Dirk Wonhöfer

Hoffnung

In dieser kalten Nacht zitterte sogar Gammon ein wenig, während er die dunkle Straße hinabschritt. Sein langes braunes Haar wehte in seinem Rücken, verflocht sich mit seinem Schal. Mit einem festen Ruck zog er den Mantel um sich und kuschelte sich enger in das flauschige Futter.

Der Wind zerrte nicht nur an seinen Haaren, sondern auch an seinen Gefühlen. Der junge Mann lächelte und erinnerte sich wehmütig an die vergangenen Jahre seines Lebens - Leben? konnte man es überhaupt noch so nennen? - zurück. Traurigkeit hatte die meiste Zeit über ihm gelegen wie eine eisige Decke. Kälte war zu seinem stetigen Begleiter geworden, und er hatte nicht einmal versucht, sie abzuschütteln. Jeden Abend zur gleichen Zeit zu erwachen, die gleichen Dinge zu tun oder tun zu müssen und niemals in den neuen Tag hineinsehen, das hatte etwas von einem Spiel, dessen Regeln man nicht nur nicht brechen durfte, sondern welches man nicht einmal verstand. Und dennoch, er mußte sich an die Spielregeln halten, wenn er nicht rücksichtslos vom Brett gefegt werden wollte.

Er überquerte die Hauptstraße und schenkte den Autos, die ihre Kurven um ihn machten und sich aufführten, als tanzten sie einen komplizierten und undurchschaubaren Tanz mit ihrer ganz eigenen, hupenden Melodie, keinerlei Beachtung. Die Häuser starrten ihn stumm wie immer an. In Wahrheit fraß ihn das Gefühl auf, daß nichts jemals zu passieren schien. Es waren seit jeher die gleichen Häuser. Und es waren schon immer die leeren Blicke der Menschen gewesen, die aus diesen Häusern traten und sich in ein Leben stürzten, das man bestenfalls als monoton bezeichnen konnte, die ihn so verdammt anwiderten. Was ihn noch mehr anwiderte aber war, daß diese Leute ein so monotones Leben führten und es nicht einmal merkten! Ihnen stand die Welt offen, doch was sie letztendlich mit ihr taten, war zu langweilig, um es in Worte zu kleiden.

Der Abendhauch umgarnte den Mann noch ein letztes Mal, bevor er aus dem kalten Schein der Straßenlaternen trat und hinein in einen engen Hausflur. Die Treppenstufen bis in den neunten Stock nahm er ohne ersichtliche Anstrengungen, nur in seinen Augen spiegelte sich das Verlangen, auszubrechen aus der Gewohnheit. "Lena" murmelte er gedankenverloren, während er auf die Klingel vor der Tür drückte und die Hand zurück in den schwarzen Mantel schob.

Schnell öffnete jemand, und er wurde von einem warmen Lächeln und einem wissenden Gesicht empfangen. Seine Augen waren geschlossen, als er die Haut seiner Liebsten an seiner eigenen spürte.

"Lena" wisperte er wieder, hauchte es in ihre Haare, dort, wo die blonden Strähnen ein zartes Ohr verbargen. Sie sahen sich in die Augen. Wässrig glänzten die Pupillen der jungen Frau, die ihm geöffnet hatte, und mit einem Handschlag stieß sie die offene Tür ins Schloß. Sie hatten beide schon zuviel über diesen heutigen Abend geredet, als daß es noch weiterer Worte bedürft hätte. Sie wußten beide, was heute abend geschehen würde, doch Gammon konnte sich mit dem Gedanken nicht anfreunden. Zu tief saßen die Gefühle, die ihn jede Nacht aufs neue daran erinnerten, was es hieß, kein Mensch zu sein.

Lena nahm seinen Mantel und hängte ihn ordentlich auf einen Bügel. Natürlich sprengten die inneren Stürme, die in beiden brausten, fast ihre Kräfte, hätten sie einfach verrückt machen können, und eben deswegen besannen sie sich auf das alltägliche und normale.

Ein paar Schritte später, Gammon hatte seine Liebste auf die Arme gehoben und wie eine Braut ins Schlafzimmer gebracht, ließen sie sich nieder. Lena fühlte seinen schweren Atem, als sie eine Hand auf seinen Hals legte, und zärtlich strich sie ihm über die Haut.

Ihre Augen versuchten ihm weiszumachen, daß er sich nicht sorgen solle, doch ihr Herzschlag, den er wie eine Trommel vernahm, pochte so laut und schnell, daß er sie Lügen strafte.

"Versuch nicht, darüber nachzudenken, ob es richtig oder falsch ist" flüsterte sie und legte ihren Kopf an seinen. "Schenk mir nur den Teil von dir, der mich zu dem macht, was ich schon immer sein wollte. Laß mich ewig bei dir sein, doch tu es schnell, bevor mein Mut mich verläßt!"

Gammon lächelte nun ebenfalls. Tränen liefen ihm die Wangen hinab, perlten von den markanten Zügen. Das letzte Mal, daß er geweint hatte, war bereits so lange her, daß er sich nicht mehr daran erinnern konnte. Er wußte nur, daß er zu diesem Zeitpunkt noch Mensch gewesen war. Seit seiner.... Veränderung, hatte er immer gedacht, daß er einfach nicht mehr weinen konnte. Daß dieser Wandel ihm alle Tränen geraubt hatte. Doch er sah die Tropfen auf der nackten Haut seiner Liebsten glänzen und wußte, wie sehr er im Unrecht gewesen war. "Nimm mich mit auf die Schattenseite" fuhr Lena fort und küßte die Tränen weg. "Dann sind wir frei, endlich frei..."

"Frei wie die Nacht." Er nickte nur und gab ihr einen letzten Kuß. "Ich liebe dich." Sie spürte seinen Mund an ihrem Hals, wie seine Lippen an ihrer Haut spielten und sie zärtlich streichelten. Ein Ziehen durchfuhr sie, es erinnerte sie an ihre Kindheit, als eine Wespe sie knapp unter dem Ohr gestochen hatte. Doch der Schmerz währte nur kurz, dann verflossen die Gefühle und machten einer betäubenden, sinnesraubenden Wärme Platz.

Sie starrte aus dem Fenster, während er das Blut ihres Körpers in sich aufnahm, und das letzte, was sie sah, waren die Vorhänge, die sich wie Wellen des Meeres kräuselten. Einen wohligen Augenblick, bevor sie in Bewußtlosigkeit versank, fühlte sie seine Nähe noch einmal ganz intensiv, und mit letzter Kraft murmelte sie: "Ich liebe dich auch..."

Die rosige Farbe ihres Leibes wich langsam einer weißen, fast wächsernen. Gammon ließ ab von ihrem Hals und betrachtete sie liebevoll. So ruhig lag sie da, so still. Ihr Körper verriet nicht, daß in ihrem Blut nun das floß, was aus ihr das gleiche machen würde, was er war. Es war nicht mehr viel Blut in ihrem Leib vorhanden. Nur gerade soviel, daß es reichte, sie zu einem von ihnen zu machen. Die Tränen flossen nun wie kleine Wasserfälle aus seinen Augen, er wußte nicht einmal, daß man soviel Wasser in sich tragen konnte. Doch entgegen allem, was er sich ausgemalt, was er sich vorgestellt hatte, ja, was er mit Lena verabredet hatte, schüttelte er den Kopf und beugte sich erneut über sie, versenkte seine Zähne erneut und trank weiter. Die Zukunft, wie sie sie sich vorgestellt hatten, verblich jetzt genauso rasch wie Lena selbst. Gammon zögerte nicht mehr.

Lange, nachdem selbst der letzte Tropfen Blutes ihren toten Körper verlassen hatte, blieb er noch bei ihr liegen und hielt sie fest. Irgendwann, als er draußen vor den Fenstern bereits die Morgenröte am Horizont erkennen konnte und spürte, daß die Sonne bald aufgehen würde, schob er sich von ihr fort und schenkte seiner großen Liebe Lena einen wehmütigen Blick. Er zog die Decke über sie und küßte sie auf die Wange. Die Tränen waren endlich versiegt.

"Ich konnte es nicht tun, meine Liebste. Ich konnte nicht" flüsterte er, während sich hinter ihm der Himmel hellrot verfärbte und der Tag zurückkehrte.

"Das, was du von mir wolltest, ist kein Leben. Es ist nicht einmal der Tod. Es ist etwas, was dich nach einiger Zeit so sehr zerfrißt, daß du dir wünschst, nie geboren worden zu sein. Ich habe dir etwas besseres als das "ewige Leben" geschenkt, meine Teuerste. Es ist die Hoffnung. Ich hoffe, daß deine Priester Recht haben. Ich hoffe, daß unsere Seelen - falls wir ich soetwas überhaupt besitzen kann - in den Himmel auffahren werden, und daß wir dort beieinander sein können. Es ist besser, als das traurige Dasein, das wir ansonsten führen würden. Es ist das beste, was mir jemals passiert ist. Ich hoffe, daß wir uns wiedersehen..."

Gammon blinzelte, als er einen stechenden Schmerz am Kopf spürte, und als er sich umdrehte, brannte ein kleiner Sonnenstrahl durch das Fenster und versengte seine Haut. Er legte sich ruhig auf das Bett, nahm Lenas tote Hand und wartete, bis das gnadenvolle Licht selbst den letzten Rest von ihm fortgebrannt hatte.

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Weil ich das Verschwenderische des Lebens begriffen habe, die Extreme erkannte und über den Weg von einem zum anderen nachzudenken anfing, weil ich verstand wie elend es ist, wußte ich auch, wie schön es ist und weil ich erkannte, wie ernst es auch ist wußte ich auch wie fröhlich es ist.

Und weil ich begriff wie lang und wie kurz der Weg zwischen beiden ist, nahm ich ihn auch wahr und so ist mir heute jeder Schritt es wert eingehalten zu werden, weil hinter jedem Ereignis sich ein anderes verbirgt und sichtbar wird.

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