Karl-Heinz Fricke

Eine Reise ins Ungewisse (Fortsetzung)

Eine Reise ins Ungewisse (Fortsetzung)

So stand ich am Ufer des Rheins und wartete auf das Fährschiff, das mich vom kleinen Städtchen Kalb zum gegenüber liegenden Boppard bringen sollte. Der Ort lag im hellen Sonnenschein. Ich stellte sogleich fest, dass das idyllische Boppard ein zauberhafter Ort ist und von Bombardierungen verschont geblieben war.

Endlich am Ziel meiner abenteuerlichen Reise, fieberte ich dem Augenblick entgegen, Lilo wiederzusehen. Ihre Briefe waren drängend gewesen möglichst bald an den Rhein zu kommen, und ich hatte damals dasselbe Verlangen. Auch mit Lilos Eltern verband mich ein gutes Verhältnis und ich hatte das Gefühl gern gesehen zu sein. Die Familie war in Koblenz ausgebombt worden. Sie begab sich daraufhin zu Verwandten nach Goslar und bewohnten dort im Obergeschoss eine kleine Wohnung. Im unbeschädigten Boppard, nur eine kurze Fahrstrecke von Koblenz entfernt, wohnte die Großmutter einer geräumigen Mietswohnung. Ich wunderte mich, warum sie nicht gleich nach Boppard übergesiedelt waren. Die Antwort dafür wurde mir auf unangenehme Weise beantwortet, nachdem ich ich an der Tür dieser Wohnung geklingelt hatte. Lilos Mutter öffnete und ich las in ihren Augen, dass sich seit unserem letzten Beieinandersein etwas geändert hatte. Auf ihrem Gesicht stand ein Gemisch von Bedauern und Hilflosigkeit. Trotzdem forderte sie mich zögernd auf näherzutreten. Lilo, die mich derart gedrängt hatte an den Rhein zu kommen, sah mich mit einer ähnlichen Verlegenheit an. Sie kam auf mich zu, gab mir zum Gruß die Hand und sagte ich müsse doch Hunger haben. Den hatte ich in der Tat, aber im Hinblick auf die beklemmende Situation hatte ich ihn nicht verspürt.

Lilos Vater saß unbeteiligt in einem Sessel als ginge ihn die ganze Angelegenheit nichts an. Er war sonst immer so gesprächig gewesen. Die vierte Person war die Großmutter. Sie schaute wie eine Hexe mich abweisend durch ihre Hornbrille an und liess gleich die Worte folgen: "Junger Mann, in meiner Wohnung können Sie nicht bleiben." Alle anderen schwiegen und schauten betreten vor sich hin. Es war auch für sie eine peinliche Situation. Das war mir selbst klar, und ich konnte mir durchaus nicht vorstellen, in der ungastlichen Wohnung wohlmöglich auf einer Couch zu schlafen. Wie ich feststellte war die Alte die absolute Herrscherin über die anderen, und wie Schuppen fiel es mir von den Augen, dass die Familie den nötigen Umzug nach Goslar vorgezogen hatte. Was sie dazu bewegt hatte, dann doch zur Mutter von Lilos Mutter zu ziehen, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich wusste, was die Glocke geschlagen hatte, da auch keine Ermutigung von Lilo erfolgte. Sie war offensichtlich in einer zwiespältigen Lage und vollkommen hilflos. Ich hatte keine andere Wahl, als daraus meine Konsequenzen zu ziehen und erkannte, dass meine beschwerliche, abenteuerliche Reise zu einer großen Enttäuschung geworden war. Ich verabschiedete mich und hoffte vergebens, dass mich Lilo zur Tür begleiten würde, um mir wenigstens eine Erklärung zu geben. Nun stand ich Sekunden später mit meinen drei Gepäckstücken auf der Straße und wusste nicht wie es weitergehen sollte. Ich hatte nichts zu essen und das wenige Geld, das ich noch in der Tasche hatte, war zu der Zeit der Zigarettenwährung ziemlich wertlos. Eine gewisse Hilflosigkeit und Verzweiflung konnte ich nicht unterdrücken. Ich musste nicht nur eine Stellung, sondern auch eine Unterkunft finden, um nicht hungrig am Abend unter einer Brücke schlafen zu müssen.Für eine Fahrkarte nach Hause reichten meine paar Scheine nicht. Dann sah ich das Hotel "Römerburg". Wie zum Hohn wehte vor dem Hause die Trikolore, die mir am Vortage soviel Unbehagen bereitet hatte. Vielleicht konnte ich im Hotel für Kost und Unterkunft arbeiten. Eine nette Mitvierzigerin bedeutete mir, dass das Hotel von französischen Offizieren belegt sei und ich könne kein Zimmer mieten. Als ich ihr meine Notlage erklärt hatte, stellte sie mich als Hausbursche mit freier Kost und Logis und einem kleinen Lohn ein. Meine Hauptaufgaben waren die Teppiche zu saugen und in der Küche zu helfen. Die Verpflegung wurde von den Franzosen beschafft. Wir lebten wie Gott in Frankreich. Zu jeder Mahlzeit wurde der gute "Bopparder Hamm" großzügig kredenzt und in den ersten Tagen war ich ständig beschwipst. Die Offiziere, die ironischerweise nie von mir verlangt hatten der Trikolore meine Ehrerbietung zu erweisen, gingen oftmals auf Hasenjagd und dank meiner Erfahrung im Abbalgen, konnte ich auch diese Aufgabe erfüllen. Als 14-jähriger schlachtete ich zuhause fast täglich ein Kaninchen, auch für die Nachbarn, da die Männer sich in Kriegsdiensten befanden.

Von Lilo sah und hörte ich nichts. Man hatte ihr wohl verboten, mit mir zusammen zu kommen. Es gab ja auch nichts mehr zu sagen. Ich war nur sehr enttäuscht, dass ich mich blindlings in diese Lage versetzt hatte, und dass Lilo unter ungeheurem Druck in keiner Weise für ihre Liebe zu kämpfen gewillt schien. Es war für mich das Zeichen keinen Versuch zu machen das Schicksal für eine gemeinsame Zukunft zu wenden.

Nach dreiwöchiger Tätigkeit in der Römerburg war ich gut genährt und hatte genug Geld für eine Fahrkarte nach Goslar. Ich bedankte ich mich bei der Besitzerin und teilte ihr mit, dass ich beabsichtigte in meine Heimatstadt zurückzukehren. Sie verstand meine Lage und gab mir ein großes Paket mit belegten Brotscheiben mit.

Noch einmal klingelte ich an der Tür in der Humboldtstraße. Diesmal machte Lilo auf und schien überrascht mich zu sehen. Sofort erfolgte ein Ruf der Großmutter: "Wer ist denn da?" Als ich ihr mitteilte, ich würde nach Golsar zurückkehren, zuckte sie hilflos mit der Schulter. Sie war allerdings bereit mich zum Bahnhof zu begleiten. Sie hatte keine Worte des Bedauerns und ich machte ihr keine Vorwürfe. Wortkarg schritten wir nebeneinander her. Als der Zug eintraf gab es noch einen letzten Händedruck. Ich stieg schnell ein und drehte mich nicht um. Zurückblickend bin ich froh, dass die Verbindung mit Lilo scheiterte. Sie war unentschlossen und zu sehr abhängig von ihren Eltern und ihrer Großmutter. Es war für mich eine heilsame Lehre für mein weiteres Leben.

Die Rückreise nach Goslar unterschied sich nicht sehr von der Hinreise. Die Verkehrsverhältnisse hatten sich nicht gebessert. Nach Dortmund kam ich ganz gut, aber der mitternächtliche Zug nach Hannover kam schon mit Passanten auf den Puffern und Trittbrettern an. Da gab es nur eines für mich, wieder aufs Dach. Der Unterschied war allerdings, dass es ein Personenzug war, der kein flaches Dach hatte. Ich legte mich auf den Bauch in der Dachmitte, die nur etwa 50 Zentimeter breit war, da war es schwierig meine Gepäckstücke zu plazieren. In Hannover stieg ich steif wie ein Bambi vom Dach herunter, und marschierte quer über die Schienen zu dem Bahnsteig, auf dem der Personenzug nach Goslar schon bereit stand. Ich fand sogar einen Sitzplatz in dem Abteil dritter Klasse mit den senffarbigen Bänken. Passagiere stiegen zu nicht ohne mich neugierig betrachtet zu haben. Als ich endlich an unsere Wohnungstür klopfte, waren die ersten Worte meiner Mutter: "Wie siehst du denn aus?" Der Blick in den Spiegel zeigte mir nur das Weiße meiner Auge im Gesicht, während alles andere russgeschwärzt war. Der Rauch der Lokomotive hatte das auf dem Dach des Zuges bewirkt. Meine Odyssee war beendet und damit ein Kapitel meines jungen Lebens und meine Fahrt ins Ungewisse wurde zu einer Fahrt ins Blaue.Von Lilo habe ich nie wieder etwas gehört. Das Thema war für mich passe und das Leben ging weiter.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.11.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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