Johanna Klee

Die Zeitbank

Er verkaufte Zeit. Natürlich sah man ihm das nicht sofort an, denn er hätte genauso gut ein Manager oder ein Politiker sein können. Er trug immer einen schwarzen Designeranzug und schwarze Schuhe. Außerdem hatte er beständig einen schwarzen Aktenkoffer bei sich, in dem sich verschiedene Verträge befanden, so dass er jeder Zeit einen neuen Kunden gewinnen konnte.
 
Sein äußeres Erscheinungsbild war eher unscheinbar, was eine wichtige Eigenschaft in seinem Beruf war. Jeder normale Mensch würde ihn auf der Straße gar nicht erst beachten und so fühlten sich seine Kunden niemals von ihm betrogen oder benachteiligt.
 
Er hatte eine kleine Brille, hinter denen sich seine kleinen braunen Augen befanden und war meistens sehr blass im Gesicht. Seine Haare waren ebenso dunkel wie seine Augen und waren immer ordentlich gekämmt.
 
Auch in der Größe oder im Gewicht fiel er nicht auf. Er besaß keinen durchtrainierten Körper und trotzdem wirkte er auch nicht zu dünn. Nur seine Hände waren etwas länger und schmaler als die von anderen Menschen.
 
Wegen all dieser körperlichen Eigenschaften vertrauten ihm seine Kunden sehr schnell. Sie hielten für einen von vielen Beamten, auch wenn seine ruhige uns selbstsichere Art eigentlich das Gegenteil verkündete.
 
Alles in allem konnte er getrost von sich behaupten, dass er seinen Beruf sehr gut und gewissenhaft erfüllte. Wahrscheinlich hatte er nur wegen seiner sanften und unauffälligen Art diese Arbeit bekommen.
 
5 Tage in der Woche für je acht Stunden arbeitete er für die Zeitbank. In seiner Freizeit kontrollierte er die Verträge oder fand er neue Kunden. Manchmal las er auch ein Grammatikwörterbuch oder die Maximen seiner Arbeit.
 
Er mochte seine Arbeit wirklich sehr, auch wenn man ihm das nicht anmerkte, da er ja seinem Beruf entsprechend einen ruhigen Charakter hatte.
 
Er wusste, dass seine Beschäftigung sehr wichtig war. Besonders in letzter Zeit kamen immer mehr Kunden hinzu, insbesondere Jugendliche und Erwachsene profitierten von der Zeitbank.
 
Ein normaler Arbeitstag von ihm begann damit, dass man einen Kunden fand oder einen schon registrierten Kunden traf.
 
Einen Kunden zu finden war immer sehr einfach. Man musste bloß Jugendliche in einer Klausurenphase treffen oder Erwachsene mit Karrierezielen. Manchmal gab es auch Hausfrauen, die mehr Zeit zur Erziehung ihrer Kinder und für die Hausarbeit benötigten. Wenn er dann einen potenziellen Neukunden getroffen hatte, musste er ihn nur unverbindlich fragen, ob er denn gerne mehr Zeit hätte. Die meisten antworteten daraufhin mit einem ja und schon war der Vertrag so gut wie geschlossen.
 
Durch sein unauffälliges und seriöses Auftreten ließen sich sehr viele Menschen auf ein weiteres Treffen mit ihm ein, bei diesem wurde dann der Vertrag geschlossen. Natürlich ist das Geschäft mit der Zeit kein Ungefährliches. Man gab den Menschen mehr Zeit, dafür mussten sie monatlich je nach Zeitstunden einen relativ geringen Betrag bezahlen. Normalerweise nahm er für eine Stunde Zeit einen Euro als Gegenleistung, zusätzlich gab es eine Grundgebühr von fünf Euro.
 
Wie viel Zeit sich jeder Mensch tatsächlich nahm, blieb ihm überlassen. Er konnte einfach zu seinem Konto gehen und sich dort für einen bestimmten Tag mehr Zeit geben lassen. Das war besonders praktisch für Menschen im Prüfungsstress oder mit Schlafmangel.
 
Das Geschäft war wirklich sehr einfach, es hatte bloß einen Haken: Die Zeit musste irgendwo herkommen. Schließlich konnte man nicht einfach Zeit für einen Menschen aus der Luft zaubern.
 
Um die Zeit zu bekommen, hatte sich die Zeitbank etwas Raffiniertes einfallen lassen. Sie nahm die Zeit einfach von anderen Menschen weg – das betraf vor allem Menschen in den Entwicklungsländern. Da es in Afrika oder Südamerika noch keine Zeitbanken gab, konnten auch keine potenziellen Kunden damit verschreckt werden. Die Lebenszeit der Menschen in den ärmeren Ländern der Welt wurde einfach verkürzt und dafür den Menschen in den westlichen Ländern gegeben.
 
Das war ein sehr lukratives Geschäft. Natürlich musste man als Angestellter der Zeitbank den Kunden die Konsequenzen ihres Handelns erklären. Doch durch das unauffällige Aussehen der Mitarbeiter nahmen die Kunden an, dass schon ein moralisch vertretbarer Akt war, anderen Menschen die Zeit zu nehmen.
 
Skeptiker konnte man auch mit gezielten Argumenten überzeugen. So war ja die Lebenserwartung in Afrika sowieso nicht sehr hoch, aber die Bevölkerungszahl stieg rasant. Also mussten ja sowieso die Menschen von Natur aus sterben – besser, man verkürzte ihr Leid.
 
Die Menschheit hat doch wirklich sehr wenig Mitgefühl, die meisten ließen sich trotz besseren Wissens auf das Geschäft ein. Zeit war eben eine kostbare Gabe. Und in einer Welt voller Computer und Fernseher, voll Hektik und Stress wirklich sehr gefragt.
 
Das Problem war bloß, dass es langsam zu viele Kunden in der Zeitbank gab. Bloß Kinder und Rentner benötigten diesen Service sehr selten. Außerdem wurde es auch für viele Menschen moralisch nicht mehr vertretbar, wenn wirklich viele Kinder in Afrika pro Tag sterben mussten.
 
Allerdings ließen sich die Logistiker der Zeitbank zurzeit etwas einfallen, was auch der aktuellen Politik entsprach: Sie wollten in der Zukunft die Zeit den Rentner in den westlichen Ländern auch einziehen – so gab es wenigstens kein Rentenproblem mehr.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.11.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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