Bernd Rosarius

....nur ein Name ?

Ein kurzer Blick auf die Uhr genügte. Hoppla dachte ich, zwei Stunden Mittagspause! Als Reisender im Außendienst ist das mittägliche Ritual immer das gleiche. Fremder Ort, Wetter durchwachsen, Geschäfte öffnen um 15.00 Uhr. Suche nach Imbissstuben, Cafes und Supermärkten. Kostenbewusstes Einkaufen von Verpflegung, ins Auto setzen, Zeitung lesen.
An diesem sonnigen Tag war es anders.
In diesem kleinen Dorf an der nördlichsten Spitze in Nordrheinwestfalen auf der Grenze zu Niedersachsen gab es nicht viel. Ein “Tante Emma” Laden, eine Kirche, zwei Bauernhöfe, eine Schule, schmucke Einfamilienhäuser und ein verhältnismäßig großes Textilgeschäft. Dort wollte ich meinen Kunden um 15.00 Uhr besuchen.
 
Ich schlenderte die Hauptstraße entlang und in unmittelbarer Nähe der Kirche, fiel mir eine überdimensional große Eiche auf. Unter ihren schattenspendenden weitausgelegten Ästen war ein prächtiger Findling, ein unbehauender Stein zu sehen, der sich inmitten einer Wiesenoase wie ein Berg nach oben wölbte und mit seiner Spitze die unteren Äste der Eiche berührte. Neugierig trat ich näher und befand mich an einer Gedenkstätte. In jeder Stadt, auf jedem Dorf, findet man im Mittelpunkt eine solche Stätte, die an die Kriegstoten der letzten beiden Weltkriege erinnert. Ich war fasziniert von dem einfachen individuellen Stil dieses Mahnmals. Meine Augen huschten über die kupfernen festverankerten Platten auf denen zahlreiche Namen standen:
Gefreiter Walter Schichtler gefallen in Russland 1944, Unteroffizier Heinz Schichtler gefallen in Russland 1944, Feldwebel Herbert Schichtler gefallen in Flandern 1943 u.s.w. Mehrmals Schichtler, mehrmals Kaiser, mehrmals Haffner, mehrmals Müller. Ich verharrte andächtig und durchbohrte mit meinem Blick förmlich die Steinplatten. Immer wieder sprang mir ein Name entgegen. Nur ein Name! Kein Bruder, kein Onkel, kein Vater, keine Mehrfachnennung. Nur ein Name.Ich hatte den Eindruck als wäre er besonders hervorgehoben, vielleicht täuschte ich mich aber meine Augen hingen fest an diesem einem Namen: Walter Michel gefallen 1945.Wo er gefallen war, stand nicht dort und auch kein Dienstgrad war zu lesen. Vielleicht war es gerade diese untypische Gravur, die mich vollends in seinen Bann zog. Es ist nur ein Name sagte ich laut zu mir.
 
Als hätte ich darauf gewartet, vernahm ich eine unsichtbare Stimme: “nur ein Name? Es ist mehr als das.” Ich erschrak und drehte mich um. Ein alter Mann saß auf einer Bank und lächelte mich freundlich an: “wollen Sie wissen wer das ist” fragte er mich. Ich zeigte mit ausgestrecktem Arm auf diesen Namen und stellte meinerseits eine Frage: “Kennen sie Walter Michel?” Verwundert hielt ich inne, wie vertraut mir der Name über die Lippen kam. Der alte Mann nickte, legte eine Doppelseite der Tagezeitung auf die Bank, damit mein Anzug nicht schmutzig wurde und bat mit einer einladenden Geste mich zu sich auf die Bank Ich setzte mich zu ihm und unsere Blicke lagen deckungsgleich auf Stein, Tafel und Namen.
“Wissen Sie” sagte der alte Mann bedächtig, ohne das er seinen Kopf in meine Richtung wandte“: Die Eiche stand schon immer hier. Sie bot uns Jugendlichen im Sommer Schutz vor der heißen Sonne, denn Sommer war damals noch Sommer und Winter war Winter. Wir trafen uns regelmäßig täglich nach der Schule oder Lehre hier. Es gab ein Tisch aus Stein und einfache Holzbänke. Die Jugend des Dorfes sammelte sich hier. Wir diskutierten über Probleme dieser Welt über Zukunftsperspektiven und persönliche Hoffnungen und Wünsche. Wir waren stark politisiert. Aufbruch in eine neue Zeit war das Leitmotiv unseres Denkens und........” der alte Mann schwieg einen Augenblick, drehte seinen Kopf erstmalig in meine Richtung und flüsterte als wolle er sich schämen auszusprechen was er dachte: “Adolf Hitler war der Mann der Stunde.” Ruckartig beugte er sich nach vorn, legte seine Ellenborgen auf die Knie und stütze seinen Kopf auf die gefalteten Hände.” Der große Messias, der Heilsbringer, der Hoffnungsträger. Er beseelte unseren Geist und nahm von unseren Körpern Besitz. Wir trieben Sport weil er wollte das wir schlank und drahtig waren und hart wie Kruppstein werden sollten. Wir aßen Gemüse weil er wollte das wir körperlich fit und gesund im Geist sind. Wir entdeckten die Liebe zur Heimat weil er wollte das wir uns als Gemeinschaft der Volksgenossen fühlten.” Wieder hielt der alte Mann inne, legte seinen Oberkörper weit zurück an die Lehne der Bank und schlug seine Beine übereinander. Seine Arme lagen weit ausgebreitet auf der Oberkante der Rückenlehne. Seine Fingerspitzen berührten leicht meinen Nacken. Ich sah auf die Eiche auf den Stein, betrachtete die Tafel mit den Namen, schwieg und hörte zu“: Wunderbar” sagte er“: Da kommt ein Mann, kritisiert den Versailler Vertrag, impft uns Stolz, Selbstvertrauen und Hoffnung ein und zeichnete eine Zukunft auf die uns faszinierte und glücklich machte. Punkt! Die Geschichte ist bekannt. Wir kannten uns alle im Dorf und die Aufbruchstimmung blieb niemanden verborgen. Es war eine einzigartige Begeisterung. Schuldige für den ersten verlorenen Weltkrieg und für die gesellschaftliche Depression danach war auch gefunden. Es waren die Juden, die Zigeuner, Randgruppen der Gesellschaft und Ausländer. Hier im Dorf hatten wir nicht das Problem. Es gab einfach keine Randgruppen oder doch? Unbedingt brauchten auch wir ein Feindbild, wir mussten auch uns selbst beweisen, das wir echte Volksgenossen sind. Die Biographie jedes einzelnen war bekannt bis auf einen von uns. Ein junger Zimmermann der zwei Jahre zuvor auf seiner Wanderschaft in unser Dorf kam und der Liebe wegen sich hier angesiedelt hat. Ein netter, sympathischer hilfsbereiter Mensch. Er war angestellt bei der einzigen Tischlerei im Ort. Wenn aber unsere Eltern Holzarbeiten für ihre Häuser oder Gärten benötigten, war er zur Stelle. Heimlich abends bastelte und werkelte er fleißig und strebsam und schuf anschauliche Werke, die teilweise heute noch erhalten sind. Die Holzbänke auf denen wir saßen hat er gezimmert. Wenn sie die Hauptstraße dorfauswärts gehen, sehen sie ein altes Haus mit einem Terrassenähnlichen Vorbau, das war auch sein Werk. Heute leben dort Neubürger aus Russland, das ist die Ironie des Schicksals.” Der alte Mann schwieg und ich hatte den Eindruck das erste mal ein Lächeln auf seinen Lippen zu sehen. Er holte tief Luft und sprach“: Der junge Zimmermann...” Jetzt unterbrach ich ihn abrupt und fragte: “War er Walter Michel?” Der alte Mann nickte und fuhr fort: “Ja, er war Walter Michel. Er war einer von uns. Jeden Abend mit dabei. Er lachte mit uns, weinte mit uns, freute sich mit uns. Er war auch kritisch, so ganz konnte er unsere Euphorie nicht teilen. Als Beispiel führte er immer an, das er seine künstlerische Freiheit behalten wollte. Ein Zaun sollte so gebaut sein wie sein Auftraggeber oder er selbst es für richtig halten würde und nicht als Maßnahme von oben vorgegeben ist. Auch meinte er das alles was laut vorgebracht wird nicht immer Gewähr für Richtigkeit ist, leise Töne hätten mehr Durchschlagungskraft. ”Wieder unterbrach der alte Mann seinen Bericht, um tief und bedächtig durchzuatmen, dann fuhr er fort: “Wir hatten plötzlich unser Feindbild, er musste ein Jude sein, ein Agent, eine dunkle Wolke am blauen Himmel. Von jenem Tage an war alles anders im Dorf. Er wurde gemieden, verspottet, beschimpft und gedemütigt. Alles ließ er über sich ergehen, er suchte unsere Nähe, war freundlich und wollte nur Freund sein und dazugehören. Die Ereignisse 1939 überschlugen sich. Deutschland befand sich kurz vorm Kriegseintritt und alle Augen und Ohren orientierten sich nach Polen. Scharenweise liefen die jungen Männer freiwillig zu den Waffen um  sich für den Führer und dem Vaterland mit Herz und Seele einzubringen. Aus unserem Dorf waren es zwei Männer die nicht den Weg zum Militär fanden. Walter Michel und Hans Kanne.
Hans Kanne war seit langem schon Parteimitglied, ein glühender Fanatiker und Hitlerfan. Er war vorgesehen den Ortsgruppenleiter zu unterstützen um später dessen Amt zu übernehmen. Walter Michel wollte keine Menschen töten, die er nicht kannte und die ihm nichts getan haben. Als wir am Vorabend des Transportes unsere jungen Leute verabschiedet haben, hielt Hans Kanne eine überzeugende und demonstrative Solidaritätsrede. Er bedauere sehr, das er nicht an der Seite seiner Freunde Frontgeschichte schreiben kann aber er würde in der Heimat für höhere Aufgaben vorgesehen sein und jeder Mann müsse seine Pflicht dort erfüllen wo er eingesetzt würde. Walter Michel weinte und meinte er würde ein Stück seines Herzens verlieren. Wieder und immer wieder ergoss sich Kübelweise Spott über ihn, doch er blieb so wie er war, freundlich, höflich und hilfsbereit. Er war traurig und enttäuscht und alterte sichtlich von Woche zu Woche. Als die ersten Todesmeldungen in den Elternhäuser eintrafen und wöchentlich die Namen öffentlich angeschlagen wurden, sah man Walter immer weniger. Er war isoliert, ausgestoßen und der Sündenbock schlechthin. In den folgenden Monaten und Jahren wurde das Chaos größer, die Hatz auf Juden stärker, SS durchkämmten die Häuser um Deserteure und Randgruppen aufzuspüren, auf den öffentlichen Plätzen zu sammeln und abzutransportieren. Auch Hans Kanne wurde schief angesehen, weil er immer noch nicht den Weg zur Front gefunden hat, sondern hinter einem alten Eichenschreibtisch saß um unwichtige Papiere zu bearbeiten. Hans spürte die Stimmung genau und wollte von sich ablenken und benötigte ein Opfer um sich als Saubermann darzustellen. Er brandmarkte öffentlich Walter Michel als Jude und Verräter. Kurze Zeit später kam die SS und nahm Walter Michel fest. Von dem Tage an war er nicht mehr zu sehen. Hans Kanne überlebte den Krieg und kam in russische Kriegsgefangenschaft.
 
Zehn Jahre nach Kriegsende kam Hans Kanne zurück in dieses Dorf. Er war ein gebrochener Mann, körperlich geschwächt und seelisch zerschlagen. Seine Eltern und Freunde tot und viele Neubürger die er nicht kannte. Fortan lebte er nur für einen Gedanken. Erinnerung zu wecken an seine Freunde und mit Hilfe der neuen politischen Kraft wurde diese Gedenkstätte geschaffen. Jeden Tag sah man ihn auf dieser Bank um Zwiegespräch zu halten mit seinen Freunden und Abbitte zu tun an Walter Michel.
 
Der alte Mann schwieg. Er sah mich sehr lange an und erhob sich von der Bank. Sein kurzes “tschüß” habe ich kaum gehört. Er schritt leicht vorübergebeugt Richtung Hauptstraße. Ich stand auf und rief: “Hören Sie, was ist aus dem Verräter geworden, lebt er noch?”. Der alte Mann blieb stehen, wandte sich um und antwortete laut und mit klarer Stimme. ”Ja er lebt noch. Ich bin es. Ich bin Hans Korte. Leben sie wohl, junger Mann.”
 
Ich sah ihm lange nach, bis er aus meinem Sichtkreis verschwand. Ein kurzer Blick zur Uhr genügte für die Erkenntnis das meine Mittagspause zu Ende war. Mein Kunde wartete auf mich.
Es war nur ein Name! Es war nur ein Tag in der Woche!

© Bernd Rosarius

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.11.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Wenn erst ein laues Lüftchen weht,
das sich naturgemäß dann dreht
und schnelle ganz geschwind,
aus diesem Lüftchen wird ein Wind,
der schließlich dann zum Sturme wird,
und gefahren in sich birgt-
Dann steht der Mensch als Kreatur,
vor den Gewalten der Natur.
Der Mensch wird vielleicht etwas klüger,
seinem Sturmwind gegenüber.


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