein gedankenloses „Ja, stimmt!“ über ihre Lippen. Als Joseph Charleston merkte, dass sein gut gemeintes Ablenkungsmanöver fehlgeschlagen hat, konzentrierte er sich allein auf die herannahenden Gewitterwolken. Aus der Ferne wirkten sie bedrohlich und irgendwie unheimlich. Der Polizist hatte plötzlich das komische Gefühl, dass bald etwas Schreckliches passieren würde. Doch er schob diesen Angst einflössenden Gedanken gleich wieder beiseite und blickte wieder zu der hübschen Frau neben sich hinüber. Die sah total in Gedanken verloren auf eine Rose, die in einer geschwungenen Vase stand. Ja, Andre, wo bist du? Habt ihr ihn schon? Hoffentlich geht alles gut. Zwei kurze Klopfzeichen ließen die Blicke der beiden plötzlich fast synchron von ihren vorigen Stellen hinüber zur Tür schweifen. Es musste der zweite Polizist sein, vielleicht musste er schnell auf die Toilette. „Ich mach schon auf!“ Joseph Charleston deutete Diana Hawkins sitzen zu bleiben und marschierte selbst zur Wohnungstür. „Jerry, was ist los?“ Keine Antwort. „Jeremy, musst einmal für kleine Polizisten, oder was?“ Mit einem freundlichen Grinsen auf seinen Lippen griff er langsam die Türklinke nach unten. Da er sich sicher war seinen lustigen Kollegen auf der anderen Seite der Tür vorzufinden, verzichtete er vorher durch den Spion zu schauen. Ein fataler Fehler…
 
„Bewegen Sie sich nicht! Gleich haben wir’s geschafft!“ Andre Dumont sah mitfühlend mit an, wie Tom Wilkie in den Krankenwagen gehoben wurde. Dann führte sein Blick zu weiteren Sanitätern, die gerade die dritte Leiche aus dem gelöschten Haus brachten. Aufgebahrt auf einer tragbaren Metallbahre und zugedeckt mit einer schwarzen Decke wurde er still und bedrückt auf der Wiese niedergestellt. In diesem Moment verließ der erste Rettungswagen mit Wilkie das Gelände, das laute Heulen der Sirene verklang erst, als der Wagen schon längst um die Ecke verschwunden war. Nun wurde er richtig verarztet. Seine Brandwunden wurden mit geschickten Bewegungen behandelt. Andre Dumont war kein weichlicher Mann, er hielt auch stärkere Schmerzen aus, wenn es sein musste, doch er spürte jetzt ganz deutlich, dass es auch ihn ziemlich übel erwischt hatte. Doch er war wenigstens noch am Leben und das war ja das Wichtigste. Aber warum? Warum wollte Sylka, dass wir hierher kommen? Was hatte diese Kranke damit bezweckt? Fünf unschuldige Männer haben in dieser dreckigen Bruchbude ihr Leben gelassen. Warum konnte dieser Sylka nicht einfach verrecken? Sein Leben wäre so schön, ohne ihn als Serienmörder. Diana und er könnten dann in Ruhe ihre frische Beziehung genießen,…ja, Diana…oh nein!“ Fürchterliche Angst stand dem Inspektor plötzlich in den Augen geschrieben. Diana, sie war in Gefahr! Nun wollte Sylka seinen Plan vollenden. Ruckartig schnellte er in die Höhe, das erste freie Fahrzeug suchend. In diesen Momenten spürte er nicht einmal seine Schmerzen. Die, welchen gerade sein besorgtes Herz ausgeliefert war, waren ohnehin viel stärker. „Inspector, wo gehen Sie hin? Inspector Dumont?!“ Doch der Gerufene ignorierte die Stimmen der Männer. Die Zähne zusammenbeißend, ließ er sich in den Fahrersitz des rostigen blauen Fords fallen. Zwar machte sich Andre kaum Hoffnungen, dass dieser Mistkerl seine Schlüssel im Wagen gelassen hatte. Doch ein Blick in das Handschuhfach hellte sein verbranntes Gesicht ein bisschen auf. Darin lag wirklich ein Schlüsselbund. Schnell war der richtige gefunden. Mit hüpfenden Bewegungen und lautem Krachen ließ der Inspektor mit Sylkas ehemaligem Gefährt die verdutzten Rettungssanitäter und Feuerwehrleute hinter sich. Mit seiner gesunden linken Hand lenkte er das Fahrzeug durch die Straßen, während er mit der geschienten und einbandagierten rechten versuchte Dianas Nummer aus dem Speicher seines Handys zu wählen. Erst im vierten Versuch gelang es ihm unter großen Schmerzen die Wähltaste zu betätigen.
 
„So, komm rein…“ Joseph Charleston hielt seinem vermeintlichen Kollegen bereitwillig die Tür auf, bis er schließlich merkte, dass es gar nicht Jeremy Watts war, der an die Tür geklopft hatte. Stattdessen stand ein Briefträger mitsamt blauer Uniform und Post in der einen Hand vor ihm, lächelte ihn komisch an. „Post für Ms. Hawkins!“ In den folgenden Sekundenbruchteilen wurde dem Polizist klar, dass etwas nicht stimmte. Erstens, wo war sein Partner, und zweitens und dieser Punkt war noch beunruhigender, was waren die roten Flecken auf den Fliesen neben dem Geländer. Doch bevor er zu seiner Waffe greifen konnte, drängte ihn der ungebetene Besuch in die Wohnung hinein und rammte dem verdutzten Familienvater ein scharfes Messer, an dem noch etwas Blut klebte, mitten in die Brust. Nach Luft schnappend tastete Charleston nach seiner Dienstwaffe, doch Sylka war schneller und zog sie ihm aus dem Halfter. Mit einer ausholenden Bewegung warf er die Pistole hinaus über das Geländer. Kurz darauf schlug sie knapp neben der Leiche von Jeremy Watts auf dem Boden auf. „Diana, Diaannnaaa! Wo bist du?“ Schnell verschloss Paul Sylka die Wohnungstür und suchte mit seinen Augen die ihm schon bekannten Räumlichkeiten ab. Keine Spur von seiner Rose. Aber er würde sie schon finden. Sie ist hier, ja, das ist sie. Doch bevor er sich auf die Suche machen konnte, wurde er von dem starken Polizisten zu Boden gerissen. Trotz seiner Stichverletzung hielt er wacker durch. Hätte er sich nicht rechtzeitig ein Stückchen weggedreht, wäre das Messer statt in die Brust weiter unten in seinen Oberkörper gedrungen und hätte dort schwerwiegendere Verletzungen anrichten können. Dieser Mistkerl! Verkleidet sich frech als Postler und versucht so an sein Opfer zu kommen. Sehr geschickt, doch es würde ihm nicht gelingen. Officer Charleston war sich dem sicher. Leider wurden seine Gefühle nicht erfüllt. Paul Sylka tastete mit seinen Händen nach seiner Waffe. Das Messer war beim Gegenangriff des Polizisten aus einer Hand geglitten und unter die Anrichte der Garderobe gerutscht. Mit festen Fußtritten schaffte es der Mörder frei zu kommen, doch er konnte die Waffe mit seinen schmalen Fingern nicht erreichen. Scheiße! Verärgert begab sich der Mann in die Küche, aus der er wenige Momente danach wieder zurückkam. Sylka erstarrte. Der Polizist lag nicht mehr auf dem Boden. Diesen Augenblick nützte der sich hinter der Ecke versteckte Joseph Charleston zum nächsten Angriff. Mit einem gezielten Schlag wurde das Messer aus Sylkas Hand geschleudert. Klirrend blieb sie auf dem Boden liegen. Paul Sylka drehte sich geschockt um und wurde erneut vom tapferen Mann niedergerissen. Der Mörder knallte hart gegen die Wand. Laut stöhnte er auf. Es schien, als ob der Polizist die Oberhand gewonnen hatte, doch in diesem Augenblick erhaschte ein Objekt Sylkas Interesse. Es stand nur knapp einen Meter neben ihm. Wenn er seine Hände weit genug ausstrecken konnte, dann könnte er es erreichen. Der Officer ahnte, was Sylka vorhatte, doch bevor er den Feuerlöscher neben der Küchentür packen konnte, war ihm bereits sein Gegner zuvor gekommen. Daraufhin wurde er durch einen unbeschreiblich schmerzlichen Schlag aufs Gesicht niedergestoßen. Schwer verletzt blieb Charleston regungslos liegen, der schwere Feuerlöscher hatte seinen Kiefer zertrümmert und schwere innere Blutungen verursacht. Obwohl der Mann sowieso einige Zeit außer Gefecht gesetzt gewesen wäre, schlug Sylka erneut auf den Körper des Polizisten ein. Einmal, Zweimal. Solange, bis er sich sicher sein konnte, dass der Mann, Officer Joseph Charleston, ihm, Paul Sylka, keine Probleme mehr machen würde. Während dem toten Mann Blut aus dem Mund und der Nase quoll, verließ der Mörder diese Szenerie und näherte sich dem Schlafzimmer. Er hatte das Gefühl, dass seine Rose dahinter auf ihn warten würde. „Diana, meine schöne Rose, ich komme!“
 
„Diana…“ Zu spät hatte Andre Sylkas teuflischen Plan durchschaut. Dianas ängstlicher und stark aufgeregter Stimmer zufolge wusste er sofort, dass es schon fast viel zu spät war. Der Mistkerl war bereits in ihrer Wohnung. Er hatte zwar keine Ahnung, wie er das geschafft hatte, aber das spielte im Moment gar keine Rolle. „..Andre, um Gottes Willen! ….er ist da….Sylka ist hier….bitte, hilf mir….bitte, Andre…ich flehe dich an,…bitte, hilf mir…“ Der Inspektor musste schwer schlucken. Obwohl die Schmerzen immer stärker wurden, war er mit seinen Gedanken und Gefühlen fest bei seiner Liebe. „…ich komme, Diana, ich bin gleich bei dir…hörst du…“ „Andre….bitte komm schnell…er bricht die Tür auf…nein…Andre….ich liebe dich…bit…“ Das Gespräch wurde abrupt beendet. Andre Dumont wusste, dass er nun keine Sekunde mehr verlieren durfte. Ungebremst raste er über eine rote Ampel, doch ihm war das egal. Nun ging es um das Leben seiner Liebe. Ja, ich liebe dich auch, Diana! Und ich komme, um dich zu retten!
 
Mit einem Knacken, welches Diana durch Mark und Bein fuhr, wurde die Tür des Schlafzimmers aufgebrochen. Vor Schreck fiel ihr das Handy aus der Hand und landete mit einem polternden Geräusch auf dem Teppichboden. Angespannt starrte die Frau in die Richtung, aus der die tödliche Gefahr angeschlichen kam. Dünne knochige Finger griffen um den Rahmen, drückten die Tür langsam auf. Dann tauchte der ganze Arm, schließlich der ganze Körper des Mannes im Raum auf. Das war er also, Paul Sylka, der Mann, der schuld an diesen schrecklichen Verbrechen war. Der Irre, der jetzt auch Diana umbringen wollte. Die hübsche Frau, die zu Tode geängstigt in der Ecke gekauert war, richtete sich vorsichtig vom Boden auf, ließ den Mann dabei nicht aus den Augen. Nun war es soweit. Er hatte sein Ziel erreicht. Ein sarkastisch wirkendes Grinsen von Sylka jagte ihr noch mehr Angst ein. Ja, sie wusste, wenn Andre es nicht mehr rechtzeitig schaffen würde,…nein, das durfte sie nicht denken. Alles würde gut werden, doch Diana ahnte, dass sie sich mit diesem Optimismus selbst nur anlog. Langsam flossen Tränen über ihre Wangen. Andre, bitte hilf mir!
 
Hallo, meine Rose! Da ist sie, in voller Blüte. Sie ist noch hübscher als auf dem Foto, welches ich im Internet gefunden habe. Ihr volles Haar, ihre Figur, dass alles würde er gleich berühren können. Jetzt hatte er es trotz aller Hürden geschafft. Ja, nun gehörte sie ihm, ihm allein…
 
Keine zehn Minuten später bog der rostige Ford in die Strasse von Dianas Wohnung ein. Mit einem lauten Knattern kam das Fahrzeug direkt neben der Eingangstür zum Stehen. Mit unterdrückten Schmerzen humpelte Andre aus dem Wagen und näherte sich dem Treppenhaus. Als er den toten Polizisten liegen sah, musste er sich übergeben. Der Inspektor ahnte, dass er unter Umständen bereits zu spät kam.
 
Als sich Andre gerade den dritten Stock hinaufschleppte(der Lift war ja kaputt), hörte er von unten ein lautes Schreien. Man hatte jetzt die Leiche von Jeremy Watts entdeckt. Mit einem hysterischen „Hilfe, Polizei!“ verließ eine Frau wieder das Treppenhaus und rannte ins Freie. Andre bekam davon aber kaum etwas mit. Für ihn gab es im Moment nur eines. Diana. Wo blieb nur die Verstärkung von Warwick. Dumont hatte seinen Kollegen und Director Payton angerufen und ihnen kurz die unglaublichen Geschehnisse der vergangenen Stunde geschildert. Und zum Schluss brachte er ganz schwer von seinen Lippen: „…Sylka ist bereits bei ihr…bitte beeilt euch, ok?“ Dann hatte er sein Handy auf den Beifahrersitz geschleudert und zu Weinen begonnen. Er hatte so schreckliche Angst um Diana. Mit seinen Kräften fast am Ende flehte er auf der Treppe stehend Gott um Hilfe. Was würde ihn gleich im obersten Stockwerk erwarten? In der Wohnung seiner geliebten Kollegin. Tapfer durchhaltend erklimm er Stufe um Stufe, von fern hörte er bereits ein vorwarnendes Donnergrollen, beigemischt mit dem Aufheulen von Polizeisirenen. Endlich war auch die Verstärkung am Kommen. Plötzlich wurde Andre von einem blauen Etwas, welches die Stufen heruntergestürzt kam, fast über den Haufen gerannt. Bei näherem Hinsehen stellte er fest, dass es ein Briefträger war. Nur für kurze Augenblicke kreuzten sich die Blicke der beiden. Dann setzte der seltsame Kauz seinen Weg abwärts fort. Puh, der hatte es eilig! Moment mal! Diese Augen, diese Leere darin…und was waren das für dunkle Flecken auf seiner Jacke gewesen. …Blut! Oh Scheiße! Das war Sylka gewesen! Mit diesem Aufzug musste er es irgendwie geschafft haben, in die Wohnung zu kommen. So schnell er konnte, drehte Andre Dumont um und folgte dem vermeintlichen Mörder.
 
Kurz darauf betraten Jason Warwick und zwei seiner Kollegen die Wohnung von Diana Hawkins. Nach wenigen Schritten fiel ihr Blick auf den leblosen Körper von Joseph Charleston, dem zweiten Polizisten, der für den Personenschutz von Diana eingeteilt worden war. Mit ungeheurer Brutalität muss Sylka mit etwas Hartem auf ihn eingeschlagen haben. Als die Männer den mit Blut verschmierten Feuerlöscher auf der gegenüberliegenden Seite erblickten, war diese Frage schon gelöst. „Diana?“ Jason näherte sich mit vorsichtigen Schritten dem einen Spalt offen stehenden Schlafzimmer. In der einen Hand seine Dienstwaffe haltend, drückte er mit der anderen die Tür langsam auf.
 
Gerade noch rechtzeitig schaffte es Andre Dumont das Gebäude zu verlassen und einen letzten Blick von Paul Sylka zu erhaschen, wie er in einen silbernen Honda Civic stieg und das Gelände verließ. Andre humpelte zum Ford hinüber und versuchte anzustarten, doch nichts rührte sich. Er probierte es erneut, doch der Wagen tat keinen Mucks. Da leuchtete es dem Inspektor ein. Als Sylka seinen Ex-Wagen vor dem Haus gesehen hat, ahnte er etwas und hat diese verdammte Karre unbrauchbar gemacht…dieser Schweinehund! Darum hatte er so lange bis zu seinem neuen Fluchtauto gebraucht. Konnte denn nichts an diesem verdammten Tag gut gehen? Wütend ließ Andre Dumont den blauen Ford hinter sich und wankte mit seinem Handy in seiner Hand zur Straße hinüber. Fest entschlossen stellte es sich quer über die Fahrbahn. Mit einem lauten Quietschen kam ein alter Buick vor ihm zu stehen. Sein Fahrer, ein älterer Herr, Mitte Sechzig, starrte ihn entsetzt an. Mit seinen kleinen Kugelaugen, die durch die dicken Brillengläser viel größer und witziger aussahen, stellte er festen Blickkontakt mit dem seltsamen Mann her. Wer war dieser Irre, der einfach mitten auf der Straße stehen blieb? Er schwor sich diese Aktion der Polizei zu melden. Keine Minute später starrte er fassungslos seinem so geliebten Buick hinterher, wie er mit rasantem Tempo über die Kreuzung flitzte. In all den Jahren, die er diesen tollen Wagen bereits besessen hatte, hatte er nie geahnt, dass man damit so schnell fahren konnte. Mit einem wütenden Kopfschütteln stieß der ältere Herr einen leisen Fluch auf Andre Dumont aus. Wehe, wenn mein Baby einen Kratzer abbekommt, dann…
 
Das war ja knapp gewesen! Wer war dieser Kerl im Treppenhaus gewesen? Der hat stark nach Bulle gerochen. Ja, das war für Sylka sicher. Aber warum dieser Typ gerade mit seinem Ford hergekommen war, konnte er zunächst nicht einordnen. Doch dann ließ der Mörder das Aussehen von diesem Mann in seinem Kopf durchlaufen. Er sah sehr mitgenommen aus…ja, ...dieser Kerl hat meine Überraschung miterlebt. Warum er jedoch aus dieser Bruchbude lebendig herausgekommen konnte, wollte er nicht begreifen. Wahrscheinlich war er nicht direkt am Explosionsherd gewesen, als es ‚Bumm!’ gemacht hatte. Aber egal! Hauptsache, er war so gehandicapt, dass er ihm, Paul Sylka, keine weiteren Probleme machen konnte. Neugierig sah er mit seinen geheimnisvollen Augen in den Rückspiegel. Niemand war zu sehen. Ja, ohne fahrbaren Untersatz kam man halt nicht weit…ha ha ha! Ein irres Lachen füllte den Innenraum des gestohlenen Wagens, doch verstummte es abrupt wieder. Denn plötzlich bog ein alter Buick mit einem Mördertempo um die Kurve, kaum hundert Meter hinter ihm. Mann, dieser Bulle war echt zäh… Und dann leuchtete es dem Rosenmörder ein. Dieser Polizist, der gerade hinter ihm her raste, hatte deswegen so einen unglaublichen Ehrgeiz, weil er dieser Andre sein musste, nach dem seine Rose gerufen hatte. Immer wieder unter Tränen seinen Namen gerufen hat, als er sich an ihr vergangen hatte. Ja, du warst also ihr Angebeteter…komm ruhig, ich nehme es schon mit dir auf, du Scheißkerl!
 
Ah, da bist du ja! Andre Dumont lenkte so gut er konnte den ausgeborgten Wagen durch den Straßenverkehr, achtete aber nicht eventuelle Geschwindigkeitsbeschränkungen. Nur bei Schutzwegen und anderen gefährlichen Stellen bremste er ab, die restliche Strecke fuhr er aber kompromisslos und zielsicher. Nein, dieses Mal würde er nicht entkommen. Nein, nein,…jetzt hieß es bald ‚Game Over’ für diesen Schweinehund. Der Inspektor hatte mit Freude feststellen können, dass der Besitzer dieses Buicks eine Automatikschaltung installieren lassen hatte. Da seine rechte Hand kaum noch ohne Aufschrei zu bewegen war, war er froh, ohne Schalten die Verfolgung aufnehmen zu können. Es war aufgrund seiner körperlichen Verfassung schon schwer genug, in Reichweite des silbernen Hondas zu bleiben. Und doch konnte das Fahrzeug jetzt ganz deutlich vor sich erkennen. Jetzt hieß es dranbleiben. Nein, dieses Mal würde er Paul Sylka nicht mehr entkommen lassen.
 
Die dunkelgrauen düsteren Wolken schoben sich langsam vor die Sonne, ließen erahnen, dass in naher Zukunft ein sommerlicher Gewitterregen über die Stadt ziehen würde. Lautes Grollen drang vom Himmel herab.
 
Die beiden Fahrzeuge jagten durch die Straßen der Innenstadt. Sylka hätte um ein Haar einen kleinen Jungen, welches mit seinem neuen giftgrünen Turtles-Fahrrad überqueren wollte, angefahren. In letzter Sekunde konnte er noch ausweichen, kam dabei kurz auf die andere Fahrspur und hatte Glück, nicht in den Gegenverkehr zu rasen. Aber auch Andre Dumont war das Glück hold geblieben. Trotz der starken Schmerzen schaffte es der Polizist irgendwie die Kontrolle über den Buick zu behalten und sich und andrer Mitmenschen nicht unnötig zu gefährden. Obwohl er zugeben musste, dass wahrlich einige Schutzengel an diesem Tag über ihn weilen mussten. Zuerst diese verheerende Explosion und jetzt das unbeschadete Durchfahren der Straßen. Weiß Gott, wenn jemand unter die Räder kommen würde…das würde er sich nie verzeihen. Doch an diesem Tag, in diesen Minuten musste der Inspektor einfach über seinen Schatten springen und Verkehrsgesetze unbeachtet lassen. Es hing zu viel am Spiel. Der silberne Honda mitsamt dem Rosenmörder war keine achtzig Meter vor ihm. Andre spürte, wie er ihn langsam nervös machte. Dieser Mistkerl würde bald einen Fehler begehen und dann wäre dieser Alptraum endlich vorbei.
 
Oh Mann, der ist wirklich hartnäckig! Kommt langsam immer näher. Muss schneller werden. Ihn abhängen. Schweißtropfen tropften an seiner Stirn hinunter, eine Spur rann genau in seine Augen. Sylka musste einige Male zwinkern, um wieder alles überblicken zu können. Mit einer Hand wischte er sich den Schweiß aus dem Gesicht. Sein Blick fiel dabei auf das Blut auf seiner blauen Jacke. Das war wirklich ein anstrengender Tag gewesen. Zuerst hatte ihn der Doktor so tief enttäuscht, als er ihm die Hilfe verweigerte. Und dann musste er alles für den großen ‚Bumm!’ vorbereiten. Dafür musste er seine letzten Reserven opfern, dieser fette Preston konnte ihm ja keinen Nachschub besorgen. Aber egal, Hauptsache, die Polizei hatte eine saftige Lehrstunde erhalten. Wenn schon dieser Bulle hinter ihm so angeschlagen war, wie würden denn jetzt die Männer aussehen, die in Reine eins gestanden hatten. Wieder blitzte dieses irre Grinsen in seinem Gesicht auf. Aber alle Mühe hatte sich schlussendlich gelohnt und er konnte seine Rose kennen lernen. Ja, Diana… Auch wenn er über viele Leichen gehen musste, es hatte sich gelohnt. Noch fest in den Gedanken an die ereignisreichen letzten Tage ließ Paul Sylka die Innenstadt hinter sich, dicht gefolgt von Andre Dumont.
 
Genau um 15:52 fielen die ersten Tropfen auf Arlington hernieder. Aus dem anfangs leichten wurde schnell ein dichter starker Regenfall. Das Gewitter hatte mit der Unterstützung von lautem Donnern und vereinzelten Blitzschlägen begonnen. Dass noch vor wenigen Minuten sonnige heiße Traumwetter war nun ein frischer, abkühlender Sommerregen-
 
Der plötzliche Regen hatte beide Fahrer überrascht, nur mit Mühe gelang es Dumont, mit seiner rechten Hand den Scheibenwischer des Wagens einzuschalten. Nun würde die Verfolgung noch schwere werden. Die trockenen Reifen schlitterten über die nass werdende Fahrbahn. Dem Inspektor wunderte es, wie er es bisher geschafft hatte, das Fahrzeug gerade auf der richtigen Straßenseite zu lenken, bei seiner Verfassung und seinem untypischen Fahrstil. Normalerweise hielt er sich immer strikt an die Geschwindigkeitsbeschränkungen, fuhr meistens noch langsamer. Doch im Augenblick kannte er sich selbst nicht mehr. Er war ein anderer Mensch, einer, der endlich diesen Wahnsinn beenden wollte. Es durfte keine Opfer mehr geben…es gab schon zu viele zu beklagen. Und außerdem wusste Andre noch immer nicht Bescheid über Dianas Zustand. Das machte ihn rasend vor Wut…und vor Angst.
 
Die einzige Chance diesen Teufelskerl abzuhängen, bestand darin die Stadt zu verlassen. Wenn er erst mal auf den Schnellstrassen war, würde er ihn hinter sich lassen. Zwar könnten da schon Polizeisperren auf ihn warten, doch dieses Risiko nahm er auf sich. Doch er brauchte keine Angst zu haben. Andre Dumont war es vor Schmerzen nicht gelungen während der Fahrt Verstärkung zu rufen. Nun lief alles auf eine Entscheidung zwischen den beiden auseinander. Doch auch die würde Sylka gewinnen, da war er sich sicher.
 
Es war kurz nach 16 Uhr, als die beiden Fahrzeuge Richtung Stadtbrücke, welche über den vom Gewitter unruhigen Fluss Trinity führte und die Stadtgrenze markierte, rasten. Sylka war sich bereits zu siegessicher. Er warf einen vernichtenden Blick zurück auf seinen Verfolger, der schon etwas an Rückstand gewonnen hat. So übersah er, wie er auf die andere Straßenseite hinübertrudelte und genau einem roten Van entgegenfuhr. Als er der brenzligen Situation bewusst wurde, konnte er nur noch mit letzter Kraft den Honda wieder auf die rechte Seite reißen, doch bevor er die endgültige Kontrolle über das Fahrzeug wieder finden konnte, prallte er frontal gegen den Brückenpfeiler.
 
„Rufen Sie zu Polizei…schnell!“ Dumont schrie den Fahrer des roten Vans aufgeregt an. Der war leicht geschockt darüber, nur knapp einem Unfall entgangen zu sein. Doch dann nickte er erschrocken und setzte den schweren Wagen wieder in Bewegung. Während er zwischen den Häuserschluchten der Stadt verschwand, machte Dumont langsam die Fahrertür des Fords auf. Nun war High Noon, die Entscheidung nahte. Seine wankenden Schritte klatschten auf dem nassen Asphalt, der Inspektor griff fest um seine Dienstwaffe, die er zwar immer in seiner Jackentasche hatte, aber in seiner Zeit in Arlington noch nie verwenden musste. Doch an diesem Tag würde sich auch das ändern…da spürte er ganz deutlich. Im Honda rührte sich nichts. Wahrscheinlich will ihn Sylka heranlocken und dann zum Gegenangriff ansetzen. Dumont wusste, er musste sehr wachsam sein. Das galt sonst auch bei solchen Situationen, doch die Wahrheit war, dass jeder Fehler in seiner momentanen Verfassung tödlich wäre. Mit konzentriertem Blick beobachtete er das Innere des Wagens. Sylka lag auf dem Lenkrad, vielleicht bewusstlos. Doch Andre war zu misstrauisch. Es könnte auch eine Falle sein. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schleppte er sich zur Fahrertür des Hondas hinüber, den Lauf der Waffe genau auf Sylka gerichtet. Doch seine Reaktion war schon soweit beeinträchtigt, dass er zu spät die Handbewegung merkte, mit der der Rosenmörder die Tür heftig aufstieß. Die Klinke traf genau Dumonts rechten Arm. Vor Schmerz verlor er das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Nun wurde ihm bewusst, dass das unter Umständen dieser schwerwiegende Fehler sein könnte, der alles zu Nichte machte. Doch sofort war Andre wieder voll konzentriert, robbte sich vom Wagen weg, sah zu, wie Sylka grinsend heraus stieg und ein Jagdmesser aus seiner Jacke zog. Doch dieses Mal war Andre schneller. Vier Schüsse drangen in Sylkas Oberkörper, ließen ihn zur Seite wanken. Er versuchte am Brückengeländer Halt zu finden, doch er rutschte mit den Händen auf den nassen Griffen aus. Hilflos seine Wunde haltend und darauf Dumont anstarrend fiel er über das Geländer und verschwand in den tobenden Fluten des Trinity. Andre richtete sich mühsam auf, sah verdutzt auf die rauchende Waffe in seiner Hand hinab. Das war’s…
 
Eine Viertelstunde später hielten drei Polizeifahrzeuge auf der Brücke. Zuerst konnten die Männer niemanden sehen, nur zwei Autos, einen alten Buick, der mitten auf der Fahrbahn stand und einen silbernen Honda Civic, welcher mit der Vorderseite am Brückenpfeiler klebte. Erst als sie um den Unfallwagen herumgingen, sahen sie das Häufchen Elend, welches am Boden kauerte, vom Regen durchgeweicht und mit schweren Verletzungen. Kaum noch bei Bewusstsein saß Dumont an das Brückengeländer gelehnt da, sah zu Boden, am Ende seiner Kräfte. Seine Dienstwaffe lag auf dem Boden, vom Lauf tropften Regentropfen. „ Inspector, kommen Sie…wo ist Sylka…Inspector?“ Die linke Hand zeigte auf die Fluten hinab. „…ist er tot…“ Ein kurzes teilnahmloses Nicken bestätigte ihre Hoffnung. War es wirklich vorbei? War die Bestie wirklich erledigt, der Alptraum endlich zu Ende? Unfassbar starrten die sechs Polizisten auf den Trinity hinunter, auf der Suche nach Sylkas Leiche. Doch die Fluten ließen nichts erkennen. Doch nun musste man sich erst einmal um den lädierten Inspektor kümmern, der den Rosenmörder zur Strecke bringen konnte.
 
Auf Wunsch Dumonts hielt eines der Polizeifahrzeuge wenig später vor dem Gebäude, in welchem Diana Hawkins wohnte. Die gesamte Strasse war bereits abgesperrt worden, aus den Fenstern des Hochhauses lugten neugierige Gesichter. Auch auf der anderen Seite des gelben Absperrbandes tummelten sich Schaulustige verschiedenster Altersgruppen. Unter ihren Regenschirmen stehend, betrachteten sie aufgeregt und sensationsgierig den Tatort. Einem Pressefahrzeug wurde gerade die Zufahrt verweigert, was der Fahrer ärgerlich zur Kenntnis nahm und schimpfend den Rückweg antrat. Ein Leichenwagen stand nahe dem Eingang, die Hintertüren bereits geöffnet. Doch für Andre Dumont waren das kaum mehr als Bildfetzen Der Inspektor entstieg dem Wagen mit zitternden Bewegungen. Aber nicht die Schmerzen verursachten diese Erscheinungen, sondern die entsetzliche Angst, die ihn seinem Kopf umherging. Was war mit Diana? Wo war sie? Ging es ihr gut? Voller Hoffnung stolperte Andre den Eingang entgegen, blieb aber mit einem Ruck stehen. Zwei Männer trugen gerade eine Bahre heraus, darauf lag eine mit dem obligatorischen schwarzen Tuch zugedeckte Gestalt. Was Andre Tränen in die Augen trieb, war der Arm, der schlaff herunterhing. Er kannte das Armband daran. Es war das von Diana. Das waren ihre zarten Finger,…das war sie. In Gedanken versunken, kam Jason Warwick aus dem Gebäude. Dann erblickte er Dumont, wie dieser entsetzt auf die Bahre starrte. „Dumont!“ Doch Andre hörte ihn nicht. Dieser steuerte wie ferngesteuert auf die Trage zu und schrie die Männer an: „Lasst sie hinunter! Lasst sie gefälligst hinunter!“ Die Männer sahen verdutzt Warwick an, doch der nickte nur still. Was würde jetzt in diesem gebrochenen Mann vorgehen? Da hatte er einmal seine große Liebe gefunden und dann wurde dieses neue Glück so brutal wieder zerstört…armer Dumont. Der Inspektor kniete nieder, nahm das Tuch und zog es von Dianas Kopf. Sie lag so unschuldig da, wie ein Engel…oh mein Gott! Die Tränen kullerten nur so über Andres Gesicht. Ich liebe dich doch…nein…warum… Er küsste ihr Gesicht, immer und immer wieder, strich ihr durch ihr schönes langes Haar. Er konnte nicht realisieren, was da gerade vor sich ging. Die Polizisten und die Schaulustigen sahen betrübt und mitfühlend die Szenerie an, doch konnten sie sich nicht im geringsten in die Gefühlswelt von Andre hineinversetzen. Ich habe doch versprochen, auf dich aufzupassen…ich habe es versprochen…nein… Und dann erhob der trauernde Mann seinen Kopf und schrie in diesen regnerischen und stürmerischen Nachmittag heraus, was in ihm vorging: „Nein! NNeiinn! Diana! NNeinn! Ich liebe dich!!!“
 
 
Was keiner ahnen konnte: In genau diesem Moment kroch eine Gestalt stark abgekühlt und halb ertrunken aus dem Trinity, drei Meilen stromabwärts von der Stelle, wo die Stadtbrücke hinüberführte. Der Mann ließ sich in das durchnässte Gras fallen und röchelte vor sich hin. Ein plötzlicher Hustenanfall durchzuckte seinen ganzen Körper. Wasser rann aus seinem Mundwinkel und tropfte in die Wiese. Verwirrt sah er um sich, stellte sich wackelig auf und torkelte zur Strasse hinauf. Der Mann mit den tropfnassen blauen Kleidern hielt sich an einem geparkten Auto fest, noch immer um Luft schnappend. Dann nahm er einen größeren Stein vom Boden und schlug damit die Fensterscheibe ein. Schnell schaute er, ob niemand in der Nähe war. Dann öffnete er die Fahrertür und setzte sich hinein. Sofort war der Sitz durchtränkt mit Wasser, doch dem Mann war das total egal. Kurzerhand schloss er die Steuerung kurz und schon nach wenigen gelernten Bewegungen begann der Motor bereits zu schnurren. Das Fahrzeug verließ unauffällig den Parkplatz, hinter sich den Fluss und die Polizei, die alle von seinem Tod überzeugt waren. Mit einem vor Kälte zitternden Grinsen öffnete er seine blaue Jacke. Darunter kam eine schusssichere Weste zum Vorschein. Darin waren vier frische Einschusslöcher zu erkennen. Ja, damit hast du nicht gerechnet, Andre, hmm? Mit einem unheimlichen Lachen verschwand Paul Sylka in der nächsten Seitenstrasse.
 
Der Alptraum war noch nicht vorbei…nein, er hatte noch gar nicht richtig begonnen.
 
 
 
 
 
 
ENDE TEIL I

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.11.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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