Daniel Reiser

John Rivers II

Prolog
 
Ein halbes Jahr ist mittlerweile vergangen seit den Ereignissen in Griechenland. John Rivers saß an seinem neuen Laptop, welcher auf seinem neuen Schreibtisch in seinem neuen Appartement stand. Rechts von ihm, eine Erstausgabe seines Buchs. Sein erster Roman. Ein Bestseller, der sich innerhalb von wenigen Wochen bis ganz nach oben in die Hitlisten jeder Buchhandlung beförderte.
 
„EIN ROMAN, DER EINEM DAS BLUT IN DEN ADERN GEFRIEREN LÄSST“ wie ihn die New York Times nannte. „EINE TOLLE GESCHICHTE. SEHR EINFALLSREICHER AUTOR, WELCHER GEKONNT EREIGNISSE AUS EINER MORDSERIE MIT FIKTION VERBINDET.“
 
Fiktion! Wenn die wüssten. Aber John wusste es besser. Ja er wusste es besser, und Sie wusste es auch besser. Er blickte auf das kleine eingerahmte Foto, dass schon fast unter einem Berg aus Zeitungen und zerknüllten Papierseiten begraben lag. Ja noch immer tat es weh, sie anzusehen. Warum hatte es nicht geklappt? Was hatte er falsch gemacht? Hatte er überhaupt etwas falsch gemacht? Dabei schien alles so perfekt zu sein, kurz nachdem er aus Griechenland zurück kam. Aber etwas hatte sich verändert. Ja, nach drei Monaten da war es anders. Langsam begann alles zu zerbrechen. Und jetzt? Jetzt ist er wieder allein. Und sie? Sie sitzt wieder in ihrem Büro im Polizeirevier und geht ihrer alltäglichen Arbeit nach.
 
Manchmal da mochte er zum Telefon greifen und Sie anrufen. Doch dann... dann fiel ihm kein wirklicher Grund ein, weshalb Sie mit ihm reden würde.
Und doch war da noch Liebe. Zumindest empfand er noch Liebe. Liebe? Was für ein dämliches Gefühl. Brachte es ihn doch keinen Schritt weiter. Keinen Schritt weiter an seine neue Geschichte.
 
Autor: John Rivers
Datum: 13.08.2004
Titel: _
 
Zwei Jahre sind nun mittlerweile vergangen seit den Ereignissen in Amsterdam. Max Hiller saß an.......
 
Das war auch schon alles. Ganze vier Monate verbrachte er nun schon vor diesem leeren Bildschirm, doch ihm konnte weder ein Titel einfallen, noch hatte er eine Idee wie die Geschichte weiter gehen sollte. Oder besser gesagt er hatte ja nicht einmal eine Geschichte. Ihm fehlte die Idee, die Inspiration, von welcher er für seinen ersten Roman ja mehr als genug hatte.
 
Und deshalb schoss ihm ständig ein Gedanke durch den Kopf. Wenn er doch nur wieder so etwas erleben würde, dann würde er sicher gleich drauf los tippen. Ein Blick hin zur rechten Wand auf das Foto seines toten Freundes aber reichte aus, dann wurde ihm klar, so etwas will ich nie wieder erleben. Und je mehr Tage vergingen desto unwirklicher kamen ihm die damaligen Ereignisse schon selbst vor. Es gab Zeiten, da war er sich gar nicht mehr sicher, ob das Alles wirklich passierte. Ein Blick zum Foto seines toten Freundes genügte aber, um ihm die Realität wieder vor Augen zu führen.
 
Und die Stunden verstrichen. Der Kaffe wurde kälter und John müder. Wie gerne würde er doch wieder jeden Morgen in den Park gehen um sich seine Zeitung zu holen und darin zu stöbern. Aber er ging nicht gerne weite Strecken. Nicht mehr. Nicht zur Zeit. Sein Bein machte ihm immer noch Probleme. Der Arzt hatte ihm zwar gesagt es würde einige Zeit dauern bis die Wunde vollständig verheilt wäre und er wieder fit wie ein Turnschuh sei. Doch das es länger als ein halbes Jahr dauern sollte? Ärzte, wenn die sagen es dauert einige Zeit, dann wollen die so etwas ausdrücken wie: Es tut uns leid aber sie werden nie wieder laufen können und jetzt her mit der Kohle.
 
Manchmal da war es ihm auch als würden die Leute auf der Straße ihn seltsam anstarren, wenn er an ihnen vorbei hinkte. Einmal da konnte er sogar einen kleinen Jungen seine Mutter fragen hören:
„Mami, sie mal da, der Mann kann nicht richtig gehen? Ist der dumm?“
 
Alles nur dumme Worte aus dem Mund eines Kleinkindes, dass es nicht besser weiß.
 
Das Telefon klingelte. Schon das fünfte Mal an diesem Tag. Und auch das fünfte Mal an diesem Tag, dass er sich weigerte dran zu gehen. Entweder war es sowieso nur sein Verleger, der ihm ständig die Ohren voll quatscht, er solle sich gefälligst mit seiner Fortsetzung beeilen. Oder aber die Bank, die ihn freundlich darauf hinweisen wolle, seine Ausgaben etwas zu begrenzen. Ja, mittlerweile flossen die Bucheinnahmen nicht mehr so dick, wie noch vor Monaten. Zwar kauften die Leute nach wie vor sein Buch, aber wie lange würde das noch gut gehen? Deshalb stand er so sehr unter Zeitdruck. Deshalb und weil er dies alles hier auf Pump finanzierte. Seine Wohnung, sein Auto, ja sogar die Unterhose gehörte noch immer zu  siebzig Prozent der Bank.
 
Und wenn ihm nicht bald etwas einfallen würde? In seine alte Wohnung kann er nicht mehr zurück, nicht nachdem was auf dem Zettel für seinen Vermieter stand, bevor er nach Griechenland ging. Er wunderte sich sowieso, weshalb ihn noch keiner seiner alten Bekannten verklagt hatte, jetzt wo er, zumindest etwas, erfolgreich war.
 
Wieder klingelte das Telefon. Dieses mal jedoch hörte es nicht so schnell auf. Ihm schien nichts anderes übrig als abzuheben, auch wenn er ein verdammt ungutes Gefühl dabei hatte.
 
„John Rivers hier.”
“John? Es ist etwas sehr schlimmes passiert.“
„Mom?“
„John, dein Vater ist tot.“
 
Minutenlange Stille.
 
„John?..... John?“
„Entschuldige Mom, ich hab nicht ganz verstanden was du gesagt hast. Das hörte sich für mich so an als ob du sagtest Dad sei tot.“
„Ja, John. Er hatte heute Nacht einen Schlaganfall. Auf dem Weg ins Krankenhaus mussten sie ihn wiederbeleben, aber.....“
 
Durch das Telefon hindurch konnte man klar erkennen, dass die Person am Ende der anderen Leitung anfing zu weinen.
 
„.... er hat es nicht geschafft.“
„Mom... Bitte hör auf zu weinen. Ich.... ich werde so schnell kommen wie ich kann. Hörst du?“
 
Er legte mit zittriger Hand den Hörer zurück beachtete dabei gar nicht, dass er ihn nicht richtig einrasten ließ. Dann begriff er erst was seine Mutter gerade zu ihm gesagt hatte. Sein Vater war tot. Mitten im Wohnzimmer sackte er zusammen und seine Augen füllten sich mit Tränen. E war nicht fähig all die Erinnerungen an ihn zurück zu halten, die ihm nun nach und nach durch den Kopf gingen. Erinnerungen an die Zeit mit ihm in seinem kleinen Werkzeugladen in dem er sich als kleiner Junge von morgens bis abends aufhielt und sein Vater ließ ihn dann manchmal sogar die Kasse bedienen. Schöne Zeiten. Aber wieso starb er? Er war doch erst? 85. Ja, er war schon sehr alt. Schuldgefühle kamen in ihm hoch. Er hatte seinen Vater das letzte Mal kurz nach der Rückkehr aus Griechenland besucht und er konnte sich noch gut an den Tag erinnern. Welche große Augen sein Vater machte, als er ihnen Angela vorstellte. Wie stolz er auf seinen Jungen war, dass konnte jeder sehen. Und es fiel ihm ein, er hatte ihnen noch nicht einmal erzählt, dass Angela und er nicht mehr zusammen waren. Angela. Ja, er musste zu ihr. Er musste es ihr sagen. Sie waren zwar nicht mehr zusammen, aber sonst kannte er niemanden mehr in dieser großen Stadt. Und jetzt brauchte er jemanden mit dem er reden konnte. Jetzt brauchte er jemanden. Mehr denn je.
 
 
Kapitel 1
 
Er griff sich die Autoschlüssel von der Kommode und verließ die Wohnung. Mit seinem neuen Sportflitzer machte er sich auf den Weg zum Polizeirevier. Und während der ganzen Fahrt brachte er die Worte seiner Mutter nicht aus seinem Kopf.
„John, dein Vater ist tot..... er hat es nicht geschafft.“
Zorn und Wut kochten in ihm auf. Immer tiefer drückte er das Gaspedal gen Boden und ließ den Drehzahlmesser stärker und stärker in den roten Bereich drehen.  40...60....80....90.... Der Motor drehte immer lauter und die Umgebung flog immer schneller an ihm vorbei. Eine rote Ampel bremste ihn jedoch unsanft ab, verhinderte aber noch schlimmeres. Eine Ecke weiter, stand es auch schon. Das Polizeirevier. Es war ihm, als ob er noch gestern erst hier gewesen wäre und doch lag mittlerweile ein halbes Jahr seit seinem  bisher ersten und einzigen, eher unfreiwilligem Besuch. Und wie schon damals zögerte er beim beschreite der großen Stufen. Erinnerungen holten ihn ein.
 
„John kommen sie schon. Worauf warten sie?“
Dies waren ihre Worte als sie ihm damals die Tür aufhielt.  Zögernd schritt er durch die Eingangstür und hielt in der großen Haupthalle einen Moment inne. Sein Verstand wollte ihn glauben machen, er könnte den Geruch der frischen Farbeimer noch riechen. Dieses mal jedoch würde er nicht so einfach an den Metalldetektoren vorbei kommen. Ein Polizeibeamter bat ihn auch schon zu sich.
 
„Kann ich ihnen helfen?“
„Ja, Hallo. Mein Name ist John Rivers. Ich möchte zu Detektiv Angela Swanson.“
„John Rivers? Der John Rivers?“
Er nickte mit einem freundlichen Lächeln, weil er genau wusste was ihn jetzt erwartete.
Der Polizist reichte ihm begeistert die Hand.
„Sie werden es nicht glauben, aber ich bin einer ihrer größten Fans. Ihr Buch. Ich habe es gelesen. Ach was rede ich da... ich habe es verschlungen. Kann ich...“
Der Beamte zog einen Zettel aus seiner Brusttasche und nahm einen Stift vom Tisch hinter ihm.
„Ja, klar. Hier.“
John unterschrieb erfreut. Zwar war es langsam leid, jedes Mal, wenn er nach seinem Namen gefragt wurde diese Prozedur zu ertragen, aber auch ihm passierte es nicht oft ein Autogramm zu geben, und es gab ihm das Gefühl ein großer Star zu sein.
„Oh.. Wahnsinn.. Das muss ich meiner Frau erzählen, wenn ich heute Abend nach hause komme. Das wird sie umhauen. Sie ist nämlich auch ganz großer Fan ihres Buches.“
„Ach, wirklich? Was für eine Überraschung.“
Nein, es war keine Überraschung. Fast die ganze verdammte Stadt, kannte dieses Buch. Fast die ganze verdammte Stadt besaß dieses Buch.
„Sagen sie, darf ich etwas fragen?“
„Natürlich. Fragen sie.“
„Ist es wahr, dass sie und... und der Detektiv... mal zusammen..“
„Erzählt man das?“
„Ja, das ganze Revier, erzählt davon.“
„Na dann wird’s wohl stimmen.“
Er schmunzelte leicht.
„Und?“
„Und was?“
„Wie ist sie so? ...Na beim sie wissen schon?“
Der Polizist machte eine seltsam anmutende Geste mit seinen Händen. Das ging nun auch für John zu weit.
„Also, ich wüsste nicht was sie das angeht.“
„So gut also?“
„Hören sie, so sehr ich es auch genieße mich mit ihnen zu unterhalten, aber ich muss wirklich dringend mit Detektive Swanson sprechen.“
„Oh, natürlich gehen sie durch. Sie wissen wo sie ja wo sie den Detektiv finden?“
„Ja, den Weg kenne ich noch. Danke.“
 
Na endlich. Es konnte weiter gehen. Er schlenderte die Treppen zum zweiten Stock hinauf und wieder konnte er sich erinnern.
„Kommen sie, wir müssen die Treppen rauf in den zweiten Stock. Da ist mein Büro.“
Der zweite Stock. Das einzige was sich verändert hatte. Scheinbar wurde hier auch renoviert. Die Wände waren nicht mehr verdreckt, in den Ecken fehlte kein Putz und auch die Türstöcke waren nicht mehr angeschlagen.
 
Er konnte auch schon ihr Büro am anderen Ende der Halle erkennen und bahnte sich zielsicher seinen Weg dorthin, vorbei an all den kleinen Büroabteilen. Vor ihrer Tür jedoch machte er halt.
 
Detektiv Angela Swanson. Immer noch der selbe Schriftzug wie damals. Er hob langsam die Hand und klopfte einige Male kräftig gegen die Tür. Keine Antwort. War sie vielleicht gar nicht da? Oder hörte sie das Klopfen nicht?
 
Er drückte den Türknauf nach unten und trat ein. Sie war nicht da. Das Licht in ihrem Büro brannte und wie es zu erwarten war, kochte auch der Kaffee in der Maschine. Selbst der Kaffeebecher war noch der selbe. An den Wänden hingen noch immer die gleichen Bilder. Nur eins war neu. Ein Bild ihres Vaters. Sie musste es erst vor kurzem hier aufgehängt haben. Der Rahmen war neu, und er kam John sehr bekannt vor. Es war der gleiche Rahmen, den er ihr vor 5 Monaten geschenkt hatte, damals war aber noch sein Bild drin. Vielleicht war es doch keine so gute Idee hier her zu kommen.
 
Er ging auf ihren Schreibtisch zu. Unter all den Akten schaute ganz versteckt ein kleines Polaroid Foto hervor. Vorsichtig schob er es unter dem Aktenberg heraus, er wollte nichts durcheinander bringen, hatte ja sowieso hier nichts verloren. Was das Foto zeigte überraschte ihn aber doch. Angela und er eng umschlungen, lachend, feiernd. Also war da vielleicht doch noch etwas?
 
Die Tür ging auf und sie kam herein.
„He, was machen hier in meinem Büro? Wer zur.... John? John, was? Was willst du hier?”
„Hi, Angela. Du... du siehst gut aus.“
Er wollte auf sie zu gehen, und sie umarmen. Aber sie wimmelte ab.
„Verschwinde hier. Ich will dich nicht sehen.“
„Angela. Hör zu.“
„Nein, vergiss es. Egal was es ist, ich will es nicht hören.“
„Angela. Bitte....“
„Nein, hau ab!“
„Bitte... Mein Vater ist tot.“
„Hau a.... was?“
„Er... ist heute Nacht gestorben.“
„Oh, mein Gott. Das tut mir so leid.“
Jetzt umarmte sie ihn doch. Und es war nicht nur eine kalte Umarmung, dass konnte er fühlen.
„Wie fühlst du dich?“
„Wenn ich ehrlich sein soll, beschissen.“
„Setz dich John.“
„Danke. Hör zu. Ich weiß... ich weiß, dass du dich fragst, weshalb ich dir das alles erzähle. Nun ja, du bist die einzige hier in dieser Stadt die ich kannte. Die einzige Person die mir einfiel und... und ich musste mit irgendwem reden, bevor ich nach Florida fahre.“
„Das verstehe ich. Kann ich dir helfen?“
„Da wäre etwas, was du tun könntest. Meine Mutter weiß noch nicht, dass wir beide nicht mehr zusammen sind und wenn ich es ihr jetzt sage, dann würde dass wahrscheinlich zuviel für sie werden. Also wollte ich dich fragen ob... ich weiß das klingt komisch.... aber ich wollte fragen, ob du..... mit mir nach Florida fahren würdest.“
Jetzt war es raus. er kniff die Augen zusammen und bereitete sich schon geistig auf Angelas Standpauke vor, doch leider wurde er enttäuscht.
„Ok.“
„Ich habe erwartet, dass du nein sagen wü... Ok?“
„Ja, ich fahr mit. Aber nicht wegen dir. Sondern weil ich deine Mutter sehr mag und deinen Vater mochte ich auch. Ich werde mitfahren, weil sie nett ist und jetzt jede Hilfe brauchen kann die sie kriegt. Aber wenn es deiner Mutter besser geht, dann werde ich ihr die Wahrheit sagen John. Und dann sind wir beide entgültig fertig miteinander. Hast du verstanden?“
„Ja. Ja ich hab verstanden.“
Er blickte noch mal auf das Foto. Als Angela das bemerkte, nahm sie es, zeriss es in einige Stücke und warf es auf den Boden.
„Nein, John. Der Zug ist abgefahren.“
Das zerstörte für ihn jede Hoffnung, dass doch wieder alles gut werden würde. Was hatte er getan das sie ihn so sehr hasste? Er kam einfach nicht drauf. Vor allem nicht, da er sie an genau dem Tag als Sie die Beziehung beendete fragen wollte, ob sie ihn heiraten würde. Den Ring hatte er immer noch. Ein ganz schön teures Teil, dass er für sie besorgt hatte. Zumindest war der Ring aber nicht ganz überflüssig. Immerhin hatte er jedes Mal wenn er in anstarrte eine weitere überflüssig, schmerzvolle Erinnerung auf die er aber auch gerne verzichten würde.
 
„Also, bis wann willst du fahren?“
„So schnell wie möglich.“
„Ok, John. Ich werde noch einige Sachen hier erledigen und du kannst mich dann in zwei Stunden bei mir abholen. Du weißt ja noch wo ich wohne. Kommst du klar soweit?“
„Ja. Ich warte dann vor deinem Appartement.“
Er stand auf und wartete darauf, dass sie ihn zum Abschied noch einmal umarmen würde. Ein vergeblicher Wunsch. Sie verabschiedete ihn mit einem schlichten
„Bis dann.“
 
 
Kapitel 2
 
Langsam fuhr er mit seinem Wagen in die einzige freie Parklücke vor ihrer Wohnung. Sie erwartete ihn schon, mit einem Koffer in der Hand welchen sie hinter sich herschob und wie immer sah sie verdammt gut aus, auch in Schwarz gekleidet.
 
„Hi.“
„Hi.“
„Können wir?“
„Ja, fahr los.“
 
Eine gespenstische Stille herrschte im inneren seines Wagens vor. Keiner von beiden sprach ein Wort. Es gab auch nicht viel zu sagen zwischen ihnen. Zumindest wenn es nach Angela ginge. Vielleicht war es nur diese beklemmende Stille oder aber der Stress. Vielleicht war es aber auch beides, jedenfalls begann sein Bein ihm wieder höllische Schmerzen zu verursachen. Mit seiner rechten Hand versuchte er, zu massieren, zu beruhigen.
„Dein Bein macht dir immer noch Probleme?“
„Na ja, die Kugel ging tief rein. War n verdammt guter Schütze.“
„Oder ein verdammt schlechter. Wer weiß, vielleicht war das Bein gar nicht das Ziel?“
„Willst du damit sagen du hast auf meinen Kopf gezielt?“
„Nein, aber könnte ich es noch mal tun, dann würde ich’s machen.“
 
Das reichte. Jetzt wollte er Klarheit.
„Warum verdammt noch mal hasst du mich so sehr? Was? Was habe ich dir getan?“
„Das weißt du ganz genau.“
„Nein, nein ich habe keine Ahnung. Klär mich auf.“
„Du tust es schon wieder. Du willst es nicht begreifen. Ok, weißt du was? Ich werde nicht anfangen mich aufzuregen. Ich werde nicht mit dir streiten. Ich werde einfach hier sitzen und die Klappe halten. Wir können vor deiner Mutter so tun als ob alle Perfekt mit uns beiden wäre, aber wenn sie weg ist, dann werde ich dich wie Luft behandeln. Kapiert?“
Keine Antwort.
„Hast du das verstanden?“
Er vollführte ein zögerndes Nicken. Ihr Vortrag bohrte sich in sein Herz, wie damals die Kugel in sein Bein. Ein Schmerz tausendmal stärker als jede Waffe ihn hätte verursachen können. Jedenfalls tat sein Bein nun nicht mehr weh.
 
Er war nicht schlauer als vorher, er war sich keiner Schuld bewusst. Sie bekam doch alles von ihm. Oder doch nicht?
 
„War es der Sex?“
„Wenn du nicht aufhörst, dann... dann werde ich auf der Stelle aussteigen?“
„Mitten auf dem Highway?“
„Ja, mitten auf dem High.... Halt die Klappe.“
 
Sie drehte ihren Kopf aus dem Seitenfenster, fest entschlossen die restliche Fahrtzeit in dieser Haltung zu verbringen.
„Der Sex war klasse.“
 
Das Handy in ihrer Tasche klingelte und sie nahm ab.
„Detektive Swanson.... Oh, hi Michael.”
Ein zufriedenes Lächeln überkam sie.
„Ja, ich weiß.. sehr kurzfristig, aber ich hab dir ja schon alles erklärt. Leider ja.... Der Italiener kann warten.... Ja... Ja. Ich dich auch. Tschüß“
„Wer war das?“
„Geht dich eigentlich nichts an. Aber... mein Freund.“
 
Darauf zu antworten, hätte keine Sinn gehabt. Sie ignorierte ihn, das war deutlich an ihrer Körperhaltung zu erkennen. Einige Minuten strichen dahin bevor er sie grimmig anfuhr.
 
„Ok, wenn du nicht reden willst, dann hör zu. Und zwar ihm.“
Er drehte das Radio bis zum Anschlag nach oben. Nachrichtenzeit. Es war Punkt drei Uhr.
„Ereignete sich vor wenigen Minuten eine Explosio...“
Klick.
Sie drehte es ab, besser gesagt, sie riss den Lautstärkendrehknopf aus der Verankerung. Anscheinend wollte sie kein Radio hören. Das würde die Fahrt nicht unbedingt angenehmer für beide machen.
 
Drei Stunden später, um genau zu sein die schlimmsten drei Stunden seines Lebens später kamen sie am Haus seiner Eltern an. Ein kleines Häuschen in einem netten kleinen Vorort in Florida. In hellen angenehmen Tönen gestrichen. Bunte Blumenbeete im Vorgarten. Lediglich die vielen parkenden Autos störten die Idylle. Die gesamte Verwandtschaft war bereits da. Und John war wie immer der letzte. Egal zu welchem Familienergebnis er auch erschien, er kam immer zu spät. Das hatte ihn jedoch nie wirklich gekümmert. Nie, bis Jetzt. Jetzt war es anderes. Es macht schließlich einen großen Unterschied ob man zu Onkel Toms Pensionsparty erst zwei Stunden zu spät auftauchte oder ob man der letzte auf der Beerdigung seines Vaters ist.
 
Vor der Haustür hielten die beiden an.
„Schaffst du das, John?“
„Ich.. ich weiß nicht.“
Er begann nervös an seiner Krawatte zu zupfen.
„Warte mal. Zeig her.“
Sie rückte mit ihrer gekonnt ruhigen Art die Krawatte und den Anzug zurecht, jetzt war er bereit die Türklingel zu läuten. Vielleicht nicht bereit, aber zumindest in der Lage. Er zögerte aber. Wiedereinmal musste Angela die Initiative ergreifen.
 
Es dauerte nur wenige Sekunden bis sich die Tür öffneten und seine Mutter ihm weinend in die Arme fiel. Diese Szene berührte Angela ebenfalls stark, so dass sie sich die Augen mit einem Taschentuch trocknen musste.
 
„Oh Mom. Ich.. ich.
Er wusste nicht was er sagen sollte. Er konnte nur weinen. Seine Mutter wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht, dann schloss sie mit ihrer Umarmung auch Angela ein. Langsam wich sie einen Schritt zurück und mustere die beiden.
 
„Lasst euch mal ansehen.... Oh, wenn dein Vater euch beide doch sehen könnte. Kommt rein. Sagt den Anderen Hallo.“
 
Die beiden traten in das mit weißen Nelken geschmückte Wohnzimmer. Alle Familienmitglieder fielen John in die Arme. Alle wollten ihm ihr Beileid bekunden.
 
Angela hielt sich eher außerhalb dieser Szenerie. Jetzt hatte sie Zweifel daran, ob ihre Entscheidung mitzukommen richtig war. Sie fühlte sich richtig schlecht. Die Lügnerin zu spielen, dass lag ihr eigentlich nicht besonders. Und seit einigen Stunden da hatte sich auch ein seltsamen Gefühl in der Magengegend, so als ob etwas nicht stimmen würde. Vielleicht hatte sie aber auch nur Hunger. Ihr Frühstück, wenn man es den so nennen kann, bestand nur aus drei Tassen Kaffee und vier Zigaretten. Und jetzt wäre eine fünfte, dass was sie brauchen könnte.
 
„John, ich werde mal schnell in den Garten gehen, etwas frische Luft schnappen.“
Unauffällig entfernte sie sich von der Trauergemeinde, sehr darauf bedacht, dass vor allem Johns Mutter sie nicht bemerkte. Draußen im Garten standen schon zwei andere, mit Glimmstängeln in der Hand. Ein etwa 25jähriger junger Mann, längeres Haar, zerknitterter Anzug, sein weißes Hemd hing rechts aus der Hose und auch seine Schuhe waren matt und leicht verdreckt. Und eine Frau, vielleicht seine Schwester oder Freundin? Man konnte ihr deutlich ansehen. Wenigstens sie war den Umständen entsprechend ordentlich gekleidet. Trotz ihrer starken Zweifel, gesellte sie sich zu ihnen.
 
„Hallo, darf ich euch ein wenig Gesellschaft leisten?“
„Ja, na klar. Halten sie es da drin auch nicht mehr aus? All die alten Menschen? Ich wette die meisten von ihnen kannten ihn nicht einmal richtig. Wollen doch nur einen Stück vom Kuchen haben. Diese verdammten Erbschleich..“
„Joanna, das reicht.“
Der Mann unterbrach sie.
„Entschuldigen sie meine Schwester, aber sie kann unsere Familie nicht sonderlich leiden, wer kann’s ihr verübeln. Oh, eh ich’s vergesse, ich bin Matt.“
Er reichte ihr die Hand.
„Freut mich euch beide kennen zu lernen. Ich bin Angela.“
„Oh, sie sind Johns Freundin habe ich recht? Die Polizistin?“
Matt brach in dogmatischer Begeisterung aus.
Oh man, ich träume fast mein ganzes Leben schon davon eines Tages Polizist zu werden. Schießereien jeden Tag. Verbrecher Jagen. Die geilsten Mädels abschleppen.... Oh entschuldigen sie. Ich wollte nicht...“
„Schon gut. Aber du hast vergessen, dass du mit 30 Kaffeesüchtig sein wirst.“
Die drei begannen in leichtem Gelächter auszubrechen, dann entgegnete Joanna ihr:
„Sie sind anders als der Rest der Verwandtschaft. Irgendwie Cool. Genauso wie John....und sein Vater. Er konnte die da drinnen alle nicht ausstehen. Und jetzt ist er.... tot.“
Angelehnt an die Schulter ihres Bruders begann Joanna zu weinen.
„Schon gut Joanna. Lass es raus. Entschuldigen sie ins.“
„Kein Problem. Ich werde dann mal wieder zurück ins Haus gehen.“
Auf dem Weg nach drinnen, erwartete sie John schon, er beobachtete das ganze, aufmerksam an der Tür stehend.
„Hast du dich mit den beiden angefreundet?“
„Ja. Sie schienen ja nicht sonderlich gut zu sprechen auf die anderen.“
„Womit sie nicht die einzigen wären. Hab meinem kleinen Cousin ja immer gesagt, eines Tages, da würden sie wie Heuschrecken über alles herfallen. Die sind nur auf den Werkzeugladen scharf. Aber ich fürchte da muss ich sie enttäuschen. Dad hat ihn mir hinterlassen, das weiß ich schon seit...“
Er überlegte kurz.
„..seit ich von hier weg bin.“
War es schon so viele Jahre her? Anscheinend. Und wenn er darüber nachdachte, dann viel ihm auf, dass er all seine Besuche hier an einer Hand abzählen konnte.“
„Du hast also vor hier zu bleiben?“
„Nein, wie kommst du darauf?“
„Na, der Laden?“
„Nein, ich will diesen Laden nicht. Zu viele Erinnerungen an Dinge die ich ......., bevor ich ihnen denen da drin überlasse, verkaufe ich ihn lieber, oder reiß ihn ein.“
Was für eine Familienidylle.
„Seine Beerdigung ist Übermorgen. Ich werde ihn dann besuchen fahren, zusammen mit Mom. Du kommst doch mit oder?“
„Oh, nein. Das will ich wirklich nicht. Ich..“
„Ich habs ihr schon versprochen.“
Angela blickte hinüber ins Wohnzimmer und sah seine Mutter dort in Gedanken versunken auf dem Sofa sitzen.
„Meinetwegen. Aber nur wegen ihr. Kapiert?“
Sie erhob den Zeigefinger drohend.
„Ja, habs verstanden. Oh, eh ich’s vergesse. Wir können mein altes Zimmer Oben haben.“
„Dann hoffe ich für dich, du schläfst gern auf dem Boden, John?“
Sichtlich erfreut von dem was sie zu ihm sagte, machte sie sich auf den Weg nach Oben.
„Geiler Arsch. Gratuliere John. Super Fang.“
„Was? Oh, Matt. Komm her, Kleiner.”
Die beiden umarmten sich und klopften sich auf die Schultern. Eine dieser typischen Männergesten. Sie waren ja auch eher Freunde als Cousins. Das war es was John immer in Matt sah, eher einen Freund. Er hatte es nur vergessen. Seit drei Jahren traf er ihn nun zum ersten Mal wieder. Das letzt Mal sahen sie sich in Stainsview. An dem Abend gingen die beiden sogar ins Twisting Eagle und das sollte was heißen. John weiß bis heute nicht, wie das Mädchen hieß, in dessen Wohnung er am anderen Tag aufwachte. Er wollte es auch gar nicht wissen, es war ihm damals schon peinlich genug, nur mit seiner Unterhose bekleidet, quer durch die Stadt bis nach Hause zu laufen. Und wie peinlich es erst war, in seine Wohnung zu kommen, ohne Schlüssel? Das ist eine Erinnerung, die er, nur zu gerne, verdrängte.
„Wie geht’s dir Matt?“
„Naja, ich... komm schon klar damit. Es.... ist nicht leicht. Aber ich denke.. ich glaube ich pack das schon. Und du?“
„Das gleiche.“
„Du hinkst ja? Was schlimmes?“
„Nein, nur n bisschen ungünstig gefallen. Nichts schlimmes.“
Männer! Schafften es nie ihre Wahren Gefühle auszudrücken. Na gut zugegeben, sie mussten ja vor dem schwachen Geschlecht den Leitwolf geben, aber wäre es unmännlich gewesen sich gegenseitig heulend in die Arme zu fallen? Wahrscheinlich schon. John zeigte seine Trauer sowieso eher weniger. Zumindest zeigte er sie nicht sehr nach außen. Aber wer weiß schon was in seinem Kopf verging.
 
„He John, hab gehört ihr fahrt dann zu ihm. Ich würd.. gerne mitkommen. Wenn.. wenn du nichts dagegen hast.“
„Es wäre mir zwar lieber wenn du ihn anders in Erinnerung behältst, aber du bist kein Kind mehr. Wenn du willst, dann komm mit. Wir fahren in einer halben Stunde. Also, ich wird dann mal nach oben zu Angela gehen.“
Kurz bevor John die Treppe hoch lief, sprach Matt ihm noch nach:
„He, John. Schön das du wieder da bist,“
bevor er zurück ins Wohnzimmer ging.
Am oberen Treppenabsatz machte John halt.
„Schön wieder hier zu sein. Schön wieder hier zu sein.“
Flüsterte er leise in sich hinein, während er den alten Flur beobachtete. Ihm fiel auf, dass der sich nicht verändert hatte. Er sah immer noch genauso aus wie damals. In der rechten hinteren Ecke war sogar noch der nachgestrichene Farbbereich zu erkennen. Sein Vater musste ihn damals überstreichen, weil der kleine John damals etwas übereifrig mit seinen Malstiften war.
 
Mit jedem Schritt, den er den Flur entlang ging, da fielen ihm diese scheinbar, kleinen unbedeutenden Dinge ein. Es war ihm fast sogar so, als würde er den Flur so leise entlang laufen wie damals als er das erste mal Nachts ein Mädchen mit nachhause brachte. Am anderen Tag musste sie sogar das Haus über sein Fenster verlassen und dass nur damit John nicht den peinlichen Blicken seiner Eltern ausgesetzt war. Zu dumm nur, dass an diesem Tag die beiden schon im Garten saßen und alles genau mit ansahen. Aber das wusste John nicht. Sie hatten es ihm nie erzählt und er würde es auch nie erfahren.
 
Da stand er nun, vor seinem Zimmer. Warum zögerte er jetzt es zu betreten? Das letzte Mal als er mit Angela hier war, da tat er es doch auch nicht? Das letzte Mal war die Situation auch eine ganz andere. Langsam öffnete er die Tür. Angela war bereits dabei, ihm Kissen und Decke auf den Boden zu werfen.
 
„Ich hoffe, du schläfst gerne hart?“
„Ich bezweifle, dass ich die nächsten Tage überhaupt schlafen werde.“
Er warf einen traurigen Blick hinüber in ihre Richtung. Sie erkannte, dass sie doch etwas zu weit ging. Wieder zweifelte sie daran, ob sie hier das richtige Tat.
„Es tut mir Leid, John. Ich bin vielleicht doch etwas zu weit gegan..“
Ihr Handy klingelte wieder.
Sie stürzte sich hinüber zu ihrer kleinen Tasche auf der anderen Seite des Betts und hob ab.
„Swanson?... Oh ,hi.“
Wieder zeigte sie dieses zufriedene Lächeln. Unschwer zu erahnen wer da schon wieder dran war. John machte im Hintergrund lustige Grimassen und flüsterte leise vor sich hin:
„Oh, Michael. Ja... Ja.. Oh, ja. Michael, Michael... Bla Bla Bla.”
Sein kleiner Spaßvortrag wurde von einem fliegenden Kissen in sein Gesicht schnell unterbrochen.
„Entschuldigung.“
„Ja, Michael.. Was? Oh mein Gott. Nein, ich habs nicht gehört. Ich hatte kein Radio an.. Das ist wirklich.. tragisch..... Ja, ich dich auch.“
Das erregte Johns Aufmerksamkeit.
„Was ist passiert?“
„Die Eastwater Kirche. Man hat sie in die Luft gejagt.“
„Was? Aber die Eastwater Kirche in Stainsview? Wieso? Das..“
„Eine Gruppe verrückter Fanatiker marschierte mitten in den Gottesdienst und....“
Sie zögerte einen Augenblick, drückte das Handy an ihre Stirn, holte tief Luft und fuhr fort.
„...sie wissen noch nicht genauer wie viele Tote.“
Jetzt musste sich John erst einmal setzen, dass war entgültig zu viel für ihn.
„Oh mein Gott. Aber wieso?“
Es klopfte an der Tür.
„John? Angela? Seid ihr fertig?“
„Einen... einen Moment Mom. Wir kommen gleich runter. Willst du hier bleiben Angela?“
„Nein, nein, ich komm mit. Die werden die paar Tage auch ohne mich auskommen.“
 
Auf dem Weg zum Bestattungsunternehmen herrschte Totenstille im Wagen, vielleicht lag es daran, dass es ein komisches Gefühl war im Wagen seines Toten Vaters zu sitzen. Jedenfalls unterbrach Johns Mutter diese Stille als sie die Lieblingskassette ihres Manns in den Spieler schob. Alte Oldies tönten aus dem wohl genauso alten Radio. Und legten sich wie Balsam auf die vier Insassen. Die Sonne stand schon tief als die vier ankamen. Jetzt war es soweit. Zitternd ergriff John die Hand seiner Mutter und trotzdem feil es ihm sehr schwer sich dem Gebäude zu nähern. Angela und Matt gingen vor, versuchten jedoch so weit möglich mit den beiden anderen Schritt zu halten. Als sie die Tür durchschritten und den langen Gang hin zu dem Raum wanderten in dem er lag, da schlug sein Herz immer schneller und sein Bein begann abermals ihm Probleme zu machen.
„Dein Bein wieder John?“
„Ja, ach nicht so schlimm.“
Doch es war schlimm. Am liebsten hätte er alles in der Halle kurz und klein geschlagen, hielt jedoch die Schmerzen, soweit möglich zurück, nur seiner Mutter zuliebe. Aber er konnte ihr nichts vorspielen. Sie kannte ihn zu lang als das er sie hätte anlügen können. Sie drückte seine zittrige Hand fester.
 
Nun standen sie direkt davor. Der Bestatter öffnete ihnen die Tür und senkte seine Blick zum Boden, als wollte er damit sein Beileid bekunden und ihnen aber auch seinen Respekt zollen.
 
Durch die Tür hindurch konnten sie schon den geöffneten Sarg erkennen. Ihn zu sehen war für John nicht so schlimm wie er zuerst annahm. Wie er da lag, friedlich, als ob er schlafen würde. Ein leichtes Lächeln im Gesicht, die Hände auf der Brust zusammengeschlagen. Wäre er nicht so blass, trotz der vielen Schminke, die Bestatter hatten ganze Arbeit geleistet, würde niemand im Traum daran denken, einen Toten vor sich zu haben.
„Ich werde dich einen Moment allein mit ihm lassen.“
Seine Mutter ließ seine Hand los und verließ den Raum, Matt folgte ihr ohne zu zögern, er wusste genau das er das jetzt tun musste. Nur Angela blieb im Abseits stehen.
„Würdest du bitte auch kurz nach draußen gehen?“
Darauf hatte sie gewartet, sie hatte regelrecht gehofft er würde so etwas sagen. Dieser Moment gehörte nur ihm. Nur ihm allein und seinem Vater. Und selbst wenn sie noch zusammen wären, hätte sie nichts anderes erwartet.“
 
Als sie den Raum verließ und die Tür hinter sich schloss, löste das Einrasten der Tür einen regelrechten Gefühlsstoß in ihm aus. In Tränen stand er nun vor dem Sarg seines Vaters. Alles was sich am heutigen Tag angestaut hatte, all die Trauer, überkam ihn. Aber auch Zorn und Hass, auf sich selbst. Dafür dass er nicht da war, in seinen letzten Stunden, dafür, dass er nicht da war in all den letzten Jahren. Er hasste sich regelrecht dafür.
 
„Ich bin da, Dad. Es.... es tut mir leid, dass ich... ich mich in all den Jahren so wenig um euch gekümmert habe. Es tut mir leid, dass ich nicht da war, als du mich so dringend gebraucht hättest. Es gab da noch so viele Dinge die ich dir sagen wollte. Ich wollte dir so oft für alles Danken, Dad. Als... als ich dich das letzte Mal traf, da warst du so stolz auf deinen Sohn. Und jetzt? Ich habe alles verloren. Ich habe sie verloren, Dad. Gottverdammt, ich bin kurz davor mich selbst zu verlieren! In den letzten Tagen da.... ich kann es fühlen, Dad. Alles was ich in den letzten Monaten erreicht habe, alles was ich mir immer so sehr gewünscht hatte, es zerbricht in meinen Händen. Verdammt, Dad! Warum gerade jetzt? Jetzt wo ich deine Hilfe mehr gebraucht hätte als jemals zuvor. Warum? ....Der Laden, dein Laden, ich weiß es war immer dein Wunsch, dass ich ihn eines Tages bekommen sollte. Ich will dieses verdammte Ding nicht. Ich wollte ihn nie, du.. du warst immer der Geschäftsmann. Ich hab nie ganz verstanden wie du es geschafft hast, nicht pleite zu machen. Weißt du was? Ich denke ich werde ihn verkaufen. Ja, das werde ich. Ich werde ihn verkaufen und das Geld Matt geben. Es war doch schon immer sein Wunsch zur Polizeiakademie zu gehen. Und es würde ihn sehr glücklich machen. Vielleicht würde es auch dich glücklich machen. Vielleicht wärst du dann auf deinen Neffen stolz, wenn du es nie auf deinen Sohn hättest werden können.“
 
Verbraucht sackte er vor dem Sarg zu Boden und am liebsten wäre er da für den Rest seines Lebens geblieben.
 
Währenddessen draußen vor der Tür.
„Er ist da jetzt schon ganz schön lange drin, Tante. Vielleicht solltest du mal nachsehen ob..“
„Nein, das ist nicht meine Aufgabe. Angela, würdest du bitte?“
„Ich weiß nicht ob...“
Die alte Frau blickte sie bittend und bettelnd an. Es wäre geradezu unmenschlich, ihr diesen Wunsch auszuschlagen. Was blieb ihr also anderes übrig. Sie klopfte an die Tür und trat ein.
„John? Wir warten da draußen schon eine ganze Weile. Ist alles in Ordnung? John?“
Noch immer saß er da, zusammengekauert in einer Ecke des Raums.
„Geh weg. Ich will dich nicht sehen. Ich will keinen von euch sehen, Verschwinde. Verschwinde, wie alles andere auch aus meinem Leben verschwindet. Lass mich allein. Das ist es wohl was meine Leben bestimmt, die Einsamkeit.“
Sie schritt zögernd auf ihn zu und nahm neben ihm Platz.
„John, ich.... Ich bin wahrscheinlich der letzte Mensch auf dieser Welt, der Mitleid mit dir hat... Verdammt was red ich da, ich belüge mich schon selbst. Du tust mir leid, John. Der Tag heute muss schlimm für dich gewesen sein. Als mein Vater starb, da war ich gerade mal drei. Ich will nicht wissen, wie es für einen Erwachsenen sein muss. Ich wünschte... ich wünschte das alles wäre nicht so, wie es jetzt ist. Weißt du, dein Vater, er war der einzige Mensch, den ich traf, der so.. so eine Unbekümmertheit ausstrahlte, es war fast so als ob er....“
„Den Sinn des Lebens kannte.“
„Ja. Und wenn ich dich ansehe, dann erkenne ich viel von ihm in dir wieder.“
„War er etwa auch ein Versager? Ein Feigling?“
„Versager? Feigling? Hast du Griechenland schon vergessen? Ohne dich, da..“
„Was habe ich den getan? Das warst du? Du bist der Held von uns beiden. Du hast geschossen und du hast mir das Ding ins Bein gerammt.“
„Ja.. aber du warst es, der mich aus dem Schutt gezogen hat. Dir verdanke ich mein Leben. Und auch wenn es mit uns nicht geklappt hat. Ich bin mir sicher, dein Vater wird stolz auf dich sein, weil er es weiß. Er weiß es jetzt, dort wo er ist.“
 
„Warum hat das mit uns nicht geklappt?“
„Fang bitte nicht wieder davon an.“
„Wieso? Was habe ich dir getan? Es war doch alles so perfekt. Du und ich und all das, mein Erfolg mit dem Buch, mein..“
„Das ist es. Endlich rückst du es rauß. Dein verdammtes Buch. Du hattest nur noch Augen für dieses verdammte Buch. Tag und Nacht hast du nur noch damit verbracht an deiner Fortsetzung zu schreiben und langsam begann ich daran zu zweifeln ob es für dich noch etwas anderes gab. So konnte, so wollte ich nicht weiterleben. John, ich wollte dich, nicht dieses dumme Buch, nicht den Ruhm oder das Geld. Ich wollte glücklich sein. Aber nach drei Monaten da erkannte ich, so werde ich nie glücklich. Es fiel mir nicht leicht... Aber, aber ich glaube es war der richtige Weg. Es war mein richtiger Weg.“
„Dann hoffe ich für dich, du wirst mit Michael glücklich.“
 
Er stand enttäuscht auf und ging zur Tür.
„John, komm schon. Rede mit mir.“
„Nein, es ist wie du sagtest. Wir können vor meiner Mutter so tun als ob. Aber zwischen uns beiden wurde tatsächlich alles gesagt.“
 
Sie schafften es wirklich perfekt, die restlichen beiden Tage kein Wort miteinander zu reden und auch wenn Johns Mutter im selben Raum war, da vermied er jeden überflüssigen Augenkontakt. Nun war es Angela, die sich schuldig fühlte. Es waren die schlimmsten zwei Tage ihres Lebens. Kurz vor der Abreise beschloss sie, seiner Mutter alles zu beichten. Sie konnte nicht mit dem Gedanken nachhause fahren, dieser alten, netten Frau wissentlich die Wahrheit zu verschweigen. In der Küche ergab sich eine Gelegenheit, mit ihr alleine zu sprechen.
„Martha?“
Das war der Name seiner Mutter. Martha Rivers, geborene Higgins.
“Martha, ich muss dir etwas sagen.”
„Oh, ja mein Schatz. Setz dich doch. Eine schöne Beerdigung war es. Das hätte ihm sicher gefallen.“
„Ja, da bin ich mir sicher. Martha, hör zu. Mit mir und John, da..“
„Ihr beide seid nicht mehr zusammen, ich weiß.“
Das erstaunte Angela nun doch sehr. Sie wusste es? Hatte John es ihr etwa schon erzählt?
„Was? Du weißt es? Seit wann?“
„Schon seit dem Augenblick als ihr hier ankamt.“
„Aber woher?“
„Ich habe diesen Jungen geboren und großgezogen, denkst du wirklich er könnte etwas vor mir verbergen? Oh, ich bitte dich.“
„Dann haben sie es die ganze Zeit gewusst? Und uns unser Spiel weiterspielen lassen?“
„Ja, ich habe es förmlich genossen. Oh ja. Ich weiß auch, das John mich belogen hat über sein Bein. Es war kein Sportunfall. Er hasst Sport. Ich gehe nicht davon aus, du wirst mir erzählen, was passiert ist?“
„Nein, aber das.. das hat andere Gründe.“
„Oh, ja. Du liebst ihn noch immer habe ich recht?“
„Nein, das tue ich nicht.“
„Doch tust du, ich sehe es. Ich sehe es an der Art wie du ihn ansiehst wenn er wegschaut. Und ich weiß auch, dass er dich noch liebt. Wollt ihr es wirklich nicht noch mal versuchen?“
„Das liegt an ihm. Einzig und allein an ihm.“
John, der mit den Koffern, die Treppe runter rumpelte unterbrach ihr Gespräch.
„Also Mom. Wir werden dann mal... He was machst du den hier?“
„Wir haben nur etwas geredet.“
Martha flüsterte Angela zu.
„Kein Wort zu ihm.“
Und besiegelte mit einem zwinkern ihre Abmachung.
„Nur geredet? So, so. Mom, bist du sicher das du alleine klar kommst? Seine Beerdigung war erst gestern?“
„Ja ich schaffe, das schon. Immerhin bleiben die anderen ja. Und Matt und Joanna werden noch ganze zwei Wochen hier sein. Der freut sich noch immer darüber, dass du ihm mit dem Geld des Ladens, seine Polizeischule finanzierst. Und jetzt fahrt los, sonst kommt ihr noch in die ersten Staus auf den Highways.“
Eine kurze Umarmung zum Abschied und einige letzten Worte, bevor der Wagen in Richtung Schnellstraße verschwand. Die ganze Fahrt hindurch konnten beide nur an eins denken. John an die Beerdigung, an den Moment als der Sarg nach unten gelassen wurde, an dem Moment, an dem keiner der Anwesenden seine Gefühle mehr unterdrückte. Und Angela dachte nur noch an dieses Gespräch mit Martha. Hatte es diese alte Frau tatsächlich geschafft, das Spiel der beiden zu genießen, ohne ein Wort zu sagen. Du liebst ihn noch immer.. Damit hatte sie recht. Woher sie es auch wusste, sie wusste schon vor ihr, denn es war Angela erst jetzt bewusst. Sie liebte ihn noch immer. Aber das durfte sie nicht, das konnte sie nicht, es war nicht richtig. Sie hatte jemanden gefunden, jemanden der für sie dar war. Oder nicht? Seit zwei Tagen hatte er sie nicht mehr angerufen. War er doch nicht der perfekte Mann? Gab es diesen Mann für sie gar nicht? Oder saß er vielleicht sogar schon direkt neben ihr? Dumme Gedanken, die zu nichts führten. Dumme Gedanken für die jetzt keine Zeit blieben. Die Arbeite wartete auf sie. Nur noch wenige Kilometer bis nach Hause und dort blieb ihr bestimmt auch keine Minute zum Entspannen. Die Explosion der Kirche, das würde etwas längeres werden.
 
Der Wagen erreichte das Polizeirevier am späten Nachmittag.
„Bist du sicher, dass du nicht erst nach Hause willst?“
„Wenn du kurz wartest. Ich muss nur noch etwas erledigen hier. Dauert nur einige Minuten.“
„Muss das sein?“
„John, bitte.“
„Na gut. Aber beeil dich. Sonst kannst du dir ein Taxi nehmen.“
Sie beeilte sich. Sie rannte die Treppen schnell nach oben und verschwand auch schnell im Gebäude. Auf der Straße davor, war kaum etwas los. Kaum Polizisten und Wagen. Die mussten wohl alle im Einsatz gewesen sein. Wie immer waren wahrscheinlich nur die Bürohengste die einzigen die noch im Gebäude waren.
 
Er wartete sicherlich schon fast zehn Minuten. Was machte die da so lange. Hatte sie etwa schon vor lauter Arbeit vergessen, dass sie noch nach Hause wollte?
 
John war gerade dabei aus dem Wagen zu steigen und sie, wenn es sein müsste, an den Harren aus dem Gebäude zu zerren, da bemerkte er eine Gruppe von seltsam gekleideten Menschen, die in die Polizeistation rannten, als ob der Teufel persönlich sie verfolgte. Mit unverständlichen Worten, welche sie in den Himmel schrieen, verschwanden sie hinter der Eingangstür.
 
Jetzt war John, doch sehr beunruhigt. Seine schlimmsten Befürchtungen waren, das eben diese Leute zu den Fanatikern gehören würden, welche die Kirche in die Luft gesprengt hatten und allein dieser Gedanke genügte, um ihn dazu zu bewegen ohne noch weiter zu überlegen, aus dem Wagen zu springen und ihnen nachzulaufen so schnell er nur konnte.
 
Er war schon fast am oberen Treppenansatz angekommen als es passierte. Ein ohrenbetäubender, dumpfer Knall, Den Bruchteil einer Sekunde später riss eine riesig Flammenwelle sämtliche Fenster und ein Stück der Hausfassade aus den oberen Stockwerken und auch in der Haupthalle musste es eine Explosion gegeben haben. Die Eingangstür flog nur knapp an ihm vorbei, aber die Druckwelle war es letztendlich, welche ihn einige Meter zurück und die Treppe hinab schleuderte, an deren Ende er unsanft mit dem Kopf aufschlug. Und noch kurz bevor es ihm schwarz vor Augen wurde, da dachte er an Angela.
 
 
Kapitel 3
 
Er fand sich selbst in einem der Büroabteile sitzend, Akten in der Hand, haltend, gefüllt mit Anhäufungen von wirren Buchstabenkombinationen und Zahlen. Da sah er sie aus ihrem Büro kommen, den Kaffeebecher in der Hand haltend. Im selben Augenblick bogen diese seltsam gekleideten Menschen um die Ecke, verteilten sich im ganzen Raum und ließen ihre Jacken fallen. Einer lief direkt auf Angela zu.
„Angela, lauf weg. Lauf.“
Sie blickte ihn nur an.
„Dieser Zug ist abgefahren, John.“
„Angela. Nein!!!“
Der Mann, welcher auf sie zulief zog an einer Schnurr. Die Feuerwelle verbrannte sie innerhalb von wenigen Sekunden und John stand jetzt in der Leichenhalle, direkt vor dem Sarg seines Vaters.
„Alles was du anfasst, zerfällt in deinen Händen. Du bist ein Versager, ein Feigling. Du hast sie verloren, du hast dich selbst verloren.“
„Dad?“
Da vernahm er die Sirenen mehrer Krankenwagen. Langsam öffnete er seine Augen und ihm wurde klar, dass alles nur ein Traum war.
 
Er lag da, inmitten eines Meeres aus Flammen. Kratzer und Schnittwunden an den Armen und im Gesicht, der alte bekannte Schmerz an seinem rechten Bein und noch ein neuer an seinem linken. Ein Glassplitter steckte ihm direkt im Unterschenkel und der machte es unmöglich für ihn aufzustehen. Die Luft wahr staubig und das Atmen fiel ihm schwer. Er spuckte fast mehr, als er Luft holte.
 
„Da drüben ist einer am Leben.“
Diese Worte vernahm sein dröhnender Schädel und dann sah er auch schon die Umrisse eines Sanitäters.
„Keine Sorgen, bleiben sie ganz ruhig. Wir haben sie gleich wieder auf den Beinen.“
„Angela. Angela, ich muss da rein. Sie ist da drin.“
„Beruhigen sie sich. Sie stehen unter Schock.“
„Nein, Angela. Angela....“
John konnte spüren, wie sich eine spitze Nadel in seinen linken Arm schob, und wie alles langsam undeutlicher wurde und zu verschwinden begann.
 
Es müssen mittlerweile Stunden, wenn nicht auch Tage vergangen sein, als er sich selbst in einem Bett liegend wiederfand und er war nicht allein.
 
„Ah. Mr. Rivers. Wir dachten schon unser VIP hier wacht gar nicht mehr auf. War ne ganz schöne Arbeit, all die Splitter aus ihrem Körper zu holen.“
„Wo bin ich hier?“
Er versuchte sich etwas aufzustützen.
„Sie sind im McKently Hospital. Ich bin Dr. Mark Peterson. Lassen sie es lieber erst mal langsam angehen. Sie waren fast einen Tag weg.“
„Oh, verdammt, mir tun... sämtliche Knochen weh.“
Die Schmerzen waren noch immer sehr stark und nach wie vor wahr es ihm eher unmöglich aufzustehen.
„Mir würden auch sämtliche Knochen weh tun, wenn ich wie sie ein paar Meter durch die Luft geflogen wäre und das ohne Netz und doppelten Boden. Sie hatten verdammtes Glück. Wären sie noch ein paar Schritte näher an der Explosion gewesen, dann würden sie jetzt nicht hier, sondern im Keller liegen.“
 
„Angela?“
„Angela? Wer ist Angela?“
„Sie ging ein paar Minuten vor mir in das Gebäude. Sie muss hier irgendwo sein. Sie muss auch hier im Krankenhaus sein.“
Der Arzt wollte John zwar keine falschen Hoffnungen machen, er wollte ihm aber auch nicht sagen, dass außer ihm kaum jemand die Explosion überlebt hatte und eine Frau gehörte nicht dazu. Ganz im Gegensatz zu den duzenden Toten im Keller.
„Ich bin mir sicher... sie ist hier irgendwo.“
Dies Lüge tat ihm sichtlich weh. Doch er war ein Arzt und es passierte nicht das erste Mal, dass er zu so einer Notlüge greifen musste.
„Sie müssen sie finden Dr. Sie müssen sie finden.“
John fasste seinen Ärmel. Der Arzt drückte seine Hand aber zurück aufs Bett.
„Ich werde sehen was ich machen kann. Ach und da draußen warten ein paar Polizisten auf sie, die wollen ihnen ein paar Fragen stellen. Soll ich sie reinlassen.“
„Ja, sie können rein kommen.“
 
Zwei Detektivs betraten das weiß erhellte Krankenzimmer. Der dickere und auch ältere von ihnen trug einen Hut, den er aber voller Achtung abnahm und damit in seinen Händen spielte. Es wurde deutlich weshalb er einen Hut trug, sein Haar hatte sich schon sehr stark von seiner Kopfhaut verabschiedet, der Mann musste kurz vor der Pension stehen. Der andere Polizist war deutlich jünger, hatte noch nicht einmal nennenswerten Bartwuchs. Ein Grünschnabel, wahrscheinlich erst kurz zuvor, wenn nicht sogar erst in den letzten Stunden befördert. Ein alter Schreibtischwächter und ein Anfänger zusammen auf Streife? Scheinbar war die Sache so ernst, dass ihnen Polizisten fehlten.
 
„Wir hoffen, sie fühlen sich gut genug um mit uns zu sprechen Mr. Rivers. Wenn nicht, dann können wir später noch einmal kommen.“
„Nein, schon gut. Setzen sie sich doch bitte und könnten sie mir vorher vielleicht aufhelfen?“
„Oh ja natürlich. Warten sie, Moment.“
Der jüngere der beiden Polizisten zog ihn vorsichtig am Oberkörper nach oben, in eine aufrechte Sitzposition.
„So, schon fertig.“
„Danke. Also was wollen sie wissen?“
„Oh, nicht so schnell, lassen sie uns erst mal Vorstellen. Ich bin Detektiv Franklin und das ist mein Partner Detektiv Clapert.“
„Ich würde ja gerne sagen, es wäre mir eine Freude ihre Bekanntschaft zu machen, aber dann müsste ich lügen.“
„Oh, ja das verstehe ich. Wir wollen sie auch nicht lange stören. Wir wollen ihnen nur ein paar Fragen stellen.“
„Fragen sie, na los.“
„Haben sie vielleicht irgendetwas bemerkt, ist ihnen etwas ungewöhnliches aufgefallen als sie vor dem Revier standen?“
„Naja, da war ne Gruppe. Seltsam gekleidet, die rannten wie die Verrückten ins Revier und kurz darauf....“
„Wissen sie vielleicht, wie diese Menschen aussahen? Was sie anhatten?“
„Die sahen einfach nur komisch aus. Hatten rote länger Kleidung, sah fast aus als würden sie Kutten oder Mäntel tragen. Aber wozu soll das gut sein, die haben das Gebäude nicht mehr verlassen. Diese verdammten Verrückten haben sich selber in die Luft gejagt.“
„Konnten sie ihre Gesichter sehen?“
„Wenn sie wissen wollen ob es Araber waren? Nein, das waren eindeutig Amerikaner, aber da fällt mir noch was ein. Die haben kurz bevor sie durch die Tür gingen noch ein paar unverständliche Worte vor sich hin gefaselt. Mehr weiß ich auch nicht. Tut mir leid.“
„Ja, danke trotzdem. Sie haben uns zumindest etwas geholfen. Falls ihnen etwas einfallen sollte, dann rufen sie uns bitte unter dieser Nummer an. Ist nicht die des Polizeireviers. Wird einige Zeit dauern, bis es wieder steht.“
Der dickere von beiden legte ihm eine Karte auf die Ablage neben dem Bett.
„Detektive?“
„Ja?“
„Wie viele Tote gibt es?“
„Das darf ich ihnen nicht sagen, tut mir ...“
„Bitte ich muss es wissen.“
„Eigentlich sollte ich nicht, aber... mehr als 100 Menschen waren im Gebäude als es... und bis auf eine Hand voll hat es keiner überlebt.“
„Und Detektive Swanson? Wissen sie etwas über Detektive Swanson?“
„Ich weiß nicht...“
„Lügen sie mich nicht an.“
Detektive Franklin, zerknüllte nervös den Hut in seiner Hand und vermied jeden Augenkontakt mit John.
„Sie ist nicht bei den Überlebenden. Tut mir leid, ich weiß das der Detektive und sie sich sehr Nahe standen.“
„Hat man ihre Leiche..“
„Nein, man konnte bisher nur eine Handvoll der Toten identifizieren, ihr Zustand macht es fast unmöglich, aber wir fanden ihren Ausweis im oberen Stockwerk, im Zentrum einer der Explosionen, so dass man davon ausgehen kann, dass sie...“
Der Mann musste den Satz nicht beenden. John wusste was er sagen wollte. Angela war tot. Ein unfassbarer Gedanke und doch so real, fast zum Greifen nah. John hatte erst seinen Vater beerdigt, noch jemanden zu verlieren, der ihm Nah stand würde er nicht verkraften. Den ganzen Tag verbrachte er verzweifelt und trauernd im Bett liegend. Immer auf das Fenster blickend. Von seiner Position aus konnte er nichts weiter als den trüben Himmel erkennen. Offenbar befand er sich in einem der oberen Stockwerke des Krankenhauses. Wenn er doch nur fähig wäre aufzustehen, dann würde er das Fenster öffnen und direkt nach unten springen. Mit ein wenig Glück, würde er den Fall nicht überleben und tödlich auf dem Asphalt aufschlagen, dann wäre dieser Alptraum für immer vorbei. Ohne sie wieder zu sehen, gab es für ihn keinen Grund weiterzuleben. Und jetzt bereute er, dass er sich mehr um seinen Roman als um sie kümmerte. Dieser verfluchte Roman. Das erste was er tun würde, wenn er wieder dazu in der Lage ist zu laufen, wäre sämtliche Buchhandlungen der Stadt abzuklappern und alle Exemplare seines Buchs zu zerreißen. Doch das machte sie nicht lebendig. Sie war tot und das war die traurige Gewissheit. Nie wieder würde sie ihn anschreien, er solle sie in Ruhe lassen. Und auch die Worte „Dieser Zug ist für dich abgefahren“ würde er nicht mehr hören. Er begann sich an den Moment zu erinnern als er sie das erste Mal sah, als er sie mit seinen Augen auszog, damals als sie mit Detektiv Hastings vor seiner Wohnungstür stand. Damals als sie ihn in Big Mikes Werkstatt fand neben dem Rest von Big Mike. Wie sie ihm vor dem Blue Springs mitten im Regen, ihr Knie in den Bauch rammte. Und an die etlichen Male, die sie ihn nicht mit dem Wagen fahren lassen wollte. Er dachte auch unweigerlich an den Moment, als er in diesem Krankenhaus in Griechenland aufwachte und sie ihn einfach küsste ohne ein Wort zu sagen.
 
Ihr Gesicht, ihr Lächeln, ihre Worte hatten sich förmlich in seinen Verstand gebrannt und mit Erinnerungen an ihre erste gemeinsame Nacht schlief er langsam ein.
 
Ein kalter Windhauch umgab ihn. Regentropfen fielen auf die Ruinen der Polizeistation und verliefen an etlichen Stellen zu großen und kleinen Pfützen. Langsam schritt er die Treppen nach oben, an den Ort wo einst die Tür stand. In der Ferne konnte er sie sehen.
„John, komm her.”
“Angela, warte. Angela”
Sie entfernte sich von ihm, lief hinein in ein Labyrinth aus Trümmern und Asche.
„Angela, wo bist du?“
„John, komm her.“
Er fand sie nicht. Egal wie schnell er durch die verworrenen Gänge lief, egal wie sehr er sich auch bemühte mit ihr Schritt zu halten, er kam keinen Millimeter näher an sie ran und als er feststellen musste, dass er sich verlaufen hatte, gab er auf. Auch ihre Stimme wahr mittlerweile verstummt.
 
„Verlier sie nicht, mein Sohn, du darfst sie nicht verlieren.“
Aus den Trümmern schritt sein Vater hervor.
„Dad? Bist du es? Sie ist tot Dad. Sie ist tot, und ich.. ich konnte es nicht verhindern.“
„Verlier sie nicht, verlier dich nicht. Du darfst nicht aufgeben. Du bist kein Versager, du bist kein Feigling. Verlier sie nicht, oder sie wird für immer unter der Erde bleiben.“
Der Boden begann zu beben und  ein Spalt tat sich unter ihm auf. Unfähig etwas zu tun, fiel er in den Boden und Erde verschüttete ihn, so dass er nicht mehr in der Lage war zu atmen.
 
Ein tiefer Donnerknall ließ ihn aus diesem rätselhaften Traum aufwachen und er musste feststellen, dass es ein Kissen war, welches ihm die Luft wegnahm. Er musste sich wohl in der Nacht in sämtliche Richtungen gedreht haben und blieb letztendlich mit dem Gesicht im Kissen liegen.
 
Der starke Regen prallte gegen das Zimmerfenster. Langsam zog sich John aus dem Bett hin zu dem kleinen Tisch an dem er sich festhielt und nach oben zog, bevor er erschöpft auf einem der Stühle absackte.
 
Mit jedem Blitzschlag hallten die Worte durch den Raum.
„Verlier sie nicht.“
„Verlier dich nicht.“
„Du darfst sie nicht verlieren.“
„Für immer unter der Erde bleiben.“
 
Vielleicht war es nur ein verzweifelter Gedanke, ein verworrener Traum um mit der Situation fertig zu werden oder aber es war ein Zeichen, wie damals. Eine Botschaft, geschickt von einer unbekannten Adresse. Gesendet um ihm zu helfen. Er wusste es nicht, aber er musste dieses Krankenhaus verlassen, er konnte nicht in der Ungewissheit weiterleben, dass man sie nicht gefunden hatte. Vielleicht lag sie da noch unter den Trümmern, zwar nicht mehr am Leben aber zumindest hätte er dann die Gewissheit. Er konnte einfach nicht anderes und er brauchte etwas zum Anziehen.
 
Leise humpelte er in Richtung Tür und öffnete sie einen Spalt um sich zu vergewissern, dass der Weg frei wäre. Niemand war auf den Gängen zu sehen. Er öffnete die Tür weiter und ging den Gang entlang bis zur nächsten Raum. Vorsichtig schritt er hinein. Zwei Männer lagen schlafend in den Betten. John machte sich auf den Weg zu einem der Kleiderschränke, zog eine Hose und einen Pullover heraus und begab sich wieder zurück in sein Zimmer wo die Sachen anzog. Er krallte sich noch seine Brieftasche vom Nachtkästchen und steckte sich die Visitenkarte des Detektivs in die Hosentasche, bevor er in Richtung Gang und hinab ins Erdgeschoss verschwand.
 
Die Dame am Entfang telefonierte gerade und drehte ihm für einige Sekunden den Rücken zu, dass war seine Gelegenheit. Nur konnte er in seiner jetziger Verfassung nicht laufen. So unauffällig wie nur möglich, ging er zielstrebig zur Eingangstür, war gerade kurz davor sie zu öffnen, als die Frau ihn entdeckte.
 
„He, Moment mal. Wo wollen sie denn hin. Bleiben sie stehen. Sie können doch nicht einfach abhauen.“
„Hören sie, ich muss... ah..“
Schmerzen in der Brust unterbrachen seinen Satz. Eine seiner geprellten Rippen meldete sich zurück.
„Sie kommen doch keine drei Meter, wenn sie hier raus sind. Setzen sie sich lieber.“
„Nein, sie verstehen dass nicht. Ich kann nicht. Ich muss sie finden.“
„Ich habe zwar keine Ahnung wovon sie reden, aber sie werden dieses Krankenhaus heute Nacht nicht verlassen.“
„Doch das werde ich.“
„Ich glaube, der Sicherheitsdienst ist da anderer Meinung. Ich werde ihn jetzt rufen.“
„Nein, das dürfen sie nicht. Ich muss hier raus.“
Er stieß sie von hinten gegen den Tresen und nutzte die Zeit die sie brauchte um wieder aufzustehen, um im dunkel der Nacht zu verschwinden.
 
 
Kapitel 4
 
Der Regen war mittlerweile so stark, dass John, eher blind, durch die Straßen zog und an jeder Häuserecke eine Pause einlegen musste, weil seine Schmerzen mittlerweile zu stark wurden. Das einzige, dass ihn davon abhielt zusammenzubrechen, war sein Durchhaltevermögen, sein zielstrebiger Wille, sie zu finden.
 
Es muss schon nach Mitternacht gewesen sein, als er vor den Trümmern des alten Gebäudes stand, welches noch vor zwei Tagen eines der ältesten der Stadt war. Und nun, fehlte fast die komplette vordere Fassade der oberen Stockwerke. Sein Wagen stand noch immer auf der gegenüberliegenden Straßenseite und der Regen hatte die letzten Reste von Asche und Staub herabgewaschen. Nur die Dellen im Blech und abgesplitterte Stücke an den Scheiben waren zurückgeblieben. Selbst die Wagenschlüssel steckten noch in der Zündung, ein Wunder dass ihn niemand gestohlen hatte. Aber das war jetzt alles Bedeutungslos.
 
Nicht einmal die Treppe zur Eingangstür, war heil davon gekommen. Er stand nun genau an dem Punkt, an dem die Sanitäter ihn fanden. Die Haupthalle war nicht mehr wiederzuerkennen. Die Metalldetektoren hatten auf wundersame Weiße die Explosion überstanden, waren aber doch etwas verbogen und würden auch sicher nicht mehr funktionieren. John fragte sich ob der Sicherheitsbeamte, dem er vor vier Tagen noch ein Autogramm gab, gestern Dienst hatte. Er hoffte nicht, denn der Mann hatte eine Frau, das war es was er ihm sagte, vielleicht hatte er dann auch Kinder. Andererseits, wahrscheinlich hatten die meisten der Menschen, die noch im Gebäude waren Kinder. Und es wahr, so unmenschlich es sich vielleicht anhörte, der falsche Zeitpunkt um über sie zu trauern.
 
Der schwer angeschlagene John, bahnte sich seinen Weg durch Aschehaufen hinweg die Treppe nach oben in den ersten Stock. Wo einst das Großraumbüro war, da lagen nur noch verkohlte Teile von Schreibtischen und Bürotrennwänden und an der Stelle, an der Angela ihr Büro hatte, lag nur ein großes Loch, durch das man die darunter liegende Straße erkennen konnte. Wenn sie hier oben war, dann könnte sogar die Asche in der er jetzt stand ein Teil von ihr gewesen sein.
 
Als er so um sich blickte, da erkannte er in der Ferne, den Kaffeebecher, ihren Kaffeebecher. Besser gesagt, einen Teil davon. Also war sie hier oben, trank vielleicht sogar noch daraus kurz bevor alles in Flammen aufging. Er hätte nie hierher zurück kommen sollen. Was nütze es ihm, zu wissen, dass nichts außer Staub von ihr übrig war. Asche zu Asche und Staub zu Staub, wie passend des Pfarrers Worte bei der Beerdigung doch nun plötzlich waren.
 
Enttäuscht und doch auch erleichtert machte er sich auf den Weg zurück in die Haupthalle, war kurz davor die Trümmerwelt zu verlassen, als eine zusammengestürzte Wand sein Interesse weckte.
„Für immer unter der Erde bleiben.“
Diese Worte begannen nun Sinn zu machen. Damit konnte nur der Keller gemeint sein. Könnte er sich nicht daran erinnern, dass da einmal eine Tür war, hätte er sie übersehen, genauso wie die Feuerwehrleute es wohl taten.
 
Die Tür war noch immer da. Versteckt hinter den Trümmern, sie zu öffnen, wahr ihm aber nicht möglich, die Wucht der Explosion hatte sie so stark verbogen, dass er ohne einen schweren Gegenstand hier nicht weiterkam.
 
Er blickte um sich, irgendwo hier muss es doch etwas schweres geben, vielleicht ein Stück Stahl, ein Feuerlöscher oder sogar eine Pistole.
 
In der Nähe der Metalldetektoren lag auch eine und als er sie ergriff, musste er wieder daran denken, dass sie vielleicht dem Sicherheitsbeamten gehörte.
 
Mit der Waffe in der Hand begab er sich zurück zur Tür, zielte auf das Schloss, drehte seinen Kopf weg und drückte ab. Meterweit daneben, wie auch zu erwarten war, da er noch nie eine Pistole in seinen Händen hielt. Das ganze noch einmal von vorne, dieses Mal jedoch zwei Schüsse hintereinander. Wieder daneben. Jetzt reichte es ihm, die restlichen im Magazin verbliebenen Kugeln, feuerte er wütend ab und eher durch Glück trafen zwei davon.
 
Die Weg in den Keller war nun frei. Nicht einmal dieser Ort blieb von den Explosionen verschont und es wahr zu dunkel um auch nur einen Meter nach vorne blicken zu können. Welch glücklicher Zufall für ihn, dass er in seinem Wagen immer eine Taschenlampe bereit hielt.
 
Nun da er diese hatte, konnte er seine Erkundung im Keller fortführen. Auch hier war es nicht einfach für ihn zwischen all den Trümmern hindurch zu hinken. Die meisten der Türen hier unten wahren auch verschlossen, so dass sein Weg eher immer gerade aus als verzweigt verlief.
 
Das Licht seiner Taschenlampe fuhr von einem Ende des Ganges zum anderen und da wahr etwas. In der Ferne lag jemand auf dem Boden. Als er näher kam und das Licht der Lampe mehr erkennen ließ, wahr klar es handelte sich um eine Frau. Zwar war nicht mehr zu erkennen, welche Kleidung sie trug, aber sie hatte braunes Haar, wie Angela es hatte. Ihr Gesicht wahr aber nicht mehr zu erkennen, einer der herabgefallenen Stahlträger hatte ganze Arbeit geleistet und ein weiteres Stück Metall steckte ihr im Rücken.
 
John ließ sich vor ihr hinfallen und strich sanft durch ihr verstaubtes, kaltes Haar.
„Oh, Angela, es..... tut mir so leid. Ich wollte dir noch helfen, aber....“
er hatte sie gefunden. Das war es doch worum es ging, die Gewissheit zu haben, dass sie tot ist. Trotzdem fühlte er sich jetzt kein bisschen besser. War es seine Schuld? Hätte er die Chance gehabt, dies alles zu verhindern? Wäre sie noch am Leben, wenn er sie mehr beachtet hätte? Mehr als seine Arbeit?
 
Hier gab es nichts mehr für ihn. Nicht hier an diesem Ort, nicht hier in dieser Stadt. Was ihm blieb, lag in seinem Wagen und in seiner Wohnung. Alles was er noch hatte. Nutzlose Gegenstände, totes Kapital.
 
„Leb wohl, Angela. Vielleicht.... vielleicht bist du jetzt an einem besseren Ort.“
Wieder strich er ihr durch ihr kaltes Haar und fuhr über ihre Hand um sie ihr zum Abschied zu reichen, da fiel ihm der Ring an ihrem Finger auf. Ein schöner, goldener Ring, sah bis auf einige Kratzer und Staub noch neu aus. Dumm nur, dass Angela keine Ringe an den Fingern trug.
 
Schlagartig ließ er die Hand los, dabei fiel ihm die Taschenlampe auf den Boden. Wem auch immer er hier durch die Haare strich, wem auch immer er hier nachtrauerte, es war eine völlig Fremde.
 
Die Lampe lag genau so, dass ihr Licht das entstellte Gesicht der Frau zeigte. Eines ihrer Augen hing aus dem Gesicht hervor und ihr Unterkiefer war gebrochen. Maden wandten sich aus ihren Nasenlöchern und einige krochen aus ihren offenen Wunden. Ein schrecklicher Anblick, verstärkt durch das konfuse Licht, brachte ihn dazu sich zu übergeben. Kniend über seinem Erbrochenem fiel ihm in einer kleinen Ecke eine weitere Tür auf, die anders als die restlichen hier unten nur angelehnt war. Er griff zur Taschenlampe und leuchtete in diese Richtung. Schleifspuren führten von der Toten im Gang hinein in diesen Raum und dass ließ wieder etwas Hoffnung in ihm keimen.
 
Die Tür drückte er mit einem kräftigen Handstoß beiseite, um der Spur am Boden weiter zu folgen. Aktenschränke standen an den Wänden und auch in der Mitte des Raums. Mehrere Computer befanden sich ebenfalls in diesem Raum, einige von ihnen wurden durch die Erschütterung zu Boden geworfen, andere nur verschoben. Als er mit seiner Lampe durch den Raum fuhr, erkannte er hinter einem der Schränke eine Hand hervorstehen, ein Handy haltend, dass ihm sehr bekannt vorkam.
 
„Angela. Oh mein Gott.“
Sie lag da, regungslos, aber dem äußeren Anschein nach zu Urteilen, bis auf einige Kratzer unverletzt, so als würde sie friedlich schlafen. Er fühlte ihren Puls. Schwach und doch noch deutlich bemerkbar. Sie musste sich mit letzter Kraft hierher gezogen haben, weshalb auch immer. Dann hatte sie wahrscheinlich verzweifelt versucht, Hilfe zu rufen, doch ohne Empfang auf ihrem Handy, musste sie wohl irgendwann hier zusammengebrochen sein. Vielleicht schrie sie auch um Hilfe, als oben noch die Feuerwehrleute nach Überlebenden suchten. Hätte John sie nicht entdeckt, dann wäre dieser Raum hier ihre Gruft geworden, „Unter der Erde...“.
 
Wieder einmal hatte ihm jemand Botschaften in seine Träume geschickt und wie schon damals wusste er nicht im geringsten wer es war und doch war er dankbar dafür. Jetzt durfte er aber keine Zeit verlieren. Sie musste ins Krankenhaus und er wäre dort auch sichtlich besser aufgehoben. Ein seltsamer Anblick musste es gewesen sein, einen humpelnden, angeschlagenen Mann eine bewusstlose Frau dunkle Gänge entlang ziehen zu sehen.
 
Welch glücklicher Zufall es doch war, dass sein Wagen noch vor dem Gebäude stand. Das machte es ungemein leichter sich im Regen der Nacht den Weg ins Krankenhaus zu bahnen.
 
Am Empfang wartete auch schon eine alte Bekannte.
„Da sind sie ja wieder, ich werde auf der Stelle den Sicherheitsdienst ruf.. Oh, mein Gott, was ist mit ihr?“
„Ich hab sie in den Trümmern des Polizeireviers gefunden, hab ihnen doch gesagt ich muss sie suchen. Holen sie einen..“
„Arzt, natürlich sofort. Legen sie die Frau auf die Trage da drüben.“
Die Krankenschwester sprang regelrecht zum Telefon und drückte hastig irgendwelche Nummern.
„Ja, kommen sie schnell her, Doktor.“
 
Jetzt war es Zeit für John, die Verantwortung für Angela in andere Hände zu legen und auch die Naht an seinem Kopf musste aufgeplatzt sein, weil er spürte, wie durchnässtes Blut sein Gesicht herunterlief. Er musste sich setzen. Nur einige Sekunden später kamen auch schon allerlei Ärzte und Pfleger, die Angela den langen Gang entlang bis zum Aufzug brachten und in diesem Verschwanden.
 
„Hallo? Können sie mich hören? Geht es ihnen gut?“
Ein weiterer Arzt klopfte ihm auf die Schulter und leuchtete John in die Augen. Langsam begann dieses Licht schwächer zu werden und John brach wieder einmal bewusstlos zusammen.
 
 
Kapitel 5
 
Am nächsten Morgen wachte er wieder in seinem Krankenzimmer auf. Eine junge Schwester stand vor seinem Bett und schrieb etwas in sein Krankenblatt.
„Wo ist sie? Geht es ihr gut?“
„Guten Morgen Mr. Rivers. Sie sind ein richtiger Held, wissen sie das?“
„Wo ist sie?“
„Sie liegt in Zimmer 148, sie ist zwar noch nicht aufgewacht, aber es geht ihr gut. Ich würde sogar mal behaupten besser als ihnen. Die Ärzte waren wirklich sehr verwundert darüber, dass sie es in ihrem Zustand quer durch die ganze Stadt geschafft haben und das auch noch bei dem Wetter. Und erst der Rückweg. Also der da Oben muss sie ja sehr mögen.“
 
John zog sich langsam an der über dem Bett hängenden Halter.
„Wo wollen sie hin? Bleiben sie liegen.“
„Nein, nein ich muss sie sehen.“
„Hören Sie Mr. Rivers. Sie sind von den Ärzten mit Beruhigungs- und Schmerzmitteln vollgepumpt worden. Wenn sie jetzt aufstehen, dann werden sie nur auf die Nase fallen und wenn sie sich die auch noch brechen, dann kommen sie hier überhaupt nicht mehr raus.“
 
Dieser verdammte Starrkopf, trotz der Warnungen kroch er aus dem Bett, unfähig stehen zu bleiben.
 
„Na gut, wie sie meinen. Ihr Zimmer ist am anderen Ende des Flurs. Wenn sie jetzt los kriechen, dann sind sie vielleicht heute Abend drüben. Warten sie, ich öffne ihnen auch die Tür, weil ich weiß das sie sowieso keine Ruhe geben werden....“
Die Schwester, ging um die Ecke und schob einen Rollstuhl hervor.
„....springen sie auf und ich fahr sie rüber.“
 
John zog sich selbst dankbar in den Stuhl und die Krankenschwester brachte ihn in das ersehnte Zimmer. Doch die Vorfreude Angela zu sehen war nur von kurzer Dauer, da in ihrem Zimmer bereits Jemand auf sie wartete.
 
Ein Mann, etwa in seinem Alter. Langes Haar, braungebrannt, blaue Augen, gutaussehend, teure Kleidung. Das musste Michael sein. Er hielt Angelas Hand, wartete darauf, dass sie aufwachen würde. Was für eine schnulzige Szene. John wollte die Schwester gerade anweisen ihn wieder auf sein Zimmer zu bringen, da stand Michael auf und rief ihn zu sich.
 
„Oh, kommen sie bitte. Kommen sie, ich möchte mich bei ihnen bedanken. Sie haben ihr Leben gerettet. Dafür stehe ich in ihrer Schuld. Wenn es irgendetwas gibt, dass ich für sie tun kann, dann sagen sie es.“
„Wie wäre es wenn sie aus dem Fenster springen.“
Michael deutete mit den Fingern auf John und begann zu lachen.
„Sie sind wirklich ein Komiker Mr. Rivers. Entweder dass, oder sie sind unhöflich. Aber das will ich ihnen noch mal verzeihen. Sie haben meiner Kleinen das Leben gerettet.“
Seiner Kleinen? Diese Frau kannte wahrscheinlich mehrere Arten jemandem das Genick zu brechen und er bezeichnete sie als sein Kleine? Der Mann wahr wohl ein hoffnungsloser Romantiker.
 
Ein leiser Seufzer drang aus ihrem Bett. Sie war aufgewacht.
Michael rannte zu ihr hinüber um wieder ihre Hand zu halten und auch John befehligte die Schwester, ihn an ihr Bett zu schieben. Und auch er hielt ihre andere Hand.
 
„Wie geht es dir mein Schatz?“
„Angela? Wie fühlst du dich?“
 
„Oh, Michael? Was ist, was ist passiert?“
„Es gab einen kleinen Unfall Schatz, aber alles ist in Ordnung.“
 
Das Polizeirevier ist in die Luft geflogen und fast alle die du kanntest sind tot.“
„John? John, was zum.. Was machst du hier? Und warum sitzt du im Rollstuhl?“
„Kannst du dich an gar nichts mehr erinnern? Die Explosion? Klickts da oben nicht?“
 
„Schatz, was ist das letzte an das du dich erinnerst?“
„Ich war zusammen mit einer Kollegin im Keller und dann... dann war da dieser laute Knall und alles vibrierte. Einer der Stützpfeiler brach auseinander und fiel Julie auf den Kopf. Ich hab noch versucht sie zur Seite zu stoßen aber... er traf sie trotzdem. Also hab ich mich in das Archiv gezogen. Ich wollte Hilfe rufen, aber das Handy... Ich hatte keinen Empfang... Wie geht es ihr? Wo.. wo ist Julie? Geht es.... geht es ihr gut?“
 
„Ich bin mir sicher ihr geht es bestens, Schat..“
John unterbrach Michael, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern.
„Sie ist tot. Der Stahlträger hat ihr Gesicht regelrecht zerhackt.“
Er war sich sicher sie würde die Wahrheit vertragen können, war sie doch sicherlich einiges gewohnt.
 
„Was? Aber... oh, mein Gott. Sie.. sie wurde erst vor ein paar Wochen zu uns versetzt. Ihr Freund und sie wollten in wenigen Wochen heiraten. Sie.. sie hatte mir noch so stolz ihren Verlobungsring gezeigt bevor.....  bevor der Träger sie traf. Oh Gott, ich dachte ich würde in dem Keller verrecken.“
 
Alle Personen im Raum konnten deutlich erkennen, dass es sie innerlich zerriss, davon zu erzählen. Wie gerne wäre John jetzt an Michaels Stelle gewesen um ihr Trost zu spenden, sie voller Mitgefühl und Zärtlichkeit an die Brust zu drücken um sie zu beruhigen und sie zu küssen.
 
Ja, Michael küsste sie. Was ja schon unerträglich genug für John war, aber wirklich seelisch tötete ihn mit Ansehen zu müssen, dass Angela diesen Kuss auch noch voller Freude erwiderte. „Was soll dass? Die tut ja gerade so als ob sie ihm ihr Leben zu verdanken hätte? Das ist mein Kuss, du nimmst mir meinen Kuss weg. Ich schmeiß dich aus dem Fenster, du...“ Ihm fiel kein passender Ausdruck für ihn ein. Was fand sie an dem Kerl nur so besonders? Waren es seine langen Haare? Seine muskulöse Brust? Seine blauen Augen? Oder einfach nur sein starker Bizeps? Verdammt, der Kerl war perfekt. Wenn John noch länger über Michael nachgedacht hätte, dann würde er sich zum Schluss noch selbst in ihn verlieben.
 
Was blieb ihm also anderes übrig als die Turteltauben enttäuscht und einsam zu verlassen, war er ja hier eher das allbekannte, überflüssige, fünfte Rad am Wagen. „Der Zug ist abgefahren, John.“ Das waren ihre Worte. „Verdammt, was für ein Idiot bin ich eigentlich. Da rettet man ihr das Leben und was ist der Dank? Im Film läuft das aber nicht so.“ dachte er verbittert vor sich hin.
„Schwester bringen sie mich in mein Zimmer zurück.“
Er wedelte mit der Hand.
„Wissen sie ein Bitte soll ja manchmal auch ganz nett sein.“
„In mein Zimmer!!!“
„Ja Meister, ihr Wunsch ist mir Befehl.“
Das meinte sie natürlich nur sarkastisch.
 
Insgeheim hoffte John natürlich doch noch, dass Angela ihn aufhalten würde um ihm für ihre Rettung zu danken. Um ihn dafür mit einem richtig dicken Kuss zu belohnen. Oder noch besser mit Sex. Aber der einzige, der hier mit ihr Sex haben würde, war Michael. Was für eine abartig grauenhafte Vorstellung. „Meinetwegen. Treibst doch die ganze Nacht, ach was red ich da? Treibts die ganze Woche, macht doch so lange rum bis ihr wundgescheuert seid. Mir doch egal.“ Es war ihm nicht egal, ganz und gar nicht.
 
„So! Da sind wir Meister. Und jetzt legen sie sich wieder in ihr verdammtes Bett und nerven sie mich nicht weiter.“
Die Schwester kippte den Stuhl regelrecht über das Bett, so wie ein Mülllaster, wenn er auf der Deponie seine Ladung abließ.
 
„He, was soll das? Ich dachte sie sind Krankenschwester? Was machen sie in ihrer Freizeit? Überfahren sie da junge Katzen?“
„Nein, aber nervende Patienten.“
Autsch, das war gut gekontert. War nicht auf den Mund gefallen, die Frau. Und sie sah auch noch gut aus. Aber sie stand wahrscheinlich eher auf diese Lack und Leder Spielchen und vielleicht, wer weiß, lutschte sie in ihrer Mittagspause an Rasierklingen.
 
„Aber Schwester das war doch nur ein Wi..“
„Hinlegen! Schnauze halten! Sonst schieb ich ihnen die größte Spritze rein, die ich finden kann.“
 
John war hier eindeutig in der unterlegenen Position, also ließ er die Krankenschwester unbehelligt ihres Weges ziehen. Wenige Sekunden nachdem die Schwester auf dem Flur verschwunden war, betrat Michael das Zimmer.
 
„Oh, sie schon wieder? Wollen sie mir noch mal dafür Danken? Das finde ich ja ganz nett von ihnen aber es ist wirkl...“
„Halt die Schnauze du Bastard.“
„Was?“
„Du hast mich schon verstanden. Halt dein verdammtes Maul.“
 
Hatte John etwas verpasst? Was sollte dass? Der Kerl musste wohl ein völlig durchgeknallter Psychopath mit Grützegehirn sein.
 
„Was soll das hier werden? Sind sie...“
Ein kräftiger Schlag mit Michaels Außenhand in Johns Gesicht brachte ihm den Ernst der Lage näher. Der Mann war völlig Verrückt.
 
„Halt dein verdammtes Maul und hör mir zu!“
Michael packte ihn an der Kehle und drückte so fest zu, dass es ihm fast das Genick brach.
„Finger weg von Ihr. Halt dich von ihr fern.“
„He können wir das nicht wie normale Menschen regeln?“
Scheinbar nicht, sein Würgegriff wurde stärker.“
„Das ist kein Spiel, du Drecksack. Wenn du sie noch einmal ansprichst oder sie auch nur siehst, dann brech ich dir dein Genick. Die Frau gehört jetzt mir, kapiert? Mir allein! Also halt dich verdammt noch mal von ihr fern.“
Michaels Augen wurden gewannen derart an Größe, als er von Angela als sein Besitz sprach, das schon zu befürchten war, sie würden ihm aus dem Gesicht springen und auf dem Boden entlang kullern.
Die Situation war jedoch alles andere als komisch, denn ein kräftiger, unsanfter Schlag auf Johns geprellte Rippen verstärkte die Drohung noch zunehmend. Michael, wenn dass denn auch sein richtiger Name war, ließ langsam von John ab, verabschiedete sich aber mit einem gekonnt, gezielten Schlag in den Magen, bevor er zu Tür schritt und vor dieser halt machte.
 
„Ach und wenn du ihr auch nur ein Wort von all dem hier erzählst...“
Mit seinem Daumen fuhr er über seinen Hals.
....dann schneid ich dir die Kehle durch.“
Er warf John noch ein beängstigendes Augenzwinkern zu und verließ, welch Erleichterung für den schwer Verletzten, das Zimmer.
 
Der Mann hatte wirklich ein Grützegehirn. Oder er war einfach nur einer dieser normalen Verrückten, von denen man täglich in der Zeitung ließt. Diese Art von Durchgeknallten die sich in tiefer Begeisterung vor Züge werfen. Nein, der Mann war einer von der Sorte, die es vorzogen Andere vor Züge zu werfen. Bevorzugt Ex-Freunde ihrer Frauen.
 
„Ha, du Arsch. Ich hab schon einen Dämon vernichtet, warum sollte ich vor einem Bekloppten wie dir Angst haben.”
Das hätte John natürlich Michael niemals ins Gesicht gesagt, doch er war ja nicht hier. John lag alleine in seinem Zimmer und wahr zudem doch noch immer sehr irritiert. Hätte er die, durchaus, sehr realen, nachhallenden Schmerzen an seinen Rippen und um seinen Magen nicht verspürt, dann würde er wohl eher von einem schlechten Traum ausgehen.
 
 
Kapitel 6
 
Angela bekam von all dem nichts mit, sie freute sich vielmehr darüber am Leben zu sein und trauerte auch um all ihre Kollegen denen dieses Glück nicht vergönnt war.
 
„Michael? Wo warst du?“
„Oh, ich war nur kurz frische Luft schnappen, aber jetzt bin ich wieder da. Alles in Ordnung. Ruh dich aus.“
„Wo, wo ist John? Ich... ich muss mit ihm reden.“
Michael schaffte es, was auch gar nicht verwunderlich war, ohne auch nur einen Moment zu zögern, ihr seine rohen Lügen zu unterbreiten.
„Oh John wurde gerade entlassen. Er dürfte schon auf dem Weg nachhause sein. Hab ihn auf dem Gang getroffen. Er sagte, er würde es nicht verkraften dich zusammen mit mir zu sehen. Was auch immer er damit gemeint hat. Oh, er gab mir das hier für dich.“
 
Dieser elende Lügner, schreckte vor keinen Mitteln und Methoden zurück um jene teuflische Intrige weiter zu führen. Aus seiner Designerjacke zog er einen kleinen handbeschriebenen Zettel heraus.
 
„Was ist das?“
„Hm, keine Ahnung, scheint so ne Art Brief zu sein.“
 
Angela nahm den kleinen, zerknüllten Zettel verwirrt in ihre schwache, gebrechliche Hand und führte ihn vor ihre erschöpften Augen. Still begann sie, den hastig gekritzelten Text leise zu lesen.
 
„Liebe Angela. Ich wollte dich nicht noch einmal aufsuchen und schreibe dir deshalb diese Zeilen, um mich noch ein letztes Mal bei dir zu bedanken. Bedanken dafür, dass du mich auf die Beerdigung meines Vater begleitet hast. Es bedeutet mir sehr viel, vor allem nachdem ich dich so fallen lies. Außerdem muss ich zugeben, dass ich all die Tage noch immer die Hoffnung hatte, wir könnten es noch einmal zusammen versuchen. Aber als ich die dort zusammen mit Michael im Zimmer sah, wurde mir bewusst, dass nur er dir das geben kann, wozu ich nie in der Lage war und auch nie in der Lage sein werde. Deshalb ist es jetzt Zeit für mich loszulassen und mein Leben weiterzuleben. Ohne dich. Ich erwarte nicht, dass du das alles verstehst, doch bitte ich, und das ist mir sehr wichtig, melde dich nie wieder bei mir. Würdest du das tun, dann würdest du alles nur noch schlimmer für mich machen. Ich wünsche dir Glück in deinem weiteren Leben und auch mit Michael. Lass ihn nicht fallen, du bedeutest ihm sehr viel.
 
Ein letzter Gruß zum Abschied...... John. “
 
Am unteren Ende des Briefs, war noch ein P. S. angefügt, welches ihr noch einmal verdeutlichen sollte, ihn unter keinen Umständen aufzusuchen.
 
Leider konnte sie nicht im geringsten ahnen, dass dieses Schreiben nicht von John war, denn wie hatte die Schwester zu ihm gesagt? Er wäre nicht einmal in der Lage seinen Namen richtig zu schreiben? Da dieser Brief für sie jedoch echt schien, fühlte sie sich nun sehr enttäuscht. „Es liegt an ihm“, hatte sie noch zu seiner Mutter gesagt. Zu spät, er hatte sich entschieden. Gegen sie. Ließ ihr nicht einmal die Zeit, sich ihrer Gefühle für ihn richtig bewusst zu werden. Ihre Gedanken gehörten nun voll und ganz John. Und während sie an ihn dachte, konnte sie Michaels höhnisch befriedigtes Lachen nicht wahrnehmen. Welchen Plan er auch immer verfolgt haben mag, der Weg zu seinem Ziel schien ihm völlig frei zu sein und er war sich sicher, John nicht so schnell noch einmal wieder zu sehen. Und wenn doch, dann würde er alles Nötige tun um zu verhindern, was immer verhindert werden musste.
 
„Er haut einfach ab? Nach all dem? Und er schafft es nicht einmal mir das selbst zu sagen? Dieser Idiot.“
„Angela, hör auf. Ich bin mir sicher, dass er seine Gründe hatte.“
„Ja, du bist sein Grund.“
„Ich?“
„Er... er will uns nicht im Weg stehen. Kannst du das Glauben?“
„Wenn du willst, dann wird ich ihn holen gehen, dann kannst du selbst mit ihm reden.“
 
Michael war auf dem Weg zu Tür, als Angela ihn zurückwies.
„Nein, lass es. Er will mich nicht mehr sehn. Das steht da.“
Wieder war da dieses befriedigte Lächeln in Michaels Gesicht. Er hatte wirklich erreicht was er wollte. Sie war bereit zu akzeptieren, einfach so hinzunehmen, ihn nie wieder zu sehen. Jetzt war es Zeit seine Trümpfe auszuspielen. Einen nach dem anderen.
 
Und was tat John gerade?
 
Er lag wütend, die Gedanken in Hass getaucht, in seinem Zimmer. Schlug immer wieder mit der geballten Faust gegen die Bettmatratze. Immer fester, immer schneller. Und nach jedem Schlag drückte er seine Fingernägel tiefer in die Handfläche. Zu seinem Glück waren sie nicht lang genug um sich in sein Fleisch zu schneiden.
 
Die Tür ging auf und diese mitfühlende Krankenschwester kam herein.
„So. Mr. Rivers. Hier ist ihr essen.“
„Ich habe keinen Hunger. Nehmen sie den Fraß und verschwinden sie. Gehen sie zurück aus der Anstalt aus der man sie gelassen hat.“
„Na, wir haben wohl einen schlechten Tag heute was?“
Die Schwester nahm sich einen Stuhl und rückte damit an Johns Bett, stellte das Essenstablett auf seinem Nachttisch ab.
„Es gibt zwei Möglichkeiten. Die erste ist, ich bleibe hier solange sitzen bis ihr Teller leer ist und wenn es den ganzen Tag dauert.“
„Und die zweite?  Füttern sie mich dann?“
„Nein, nicht ganz. Ich werde hier noch ein wenig sitzen bleiben und wenn sie dann trotzdem nicht essen, dann schieb ich ihnen das Zeug in eine ihrer Körperöffnungen. Und das, Mr. Rivers, das wird sehr angenehm. Für mich. Wollen sie wissen, wie es sich für sie anfühlen wird?“
„Nein, aber ich hab da so ein Gefühl, sie werden es mir sagen.“
„Ja, sagen wir mal so. Das wird als ob man mit einem Lastwagen, durch einen Kanaldeckel will.“
 
Wieder konnte John nicht verhindern sich zu fragen, was das für eine Frau war. Was dies hier für ein Krankenhaus war. Und herrschte in der Stadt schon so rapider Schwesternmangel, dass man sich der Durchgeknallten von der Straße bedienen musste? Diese Frau begann langsam ihm Angst zu machen. Erst recht jetzt wo sie ihn mit einem, gar nicht zu ihr passendem, freundlichen lächeln und Augenzwinkern anstarrte.
 
„Wissen sie was? Ich glaube ich habe nun doch Hunger.“
„Sehen sie. Wünsche ihnen guten Appetit.“
Auf einmal war die Frau wie ausgewechselt. Ihre ganze Art, begann nun die Art einer Krankenschwester anzunehmen.
„Sagen sie? Sind sie sicher, dass sie nicht ein wenig Schizophren da oben sind?“
Mit dem Zeigefinger seiner linken Hand kreiste er über seine Stirn.
„Äh? Zumindest bin ich kein fünftklassiger Nachhilfeschriftsteller.“
Ihm schwante böses. War diese Frau etwa wieder einer seiner durchgedrehten Fans?
„Haben sie etwa mein Buch gelesen?“
„Gelesen ist der falsche Ausdruck. Ich würde eher sagen, mein Frühstück darüber erbrochen würde es eher treffen.“
„Fanden sie es so schlecht?“
„Schlecht? Ach ich bitte sie. Eine Geschichte über einen Dämon, der sich der Körper von Menschen bemächtigt um Morde zu begehen? Und das ganze auch noch auf echte Tatsachen zu stützen?  Sie müssen ein sehr verzweifelter Mensch sein, und jeder der den Müll gut findet muss ebenso verzweifelt sein.“
 
Also kein Fan. Das machte sie ihm doch gleich sympathischer, änderte aber nichts daran, dass er sie immer noch für schizophren hielt.
„So, jetzt fangen sie aber an zu essen, bevor es kalt wird.“
 
Inzwischen hatte sich ein Arzt in Angelas Zimmer begeben um noch einmal eine abschließende Routineuntersuchung durchzuführen.
„Ja, Miss Swanson. Wenn ich mir ihre Werte hier so ansehe..“
Er blätterte wild in ihren Krankenblättern hin und her und schob dabei ständig seine, die Nase herabrutschende Brille zurück.
„..dann kann ich nur sagen, sie haben sich verdammt schnell, verzeihen sie den Ausdruck, aber sie haben sich wirklich verdammt schnell erholt.“
 
Der Doktor kontrollierte noch einmal ihren Puls und Herzschlag. Leuchtete mit seiner kleinen Lampe in ihre Augen und fühlte die Stirn. Zu guter letzt, drückte er an ihrem Körper herum, um auszuschließen, dass sie noch unbemerkte innere Verletzungen hatte.
 
Ja, sie sind einer der gesündesten Menschen, die ich kenne. Ich sehe deshalb keinen Grund sie noch weiter hier zu behalten.“
„Also kann ich das Krankenhaus verlassen?“
Ja, noch heute. Wenn sie wollen, können sie sich sofort anziehen. Ich werde alle nötigen Papiere bereitmachen.“
„Oh, danke Doktor.“
„Keine Ursache Miss Swanson. Und beehren sie uns so schnell nicht wieder.  Ha, ha... Ich liebe diesen Satz.“
Der Arzt verließ den Raum wieder nachdem er Angelas Akte wieder ans Bettende hing.
„Oh, ich freue mich so für dich, Schatz. Ich werde alles zusammenpacken und dann fahren wir nachhause. Dort ruhst du dich dann in aller Ruhe aus und ich kümmere mich um alles.“
„Nein, ich kann mich nicht ausruhen. Die brauchen mich doch. Ohne mich....“
„Ohne dich kommen die auch für ein paar Tage aus.“
 
Michael hatte sich bereits zum Schrank begeben, um ihre restlichen Habseligkeiten in einer kleinen Sporttasche zu verstauen und er warf ihr bei der Gelegenheit ein paar Sachen zu, von denen er wollte sie solle sie anziehen.
„Hier, Schatz für dich. Oder willst du halbnackt hier raus laufen?“
Angela fing die Sachen gerade noch halbwegs auf und stand gemächlich aus ihrem Bett auf, dabei achtete sie bedacht darauf, erst einmal vorsichtig mit einem Bein den Boden zu berühren, um sicher zu gehen, genug kraft zu haben, dann erst, setzte sie mit ihrem zweiten Bein nach und stand wenig später, wenn auch etwas zittrig, aufrecht im Raum.
 
„Michael würdest du bitte mal..“
„Was? Oh, ja.“
Er rannte zur Tür um sie zuzuhalten oder wenigsten zu verhindern, dass Jemand das Zimmer betrat, während Angela ihr Krankenhemd durch Slip, BH Trainingshose und Pulli tauschte. Danach schliff sie sich selbst noch sehr, wackelig ins Badezimmer, knipste die kleine Leuchte über dem Spiegel an und begutachtete akkurat ihr ramponiertes Gesicht. Sie zog und drückte an jeder kleinen Schnittwunde, da sie Angst hatte, eine länger sichtbare Narbe davon zu tragen. Beruhigt, dass keine der Verletzungen wirklich ernsthaft war, machte sie das Licht wieder aus um zurück zu gehen und ihre Schuhe anzuziehen.
 
„Bist du fertig Schatz?“
„Ja, ich bin soweit.“
Nickend blickte sie nochmals in alle Ecken des Zimmers, aber außer dem was sie bei sich trug, gab es nichts was sie hier hätte vergessen können. Michael hob die Tasche vom Boden auf und reichte Angela seine andere Hand, als sie diese ergriff machten sich beide, schön Vorsichtig auf den Weg zu Rezeption um noch die notwendigen Papiere zu unterschreiben. Nach all diesen Formalitäten begaben sie sich zu Michaels Wagen und er fuhr Angela nachhause.
 
„Na, endlich.“
Ein erleichterter Aufschrei halte durch Johns Krankenzimmer.
„Wird aber wirklich Zeit, dass sie fertig werden.“
„Sie haben mir das Zeug ja auch regelrecht ins Maul gerammt! Sie... sie Verrückte sie!“
„Und hat es ihnen geschadet? Nein...“
„Ich bin ein Erwachsener Mann!  Wissen sie wann ich das letzte Mal gefüttert wurde?“
Eigentlich, war dies rein rhetorisch gemeint.
„So wie sie sich benehmen? Gestern?“
„Sie sind krank, wissen sie das?“
„Oh, ja. Sie liegen mit etlichen Verbänden und Pflastern am gesamten Körper im Bett und ich bin die kranke von uns beiden?“
„Sie sind einfach nur krank!“
„Diese Unterhaltung beginnt mich zu langweilen. Ich werde jetzt gehen. Und wenn sie für kleine Jungs müssen....“
Sie griff in den untersten Schub seines kleinen Nachttisches und warf ihm eine seltsam anmutende Flasche zu.
„... immer schön festhalten das Ding.“
Na endlich war sie weg. Schlaf, dass war das einzig Richtige in dieser Situation. Was schon hätte er denn auch sonst machen können? Die Schmerzmittel, betäubten noch immer einen grossteil seiner Muskeln und weder Fernsehen noch Radio war auf diesem Zimmer. Hätte er doch vor einigen Wochen seinem Versicherungsvertreter mehr Gehör geschenkt und diese, doch recht günstigen Zusatz abgeschlossen. Dann würde er hier wie ein Gott behandelt werden und er könnte sich aussuchen, ob er von durchgeknallten Psychoschwestern betreut werden wolle.
 
Diese Frau machte ihn verrückt. Und dabei hatte er schon genug mit dem er sich herumschlagen musste. Was war mit diesem Michael los? Wie lange würde es noch dauern bis diese Fanatiker wieder zuschlagen. Und Angela. So sehr er sich auch bemühte, nicht an sie zu denken, Angela war es, um die er sich mehr sorgte, als um seine eigene Gesundheit. Wer weiß wozu Michael in der Lage wäre, wenn er alleine mit ihr war. „Wenn du ihr wehtust, dann schlag ich dir den Schädel ein.“ Er hatte zwar nicht die geringste Ahnung, wie er gegen diesen Schrank von Mann ankommen sollte, aber er war fest davon entschlossen, Michael noch einmal zur Rede zu stellen. Sein größtes Problem war jedoch erst einmal nach wie vor, wieder aufrecht stehen zu können ohne vorne über zu kippen. Der einzige Weg, all die Medikamente aus seinem Blut zu bekommen war Schlaf. Nun ja, entweder das, oder ein radikaler Aderlass.
Es bräuchte jedenfalls viel von beidem. John entschied sich dann doch für den Schlaf, auch wenn er, zum ersten Mal seit langer Zeit wieder, eine starke Abneigung gegen seine rätselhaften Träume hatte.
 
 
Kapitel 7
 
Das Geräusch des einrastenden Schlüssels halte durch den, in Dunkelheit getauchten Flur, nach und nach, fiel mehr Licht durch den größer werdenden Türspalt.
„Ganz schön dunkel hier drin. Warte ich mach das Licht an.“
Michael betätigte den Schalter an der Wand und ließ den Gang in all seiner Pracht erstrahlen.
„So, und jetzt legst du dich erst mal hin und ruhst dich aus. Und ich koche uns deine Lieblingsspeise.“
„Danke. Michael.“
Angela begab sich auf direktem Weg in ihr Schlafzimmer und fiel regelrecht, verbraucht auf ihr großes, dunkelblaues Futonbett. Sie hatte es sich erst vor kurzem, zu einem besonders günstigen Preis gekauft. In ihren vertrauten vier Wänden dauerte es auch nicht sehr lange, bis sie beruhigt von den Strapazen der vergangen Tage, einschlief. Stunden später wurde sie von Michael mit besonnenem Flüstern ihres Namens geweckt, und mit ihrem Lieblingsgericht beglückt.
 
Nach dem bemerkenswert schmackhaften Abendessen, sollte aber dann doch noch etwas Unerwartetes auf sie zu kommen.
„Bis wann willst du wieder arbeiten?“
„Oh, ich dachte so schnell wie möglich?“
„Was hältst du davon wenn du ein paar Wochen, oder ein paar Monate Auszeit nimmst?“
Angela vollführte einen ungläubigen Blick und wollte gerade darauf antworten als Michael fortfuhr:
„Oder du hörst gleich ganz auf.“
Jetzt war Angela doch richtig beirrt. Hatte sie sich gerade eben verhört? Oder wollte Michael damit andeuten, sie solle ihren Job bei der Polizei beenden?
„Was? Das war nicht dein Ernst, oder?“
„Doch das war mein Ernst. Versteh mich nicht falsch. Aber ich finde du solltest etwas machen, dass ..... sicherer ist.“
„Was? Sicherer?“
„Ja, ich... mein Gott. Sieh dich doch einfach mal an. Du wärst fast in die Luft gesprengt worden. Ich... ich dachte ich hätte dich verloren und...“
Er begann zu weinen. Doch ob seine Tränen echt waren oder all dies nur Teil seines Plans, sofern er überhaupt einen hatte, war?
 
„...Und ich will das... ich will so etwas nie wieder mitmachen. Bitte Angela. Tu es mir zuliebe. Ich bitte dich.“
„Michael ich... ich wünschte du hättest all das nie erleben müssen.“
Sie kroch unter der Bettdecke hervor und umarmte ihn mitfühlend, dann stand sie auf und vollführte mit ihren Händen eine abweisende Geste.
„Aber das war schon immer mein Traum. Ich kann und will mir nicht vorstellen was ich sonst machen würde. Also akzeptier es einfach. Ich erwarte nicht, dass du Verständnis zeigst. Vor allem nicht nachdem was mir jetzt passiert es, aber ich muss, jetzt mehr denn je weitermachen.“
 
Michael stand auf und ging auf sie zu. Er fasste sie sanft an ihren Händen und strich mit seinen Fingern an ihren Armen nach oben.
„Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht.. verletzen. Ich liebe dich und ich will doch nur das du glücklich bist. Entschuldige.“
 
Seine Augen betrachteten sie mit einem beruhigenden, fast hypnotisch wirkenden Blick und seine Finger fuhren weiter ihre Arme nach oben, an den Schultern vorbei bis hinter ihre Ohren.
„Ich liebe dich.“
Er umfasste sie, drückte leicht ihren Kopf zu sich, küsste sie innig. Der Kuss dauerte eine Zeit lang an und weitere folgten ihm. In Ekstase, eng umschlungen, stolperten die beiden zurück zum Bett und ihre Gefühle füreinander erledigten den Rest.
 
„Oh, oh, ah, ah. Michael....“
„Michael... ah..”
Es war nur zu erahnen, was sich unter der auf und ab bewegenden Decke, des nur vom Licht lauen Licht der Nacht erhellten Raums, ereignete und doch gab es darüber keine Zweideutigkeit.
 
Gestöhne und erfreute Schreie und dann tiefes Dröhnen, fast schon Beben.
 
Langsam begann sich das Zimmer zu verändern.  Dunkel, kalt. Die Art und Form des Wandputzes formte ein Gebilde von toter, fahler Haut. Und die Rillen glichen eher triefenden, fleischigen Abszessen, aus denen Blut triefend nach unten quoll und sich ,schlängelnd um alle Hindernisse hinweg, den Weg durch das düstere Zimmer bahnte, bis es sich in der Mitte des Raums zu einer brodelnden Pfütze sammelte. Unter seiner in Schweiß gebadeten Haut begannen sich Wölbungen zu formen, Adern drückten sich an der schwitzenden, Hautoberfläche nach oben, seine Finger krallten sich, tief in die Bettkissen, rissen förmlich in Stücke. Im teuflischen Rausch der Lust fuhr er mit seinen Fingern ihren nackten erregten Körper entlang und hinterließ verschmiertes Blut auf ihrer straffen Haut. Ihre Blicke, diese blutrot gefärbten, teuflischen Augen, diese in Blut getränkten verformten Körper weckten Ekel und Abscheu gemischt mit Furcht in ihm.
„Sie gehört jetzt mir.“
„Ja, John. Er gibt mir wozu du nie in der Lage warst.“
Ihre voller Wahn gezeichneten Augen fuhren über Michaels diabolisch anmutenden Fratze und ihre Zunge glitt über seine fleischige, fahle
Haut. Sein befriedigtes Lächeln tönte durch die Wohnung und schallte die Gänge entlang, fraß sich förmlich in Johns Ohren.
 
Unsanft erwachte er durch die heulenden Sirenen der Krankenwagen aus diesem Alptraum. Diese hässliche Fratze, diese blutrot glühenden Augen und dann dieses Lachen.  Was für ein abartiger Traum. Alleine schon die beiden in rhythmischen Bewegungen nackt unter der Bettdecke zu sehen, war schlimm genug für ihn. Aber diese faulenden Körper. Das Bild dieser Szenerie drückte sich in seinem Verstand fest, als ob jemand versuchte es mit einem Dampfhammer hinein zu stanzen. „Es war nur ein Traum. Das alles war nur ein Traum.“
 
Aufgeregt tatschte er mit seiner rechten Hand zum Telefon auf der Ablage kroch zu seiner Hose und zog die kleine Visitenkarte aus der Tasche. Hastig wählte er die, in Schwarz, aufgedruckte Nummer.
„Detektiv Franklin hier.“
„Detektiv? Hier spricht John Rivers. Hören sie..“
„Oh, Mr. Rivers. Wie fühlen sie sich heute?“
„..mir geht’s gut. Hören sie Detektiv. Könnten sie... ich weiß das hört sich dumm an, aber könnten sie bei Detektiv Swansons Wohnung vorbei fahren, ich mache mir Sorgen um sie. Ich denke ihr könnte viell...“
„Miss Swanson geht es hervorragend. War gerade bei ihr, bin jetzt gerade auf dem Weg zurück in unser Ausweichrevier.“
„...Was?“
Ja, wir haben ein Kleines, leer stehenden Lagerhaus gefunden und dort ein paar alte Schreibtis....“
„Nein, das meinte ich nicht. Sie waren gerade bei ihr?“
„Ja, hab ihr ein paar Fragen gestellt. Alles nur Routine.“
„Ging es ihr gut? War sie..“
„Oh, sie machte einen sehr zufriedenen Eindruck, wenn sie das meinen.“
„Gottseidank.“
„Was meinen sie?“
„Oh, nichts. War wohl... war wohl falscher Alarm. Entschuldigen sie.“
„Na, macht ja nichts, denn wie heißt es doch so schön? Die Polizei dein Freund und..“
„Ja, ach und bis wann wird sie wieder anfangen zu arbeiten? Hat sie das gesagt?
„Ich fürchte überhaupt nicht mehr.“
„Was? Aber, die Arbeit war doch immer ihr Leben. Wieso..“
„Sowas in der Art habe ich sie auch gefragt. Sie sagte sie wolle Michael nicht noch einmal die Bürde tragen lassen müssen, so etwas durchstehen zu müssen. Tut mir leid für sie, aber mit den Beiden scheint es sehr ernst zu werden.“
John gab keine Antwort.
„Mr. Rivers? Mr. Rivers? Sind sie noch da? Ah, aufgelegt. Seltsamer Typ, oder was meinst du Dave?“
Franklin blickte fragen vom Beifahrersitz des Dienstwagens zur Fahrerseite hinüber.
„Naja, Schriftsteller eben. Die sind doch alle n wenig weich in der Birne oder? Ich meine überleg doch mal. Hast du seinen Roman gelesen? Man, also wirklich, der Kerl muss ne schwere Kindheit gehabt haben. He, ich hab Hunger. Lass uns aufm Rückweg noch n paar Burger verdrücken.“
„Das ist der beste Einfall des Tages, Junge.“
Detektiv Franklin drückte mit seinem Zeigefinger einen der Schalter auf der Mittelkonsole des Wagens und startete so die Polizeisirenen.
„Mit Sirene geht’s schneller.“
 
 
Kapitel 8
 
Nebliger blauschwarzer Zigarettenqualm lag über dem Tresen und stieg langsam durch den Raum nach oben in die Ablutschlitze. Aus den, in der Decke versenkten, Lautsprechern waren leise Musikklänge zu vernehmen. Ein Kellner hob im hinteren Teil des Zimmers bereits die ersten Stühle auf die Tische. Das Lokal war bis auf einige Personen, die teils vorne über lehnend an der Bar saßen, leergefegt. Der müde anmutenden, junge Mann hinter dem Tresen, war gerade dabei das leere Whiskyglas aufzufüllen als ihm einer der Betrunkenen die Flasche aus den Händen riss.
„Spar dir das Nachfüllen und gib mir gleich die ganze Flasche.“
Er setzte direkt zum Schluck an und goss einen Großteil auf seine faltige, dreckige Kleidung.
„Sind sie sicher, dass sie nicht schon genug haben. Sie sollten nachhause gehen und sich ausruhen. Sie sehen ziemlich....“
Der Kellner begutachtet den wankenden Mann behutsam von oben bis unten.
„... fertig aus. Vielleicht sollten sie lieber ins Krankenhaus gehen.“
„Pfff, Krankenhaus. Junge da komm ich grade her. Arbeiten nur Bekloppte da drin. Da war so ne verrückte Schwester die wollte mir doch glatt das Essen hinten rein schieben.“
„Ich glaube sie haben wirklich genug Sir. Sie sollten vielleicht jetzt doch besser geh.... He warten sie. Sie sind doch dieser Autor oder. Na klar sind sie das. Jetzt erkenn ich sie erst. Oh man, ich bin ihr größter Fan. Ich.. ich schreibe auch Geschichten wissen sie. Oh, man. Sagen sie? Können? Können sie mir vielleicht ein paar Tipps geben?“
John griff mit seinen Händen ziellos nach vorne über den Tresen und warf dabei etliche leere Gläser um, bevor er den Kellner am Kragen packte und ihn zu sich zog um ihm zu antworten:
„Ja, den geb ich dir. Hast du eine Freundin, Kleiner?“
„Ja, die hab ich. Sie ist die wunderbarste Frau auf der ganzen We..“
„Pffff. Wenn du sie jemals aus einem brennenden Gebäude retten willst, dann lass es oder du kannst mit ansehen, wie sie sich mit einem verrückten Psycho auf und davon macht.
„Der junge Mann sah ihn völlig verwirrt an. Er musste John für durchgedreht halten und der Alkohol schien ihm den Rest seines Verstandes weggespült zu haben.“
„Ah, ja. Ich werd´s mir merken. Hören sie, wir schließen jetzt wirklich gleich und sie sollten sich langsam auf den Weg machen. Soll ich ihnen nach draußen helfen?“
„Pfff, ich kann noch ohne fremde Hilfe laufen.“
John, erhob sich vom Barhocker und hielt sich schützend am Tresen fest, während er einige Schritte hin und her torkelte. Wackelnd verließ er die Bar zum Ausgang und tat noch einige Schritte hin zur für ihn völlig verschwommen und unkenntlich anmutenden Straße, bevor sein Gewicht ihn dazu brachte seitlich gegen die Hausmauer zu prallen und auf dem kalten nassen Asphalt liegen zu bleiben.
 
Seine wankenden, vom Alkohol gelähmten Augen konnten noch Beine auf ihn zukommen sehen. Eine dunkle, verschwommene Gestalt blieb vor ihm stehen.
„Sieh einer an. Da hat unser Held des Tages wohl etwas zuviel getrunken? Musste ja so kommen, nach allem was er erlebt hat. Ich nehme an sie fühlen sich nicht sonderlich gut Mr. Rivers? Ihre alte Freundin zu retten und sie dann mit jemand Anderem davon ziehen zu lassen?“
 
„Wer... wer sind sie. Was... was woll...“
„Sagen wir einfach.. ich bin hier um ihnen zu helfen.“
„Laufen in dieser Stadt eigentlich nur noch Verrückte rum?“
John rappelte sich wieder etwas und kroch einige Meter nach vorne um sich langsam in eine aufrechte Stellung zu bringen.
„Ja ich fürchte, diese Stadt ist voll von Verrückten und anderen Dingen, die sie mit ihrem versoffenen Verstand niemals begreifen würden.“
„Sie haben ja gar keine Ahnung, was ich alles erlebt habe.“
„Ach, nein? Es muss eine sehr...“
Der seltsame Mann zögerte einen Moment.
„... intensive Erfahrung gewesen sein, einen Dämon in sich aufzunehmen.“
John, blickte ihn verwundert an. Zumindest versuchte er ihn klar in seinem Blickfeld zu behalten.
„Woher wissen sie das? Wer verdammt noch mal sind sie?“
Der Mann begann zu lachen.
„Ich bin das Beste das ihnen jemals passieren konnte. Ich bin der Messias, der ihnen das Licht zeigt, den Weg weißt. Hoffnung gibt wenn sie so wollen. Sie und ich verfolgen die selben Ziele. Der Unterschied ist lediglich, dass sie diese Ziele noch nicht kennen.“
„Was?“
„Genug für heute. Gehen sie und ruhen sie sich aus. Treffen sie mich Morgen um 14 Uhr in der Barkley Street, beim alten Kino.“
Der geheimnisvolle Mann half John und ging mit ihm einige Meter bis zu einem bereitstehenden Taxi, half ihm hinein, verschwand wieder in der Sicherheit des Nachtschattens und ließ John sichtlich beirrt zurück. Der Fahrer des Taxis machte sich selbstständig auf den Weg, kannte den Zielort scheinbar bereits.
Die vorbeiziehenden Lichter der Straßenlaternen hatten eine beruhigend, einschläfernde Wirkung auf John.
 
Völlig ausgeruht, mit nur leichten Kopfschmerzen, wachte er am anderen Tag in seiner Wohnung auf, konnte sich aber nicht daran erinnern, wie er dorthin kam. Der Taxifahrer musste ihm wohl geholfen haben. John, zog die Bettdecke hoch und warf einen prüfenden Blick darunter.
„Gottseidank.“
Er war erleichtert, feststellen zu müssen, dass der Mann ihn wenigstens nicht ausgezogen hatte. In der Ferne war das Glockenschlagen einer Kirche zu hören. John blickte zu der kleinen elektronischen Funkuhr auf seinem Nachttisch. Es war genau 13 Uhr.
„Treffen sie mich Morgen um 14 Uhr in der Barkley Street, beim alten Kino.“
Das war eines der wenigen Dinge an die er sich noch erinnern konnte. Und doch war er sich nicht sicher darüber, ob dies vielleicht doch nur ein Traum war. Aber wenn nicht? Die Neugier packte ihn und er begab sich langsam ins Badezimmer um sich bei einer kalten Dusche einen klaren Kopf zu verschaffen. In dem großen Spiegel an der Wand konnte er sich das erste Mal seit Tagen, betrachten. Jetzt erst erkannte er, wie stark die Explosion ihn mitgenommen hatte. Tief Schnittwunden und Verbrennungen zogen sich über seinen ganzen Körper und seine Verbände waren bereits rot eingefärbt. Er sollte sie wohl besser wechseln, bevor er sich, warum auch immer, zu dem alten Kino aufmachte.
 
Die Gegend in der das Kino lag, war John nicht unbekannt. Vor weniger als einem Jahr noch, arbeitete er hier in einer Fabrik. Hopkins & West Co. Import Export. Das war für lange Zeit sein Arbeitgeber, bevor die Firma dicht machte. Nur die Spitze des Eisbergs. Und nun war das ganze Viertel wie ausgestorben. Hätte er es nicht mit eigenen Augen gesehen, würde er selbst nicht glauben, dass hier noch vor kurzem reger Betrieb herrschte. Auch das alte Kino hatte er noch im Hinterkopf. Steve und er waren dort damals einige Male nach der Arbeit. Wenn er das Gebäude jetzt betrachtete, dann machte die bröckelnde Fassade einen eher uneinladenden Eindruck und auch die angenagelten Bretter vor Fenstern und Türen trugen ihren Teil dazu bei.
 
Hier stand er nun, doch weit und breit keine Spur von ihm. Vielleicht war es wieder einmal sein Verstand, der Spielchen mit ihm trieb, aber John glaubte, nein er war sich ganz sicher, Geräusche und leises Getuschel aus dem inneren des verbarrikadierten Gebäudes vernehmen zu können. Noch ein weiteres Mal blickte er umher um vielleicht doch noch diese rätselhafte Person zu sehen, doch als da nach wie vor nur er an diesem Kino stand, packte ihn seine ungezügelte Neugierde und er machte sich auf die Suche nach einem Weg ins innere des Kinos.
 
Durch die Vordertüre konnte er nicht hinein, die Bretter waren zu stark angenagelt und saßen fest. Ohne Werkzeug blieb ihm der Weg hier verschlossen. Wer auch immer da drin war, auch der musste auf anderem Wege hinein gelangt sein.
 
John konnte sich an einen, Jahre zurück liegenden, Kinobesuch erinnern. Es war ein großartiger Film damals. Premierennacht, und der Andrang auf des Kino war so groß, dass man ihn und die anderen Besucher nach Filmende durch den Notausgang nach draußen schleusen musste, weil über den Haupteingang kein Durchkommen mehr war. Auch dieses Kino musste doch einen Notausgang besitzen. Vielleicht, nein, bestimmt war dieser an der Rückseite zu finden. Und tatsächlich, da war er. Aber auch dieser Eingang war stabilst verbaut. Doch bei näherer Betrachtung fiel ihm die Anordnung der alten, verrosteten Abfalltonnen auf. Diese standen fest nebeneinander, unter einem kleinen Mauervorsprung, über dem eine stabile Betonplatte hervorragte. Und darüber befand sich das einzige, nicht mehr verbarrikadierte, Fenster. Zumindest war es nicht vollkommen verbarrikadiert. Lediglich ein Brett hing senkrecht über dem Fenster nach unten. Das musste der Weg nach drinnen sein. Ein weiteres Mal überprüfte er, ob der geheimnisvolle Mann vielleicht nun doch gekommen war und dann begann er seine Kletterpartie nach oben. Nach dem beschwerlichen Aufstieg kroch er durch das offene Fenster und stand nun in einem kleinen Raum, der mit Kartons vollgestopft war, in denen sich alte Filmposter befanden. Einige von denen würden im Internet sicherlich noch einige Doller wert sein, aber die richtigen und wertvollen davon zu suchen, war der denkbar falscheste Zeitpunkt. Die Geräusche, welche John dauernd wahrnahm, kamen allem Anschein nach aus dem Erdgeschoss. Er öffnete behutsam die, quietschende Tür der kleinen Kammer und blickte vorsichtig einen Spalt nach draußen. Kein Mensch zu sehen, die Luft war rein. In gebückter Haltung schliche er in die große Haupthalle, in der nichts mehr an ihren einstigen Glanz erinnerte. Die Stimmen waren nun deutlich zu orten, sie kamen aus Kinosaal Nummer 3. Die, in der ganzen Halle verteilten, Sitzbänke machten deutlich, dass Saal Nummer 3 ausgeräumt worden sein musste. John huschte, im Schutz des Schattens, die Treppen hinunter und nahm Deckung hinter dem Popkornstand ein. Auf dem Weg zum Saal gab es keine weitere Deckung mehr und jetzt fragte John sich, ob er völlig verrückt war. Wenn ihn da drin nun ein Haufen Drogenjunkies erwarten würde, die völlig auf Entzug waren und  ihn für einen ihrer Dealer hielten? Was würden sie mit ihm anstellen, wenn sie herausfänden, dass er keine Drogen bei sich trug?  Vielleicht war seine Besorgnis völlig übertrieben und es waren nur einige Obdachlose, die Schutz vor den Unwettern der letzen Tage suchten. Er würde es gleich erfahren. Je näher er dem Saal kam, desto deutlicher waren die Stimmen und Geräusche zu erkennen. Den Stimmen nach  zu urteilen, befanden sich mehrere Menschen im Raum, von denen einer besonders hervorstach.
 
„Nein, ich sehe das nicht ein. Du hast über meinen Kopf hinweg entschieden, wie du es andauernd machst. Ich habe es langsam satt. Ich dachte wir würden solche Entscheidungen gemeinsam treffen.“
„Beruhige dich, noch habe ich hier das letzte Wort. Und du hast dich meinen Beschlüssen nicht in den Weg zu stellen.“
Diese Stimme war John, vertrauter als die der ersten Person, es war der Mann, der ihn aufgefordert hatte sich hier mit ihm zu treffen und John hatte das ungute Gefühl, dass er der Grund für den Streit war.
 
„Wer ist dieser Kerl überhaupt? Was wissen wir von ihm. Was wenn er ihn geschickt hat? Was dann, Jacob?“
„Beruhige dich endlich, Andrew. Ich habe ihn sehr lange beobachtet, und .... oh wie interessant.“
 
Der Mann drehte seinen Kopf zum Eingang.
„Kommen sie ruhig herein, Mr. Rivers. Es gibt keinen Grund sich länger zu verstecken.“
 
Wie konnte er ihn entdeckt haben? John war die ganze Zeit leise, leiser als eine Kirchenmaus. Außerdem befand er sich noch immer nicht in seinem Blickfeld.
 
„Zerbrechen sie sich nicht den Kopf darüber, woher ich weiß, dass sie da sind und kommen sie näher.“
 
John trat aus seinem Versteck im Schatten hervor und beschritt, verstört und verängstig, den Raum. Der Mann erwartete ihn bereits, mit offenen Armen. Ein schon etwas älterer Herr, falten im ganzen Gesicht verteilt, ein lächeln das einen geradezu begrüßte, zittrige Hände, und doch ein sehr kräftiger Händedruck. Als John dem Mann in die Augen blickte, erstarrte er vor Angst und ein Gedanke beschlich ihn. Wie ist das möglich? Er ist ..
„Blind? Ja, Mr. Rivers. Mein Augenlicht hat mich schon vor langer Zeit verlassen, aber dennoch bin ich der Umwelt gegenüber nicht blind.”
„Ich verstehe nicht ganz. Wie kann das möglich sein?“
„Nun, Mr. Rivers. Ich kann nicht erwarten, dass sie in wenigen
Sekunden Dinge erkennen, die mich zu verstehen, viele Jahre gebraucht haben. Aber sie kennen doch sicher das Zitat, man sieht nur mit dem Herzen gut, das wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“
„Ähm, hab ich schon mal gehört, ja.“
„Gut, ich wusste, das sie schnell lernen würden.“
„Wieso sparen wir uns diesen Smalltalk nicht einfach und sie sagen mir weshalb ich hier bin. Und wer sie sind.“
Der Mann begann wieder ein großes, breites, vergnügtes Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern, wandte sich von John ab und ließ ihn so mit seinen Fragen dastehen. Nach einigen Sekunden der Stille antwortete er jedoch.
„Das mag ich so an ihnen. Sie sind ein Mensch, der nicht lange überlegt, sondern handelt. Ob sie dabei immer das Richtige tun, sei dahingestellt. Aber sie Handeln. Und das mag ich an ihnen.“
 
Wie er so etwas haste. Ja, er konnte es nicht ausstehen, wenn jemand ihm nur in Rätseln antwortete. Es kam ihm so vor, als ob er dies schon einmal erlebt hatte, vor gar nicht all zu langer Zeit.
 
„Sagen sie, sie haben nicht zufällig eine Schwester hier in der Stadt? Alte Frau, n wenig Wirr im Kopf? Hat einen Laden hier in der Stadt?“
Was ihn nun erwartete, darauf war er am wenigsten gefasst. Aus einer dunklen Ecke des Zimmers, schritt jemand hervor, den er am wenigsten erwartet hatte.
„Nein Mr. Rivers, dieser Mann ist nicht mein Bruder. Und doch kennen wir uns seit langer Zeit.“
„Madame Lolette?“
John umarmte die alte Frau. Lange Zeit hatte er sie nicht mehr gesehen, hatte sich aber auch nie bei ihr gemeldet, nachdem er aus Griechenland zurückkam, und das obwohl sie sich zu der Zeit körperlich in einer sehr schlechten Verfassung befand. Bedenkt man ihr hohes, unnatürliches Alter, dann ist es vielleicht gar nicht so überraschend sie noch lebend zu sehen. Wenn man bei ihr überhaupt von Leben sprechen konnte.
 
„Oh, sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue sie wieder zu sehen.“
„Ja, Mr. Rivers, auch ich finde es äußerst beglückend sie wieder zu treffen. Wo ist ihre hübsche Freundin?“
„Oh, sie ist nicht mehr meine Freundin. Wir haben wohl, doch nicht so gut zusammengepasst, wie gehofft.“
Madame Lolette lächelte nur und Schritt auf ihren Stock gestützt zu dem anderen Mann hinüber.
„Nun ist es wohl doch an der Zeit, ihnen eine Erklärung abzuliefern, Mr. Rivers.“
Die beiden führten John, vorbei an den anmaßend herablassenden Blicken des anderen, an einen kleinen Tisch im hinteren Teil des Raums und baten ihn mit einer Handgeste sich hinzusetzen. Noch während er dabei war, sich auf dem alten, umfunktionierten Kinosessel zu bequemen begann der alte Mann zu reden.
„Diese ganze Stadt geht zu Grunde. Vielleicht haben sie es noch nicht bemerkt und vielleicht haben sie es bemerkt, aber das alles ist erst der Anfang. Aus allen Ecken und dunklen Löchern kriecht das Böse hervor. Ich kann es fühlen, ich fühle es in meinen Gliedern, in meinen Adern, wie tausend Nadelstiche und es wird stärker mit jedem Tag der vergeht, mit jeder Stunde die verstreicht.“
„Meinen sie damit diese verrückten Fanatiker und die Explosion in der Kirche und dem..?“
Madame Lolette unterbrach John.
„Nein, diese Leute sind harmlos.“
„Harmlos? Die haben Hunderte von Menschen getötet. Wie können sie...“
Der alte Mann hob unterbrechend die Hand.
„Harmlos ist bedauerlicherweise das passendste und unpassendste Wort zugleich. Auch wenn es eine große Tragödie ist was mit all diesen Menschen geschah so sind diese Fanatiker dennoch nur Handlanger, dumme unwissende Marionetten eines weitaus gefährlicheren Etwas. Und dennoch sind sie nicht die treibenden Gefahr in dieser Stadt. Noch nicht.“
Unverständnis überkam John und sein Gesichtsausdruck veränderte sich von Neugier hin zu Ungläubigkeit. Ungläubigkeit darüber, was seine Ohren vernahmen.
„Sie sprechen darüber als ob sie das alles kalt lässt. Interessiert sie nicht, verspüren sie denn kein Mitleid mit all den Menschen? Mit ihren Familien? Diese Verrückten haben so viele getötet. Verdammt die haben mich fast umgebracht und sie...“
Er dachte wieder an Angela und wie schwer ihr Verlust für ihn war obwohl sie doch noch lebte.
„Mr. Rivers ich verstehe ihren Unmut über diese Sache, aber das ist Aufgabe der Polizei.“
„Der Polizei? Die Polizei existiert nicht mehr.“
„Beruhigen sie sich Mr. Rivers.“
„Ich soll mich beruhigen? Was für ein Verein ist das hier? Und was zum Teufel soll ich hier und fangen sie nicht wieder an mit Spielchen, davon hab ich genug.“
Er deutete drohend mit dem Zeigefinger zwischen den beiden hin und her.
„Wie ich ihnen schon vor langer Zeit sagte, Mr. Rivers, sie sind nur ein Werkzeug. Wir alle in diesem Raum sind nur Werkzeuge.“
„Oh, bitte,  hören sie mit diesem Mist auf. Wir alle sind nur Werkzeuge im Werkzeugkasten Gottes. Bla Bla. Wenn sie mir jetzt nicht auf der Stelle Antworten geben, dann verschwinde ich von hier.”
„Also gut, fangen wir an. Madame Lolette hier und er..“
Der alte Mann deutete zitternd auf die erzürnte Person, die noch immer an der selben Stelle stand wie schon vor 10 Minuten.
„.. genauso wie ich und noch einige mehr, wir sind.... Nun wie soll ich sagen? Wir beobachten und gelegentlich handeln wir auch. Zumindest taten wir das, als wir noch jünger waren.“
„Sie beobachten?“
„Ja, wir beobachten, kontrollieren, überprüfen... Ich sagte ihnen doch, diese Stadt geht zu Grunde. Wir sehen und fühlen Dinge, die anderen verschlossen bleiben. Wir haben eine Fähigkeit dafür, so wie sie und deshalb brauchen wir ihre Hilfe.“
„Wofür?“
„Das kann ich ihnen noch nicht sagen.“
„Wofür, verdammt noch mal.“
Die beiden gaben John keine Antwort darauf. Für ihn war dies Grund genug zu verschwinden.
„Sie verschwenden meine Zeit. Lassen sie mich in Ruhe.“
John stand auf und verließ den Raum ohne noch einen weiteren Blick nach hinten zu verschwenden. Der alte Mann rief ihm noch nach:
„Sie müssen nicht wieder aus dem Fenster Mr. Rivers. Hier unten gibt es einen Gang der nach Draußen führt.“
Und als John das Gebäude verließ, da fasste Madame Lolette dem alten Blinden auf die Schulter und sprach:
„Er ist ein Sturkopf. Genauso wie du einst einer warst. Aber er wird es begreifen, irgendwann wird er alles verstehen.“
„Das hoffe ich. Die Zeit wird knapp.“
 
 
Kapitel 9
 
Zwei Stunden hatte er damit vergeudet diesen alten Tatterkreisen zu lauschen. Zwei Stunden die so überflüssig waren, dass er sich am liebsten selbst dafür gegen eine Wand werfen würde. Sein Bein machte ihm noch immer zu schaffen und er hatte seine Schmerzmittel zuhause vergessen und doch kam er hier her, in der Hoffnung etwas zu erfahren, um ihm einiges verständlicher werden zu lassen. Vergeblich, wie er feststellen musste.
 
Ein großer, dumpfer Knall unterbrach sein Selbstmitleid. Ein vertraut, beängstigender Ton. Er wusste was passiert war. Sie hatten es wieder getan. Wo dieses mal? Feuerwehrsirenen durchzogen die kühle, feuchte Luft, es begann wieder zu Regnen. Ein leichter Nieselregen, dessen wenige Tropfen sich an den vielen, matten, verkratzten und teils gesplitterten Scheiben fing.
 
Das Geräusch der Sirenen begann langsam seine Neugierde zu wecken und die Schmerzen seines Beins, waren wie weggefegt. Er sprang in seinen Wagen, öffnete die Seitenfenster und folgte den Sirenen bis zu ihrem Ursprung, um erschreckend feststellen zu müssen, dass der Ort zu dem sie ihn führten, nun das in flammen stehende Krankenhaus zeigte, von dem ein ganzer Flügel verschwunden war. Der selbe Flügel, den er erst gestern Mittag verlassen hatte.
 
Die Sirenen der Krankenwagen und immer mehr werdenden Löschfahrzeugen hallten durch das aufgescheuchte Straßenviertel. Anders als bei der letzten Explosion hatten sich hier Hunderte Schaulustige vor den absperrend aufgestellten Polizeiwagen versammelt. Mag es aus Mitleid oder Neugierde gewesen sein, jedenfalls hinderten sie die Einsatzhelfer davon ab, zügig ihre Arbeit zu verrichten.
 
Einige Feuerwehrmänner versuchten vergeblich, die lodernden Flammen, welche aus den Resten des dritten Stocks schlugen,  unter Kontrolle zu halten. Doch hatten sie ein Feuer gelöscht, gab es eine kleinere Explosion in einem anderen Raum. Viele der Räume waren mit Sauerstoffflaschen gefüllt.
 
John versuchte sich auf irgendeinem Wege, unauffällig, an den Menschenmassen vorbeizuschlängeln. Es war nun das erste Mal von Vorteil für ihn, dass er  noch immer schwer angeschlagen aussah. Und so dauerte es auch nur einige Minuten, bis einer der Sanitäter auf ihn aufmerksam wurde und ihn ohne Umwege oder ein Wort zu verlieren in das provisorisch eingerichtete Versorgungszentrum brachte. Eigentlich war es nur ein kleiner Bereich mit einigen Tragen, Erste Hilfe Koffern und Decken.
 
Jedenfalls brachte es John ins Zentrum des Geschehens. Und als ob er es geahnt hätte, war dort auch Detektive Franklin zu finden. Er unterhielt sich mit seinem jungen Kollegen über irgendetwas, unterbrach die Unterhaltung jedoch, als er mitbekam wie der Sanitäter John auf eine Trage legen wollte.
 
„He, warten sie. Das übernehme ich.“
„Aber, sie können doch nicht...“
„Ach Quatsch. Verschwinden sie, na los.“
 
Franklin schubste den Helfer regelrecht zur Seite. John Anblick  zauberte Franklin ein leichtes Grinsen auf sein faltiges Gesicht.
 
„Mr. Rivers. Ich bin wirklich überrascht, nein das wäre das falsche Wort. Ich bin erfreut, auf eine männliche Art und Weise, sie hier zu sehen. Als ich hier ankam und das große Loch da oben in der Fassade sah, da dachte ich für einen Moment, es hätte sie doch noch erwischt.“
 
Franklin deutete auf die klaffenden Öffnung am Ostflügel des Gebäudes, aus dem der Rauch aufstieg und sich wie ein dichter Morgennebel über den Ort niederlegte.
 
„Ich bin gestern Mittag raus aus dem Irrenhaus da. Scheinbar bin ich vom Glück gesegnet.“
 
„Ja, das sind sie.“
Franklin lachte und verstummte schlagartig als er fortfuhr.
„Aber leider hatten nicht alle Menschen so viel Glück wie sie.“
 
Noch einmal blickten beide auf das große Loch.
 
„Wie viele Menschen waren da drin?“
„Wir haben noch keine genauen Zahlen, aber wir gehen davon aus, das die Zahl der Toten im dreistelligen Bereich liegt.“
 
Franklin sah, angewidert, auf das Heer aus Schaulustigen und Gaffern.
„Sehen sie sich die an. Sind gekommen, als ob das so etwas wie eine Attraktion wäre. Und wenn wieder ein toter auf der Barre rausgetragen wird, dann starten sie ihre Blitzlichtkameras und machen Fotos davon. Am liebsten würde ich jeden einzelnen von denen Verhaften lassen. Aber sie wissen ja, ist ein freies Land.“
 
Und als John sich Franklins Blick anschloss, da sah er ihn lachend in der Menge stehen. Oder aber es war nur ein Hirngespinst, seine lebhafte, von Ereignissen geprägte, Fantasie die mit ihm Durchging. Doch er war überzeugt davon, Michael erkannt zu haben. Ihn gesehen zu haben, wie er ihn direkt anblickte, ihm zuzwinkerte, oder verhöhnte.
 
„Und jetzt würden sie bitte die Güte haben mir verdammt noch mal zu erklären, was sie hier wollen?“
„Detektiv?“
„Ja, sie haben mich verstanden. Gibt es einen besonderen Grund für sie, hier zu sein?“
„Nein, ich.. ich habe die Explosion gehört und da dachte ich...“
„Und da dachten sie, sie schauen einfach mal vorbei? Mischen ein wenig mit? Oder was? Wollen sie n wenig Polizeiarbeit machen?“
„Nein, ich wollte nur...“
„Egal was sie wollten. Und wenn ihre Absicht noch so gut war. Das letzte was ich hier brauchen kann, ist ein verrückter Autor, der mir in Arbeit rumpfuschte. Hören sie, ich will nicht unhöflich sein, aber gehen sie einfach nachhause und lassen sie mich meine Arbeit machen. Und wenn wir beide Glück haben, müssen wir uns nie wieder sehen.“
 
Nun, war er gar nicht mehr so nett. Es musste der Stress gewesen sein, der ihn zu einer solchen Aussage brachte. Aber dennoch war es für John verständlich, er hätte sicherlich genauso gehandelt. Und vielleicht hatte Franklin recht und es war an der Zeit für John, sich aus all dem rauszuhalten und nachhause zu gehen. Und als er sich schon damit abgefunden hatte, da erblickte er wieder für einen Augenblick Michael in der Menge.
 
„Detektiv?“
„Was?“
„Sehen sie ihn auch.“
„Was? Wen seh ich?“
Er war wieder weg.
„Ach niemanden.“
Es war wohl besser, es Franklin nicht zu erzählen.
„Hören sie Detektiv. Ich weiß, das klingt jetzt bestimmt komisch. Aber könnten sie... ich mein.. könnten sie bitte etwas über diesen Freund von Miss Swanson herausfinden. Diesen Michael?
„Was soll ich?“
„Ach, ich hab da nur so ein dummes Gefühl. Aber irgendwas stimmt mit dem Kerl nicht. Sie haben ihn doch auch gesehen.“
„Ja, hab ich und?“
„Finden sie es denn überhaupt nicht seltsam, dass Angela, ich meine Miss Swanson, plötzlich die Arbeit bei der Polizei aufgibt.“
„Nein, wenn man bedenkt, was ihr passiert ist.“
„Ja, gut. Aber ich weiß, das hört sich jetzt verrückt an, aber Vorgestern im Krankenhaus da..“
 
Und John erzählte Franklin alles über die Drohung Michaels. Er war sich nicht sicher ob der Detektiv ihm überhaupt ernsthaft zuhören würde. Aber es tat ihm gut, es überhaupt jemandem zu erzählen. Als er mit seiner Geschichte fertig war, da stand Franklin stumm da.
 
„Detektiv?“
„Wow. Also, entweder können sie verdammt gute Geschichten erfinden, oder der Kerl ist wirklich nicht so nett, wie er scheint.“
„Also glauben sie mir?“
„Hm, sagen wir mal so. Ich werde sehen, was ich über diesen Michael herausfinden kann und dann entscheide ich, ob ich ihnen glaube oder nicht. Falls ich was finde, dann melde ich mich bei ihnen. Aber jetzt hauen sie ab und lassen sie mich meine Arbeit machen.“
„Geht klar. Bin schon weg.“
 
John, war jetzt sehr ratlos. Das erste Mal seit Tagen, oder auch seit Monaten, hatte er nun gar keine Ahnung was er machen sollte. Er hatte nichts zu tun. Oder aber auch die Zeit, sich wieder auf seine Fortsetzung zu konzentrieren. Er setze sich in seinen Wagen und machte sich auf die Heimfahrt. Es war schon spät, als er zuhause ankam und die fahle Sonne verschwand hinter dem Wolkenberg am trüben Abendhimmel.
 
Er war fest davon überzeugt, diese Nacht nicht sehr bequem und gut schlafen zu können. Aber er hatte sich getäuscht. Keine sinnlosen, unverständlichen Alpträume, die ihn heimsuchten. Keine Monster und Gestalten. Keine Irrgärten. Keine Toten oder Gesichtslose. Die erste ruhige Nacht seit Tagen.
 
Als er am Morgen aufwachte, konnte er sich nur daran erinnern, dass er, für den Bruchteil einer Sekunde, im Traum, Angelas Wohnungstür sah. Aber mehr nicht. Ein Zeichen? Oder nur Zufall? Er versuchte das Bild der Tür zu verdrängen, verbrannte sich in seiner geistigen Abwesenheit am heißen Kaffee die Zunge und ließ den Toast in der Maschine verbrennen. Musste er da hin? Zog ihn etwas? John gab nach. Es war bereits kurz vor Mittag, bevor er dem innerlichen Drang nachgab und sich zu Angelas Appartement aufmachte.
 
Das Wetter an diesem Tag spiegelte den Zustand der sterbenden Stadt nur zu gut wieder. Die grauen Wolken, legten sich wie ein Schleier über die Sonne und machten es unmöglich, nur durch einen Blick zum Himmel sagen zu können welche Tageszeit es gerade hatte. Der Regen der letzten Wochen ließ die Abwasserkanäle bereits überquellen und auch die Erde war bereits vom Wasser gesättigt. Zumindest half der Regen, den stinkenden Geruch des Stadtverkehrs zu unterbinden. Und er sorgte dafür, dass die dreckigen Fassaden der Gebäude ihre, längst überfällige, Reinigung erhielten.
 
Wenn John wieder einmal an einer der roten Ampeln anhielt, konnte er die Gesichter der Fußgänger genau studieren und das machte ihm Angst. Egal in welches er blickte, tiefste Verzweiflung war in den meisten davon zu erkennen.
 
„Diese ganze Stadt geht zu Grunde. Vielleicht haben sie es noch nicht bemerkt und vielleicht haben sie es bemerkt...“
 
Jetzt hatte er es bemerkt. Wie recht der Alte doch hatte. Die Stadt ging zu Grunde. In den letzten Tagen schneller als vorher und nicht nur durch die drei vergangenen Explosionen. Es war etwas anderes. Etwas in der Luft, etwas das man überall sah und doch wieder nicht.
„....Ich kann es fühlen, ich fühle es in meinen Gliedern, in meinen Adern, wie tausend Nadelstiche....“
Jetzt konnte auch John es fühlen. Er fühlte es schon länger, doch erst jetzt war es ihm bewusst, erst jetzt, da er diese Gesichter sah, diese Verzweiflung, diese Angst.
 
Es war doch schon immer sein Wunsch wieder von hier zu verschwinden. Er würde es tun, dieses mal würde er es wirklich machen und nicht nur darüber denken, sich selbst mit leeren Versprechen belügen. Wenn das vorbei wäre, dann würde er seine Koffer packen und... Wenn was vorbei wäre? Ohne es zu ahnen, steckte er wieder inmitten einer Sache. Wieder, ohne es zu wollen und wieder ohne eine wirkliche Wahl zu haben, steckte er bis zum Hals in Scheiße.
 
Gardenstreet 32. Er war da. Bereits als seine Finger den Türgriff des großen Appartementhauses umfassten, überkam ihn ein beängstigend ungutes Gefühl und als er an Michaels Worte dachte:
 
„Wenn du sie noch einmal ansprichst oder sie auch nur siehst, dann brech ich dir dein Genick. Die Frau gehört jetzt mir, kapiert? Mir allein! Also halt dich verdammt noch mal von ihr fern.“
 
...da ließ er für einen kurzen Moment den kalten Edelstahlgriff los und wich drei Schritte nach hinten. Er sah nach oben, blickte auf die Fenster des 5. Stockes, auf ihre Fenster, in der wagen Hoffnung erkennen zu können ob er da war. Eine Verzweifelte Aktion, selbst wenn er solche Adleraugen besitzen würde, müsste er noch etliche Meter größer sein, um überhaupt einen Blick durch das Glas riskieren zu können.
 
Er atmete tief ein, öffnete zielstrebig die große Flügeltür und machte sich auf direktem Wege über den Aufzug nach oben.
 
Als sich die Türen des Aufzugs mit einem lauten „Bing“ öffneten und nach und nach einen größeren Blick auf den Flur boten, stand ihm die Angst vor Michael wieder ins Gesicht geschrieben. Mit zittrigen Schritten schlich er aus dem Fahrstuhl und ging den Flur entlang nach rechts, hin bis zur drittletzten Tür. Nummer 18, Angela Swanson. Er wollte gerade klingeln, da bemerkte er, dass die Tür bereits einen Spalt offen war.
 
Er öffnete sie so weit um in die Wohnung eintreten zu können und der Atem stockte ihm sofort durch das was er sah, oder besser, durch das was er nicht sah.
 
Die ganze Wohnung war leer. Nur noch einige zusammengetreten Kartons standen auf dem Boden und anderer Abfall lag überall verstreut. Ein kleines Foto erweckte seine Aufmerksamkeit. Es zeigte Angela und ihn, war etwa 5 Monate alt, aufgenommen bei einem kleinen Wochenendausflug. Dem ersten und letzten gemeinsamen Ausflug den sie zusammen machten. Sie taten es um sich Abstand von den Ereignissen zu gönnen und sich zu Entspannen. Ihr glückliches Lächeln brachte ihn zum schmunzeln. So glücklich hatte er sie damals oft gesehen, bevor alles zerbrach.
 
Aber jetzt war die Wohnung leer. So wie es hier aussah, musste es in einer Nacht und Nebelaktion geräumt worden sein. Doch weshalb? Und wo ist sie jetzt? Bei ihm?
 
„Sie ist weg, nicht wahr?“
„Was?..“
 
Detektiv Franklin hatte die Wohnung einige Minuten nach Johns Ankunft betreten, er beobachtete ihn von der Straße aus und folgte ihm ins innere des Gebäudes.
 
„Ich habe mich über ihren netten Freund schlaugemacht. Hab nach Infos über ihn in den Datenbänken gesucht. Seinen vollen Namen in Erfahrung zu bringen war noch leicht. Detektive Swanson gab ihn damals an, für Notfälle.“
„Was haben sie gefunden?“
„Nichts.“
„Also habe ich mich getäuscht. Es tut mir leid, dass ich ihre Zeit in Anspruch genommen habe, aber ich hatte da so ein dummes Gefühl.“
 
Der Detektiv schüttelte den Kopf und ging auf John zu.
„Nein, sie verstehen nicht. Ich habe nichts gefunden. Gar nichts. Sein Name, stand nicht in den Datenbänken. Ich habe es versucht und versucht, aber der Mann existiert nicht. Jedenfalls nicht unter diesem Namen.“
 
„Was? Aber...“
 
John war nun sehr beängstigt. Dieser Typ war also wirklich nicht der, für den er sich ausgab. Und sie war bei ihm. Es machte ihn wütend, er wurde geradezu rasend, allein bei dem Gedanken, dass sie diesem Verrückten hilflos ausgeliefert war.
 
„Angela?“
„Ja, ich weiß, sie machen sich sorgen. Aber glauben sie mir, ich werde den Kerl so schnell wie möglich finden und dann werde ich ihn zur Rede stellen.“
 
Franklin kramte einen kleinen Zettel aus seiner Jackentasche und zeigte ihn John.
 
„Was ist das?“
„Die Adresse, die Swanson damals bei uns hinterlegt hatte, für Notfälle. Ich dachte mir, sie wollen dabei sein, wenn ich den Kerl zur Rede stelle?“
„Und ob. Ich will dem Schwein persönlich in den Arsch treten, bevor sie ihm Handschellen anlegen.“
„Na, so einfach wird das wahrscheinlich nicht, aber in den Arsch treten, da kann ich ja noch wegsehen. Also los kommen sie, gehen wir. Ich hoffe die Adresse ist nicht genauso falsch wie sein Name.“
 
 
Kapitel 10
 
Die große schwarze Limousine des Detektivs hielt, in einem der Randgebiete der Stadt am Straßenrand, direkt dahinter machte John mit seinem Wagen halt. Der Regen prasste stetig auf die Autodächer und verursachte einen Ton, als ob Tausende kleine Kieselsteine auf Metall fielen. Eine weitere heruntergekommene Gegend in dieser Stadt. Langsam machte es den Anschein, als ob fast wöchentlich ein neues Viertel starb. So als ob man einem Baum die Wurzeln abhacken würde, nur um zu beobachten wie er langsam, Stück für Stück einen Ast nach dem anderen verliert, bis er schließlich selbst nur noch ein verdorrter Klotz in der Landschaft ist.
 
Der Detektiv stand bereits vor dem Eingang zu einem der verdreckten Häuser, hatte den Kragen seines Mantels tief ins Gesicht gedrückt, um den Regenmassen zumindest ein kleines Stück entgegenzuwirken.
 
„Kommen sie schon Mr. Rivers. Sonst holen wir uns noch den Tot hier draußen.“
Und was wenn wir uns den Tot hier drinnen holen? Eine bedrückende Frage die sich John selbst stellte. Sie war berechtigt, bedachte man die Tatsache, dass die beiden nicht im geringsten wussten, was sie erwarten würde. Und ob sie überhaupt etwas finden würden.
 
Die Farbe bröckelte bereits von der Hausfassade ab. Das Glas an den Fenstern war blass und die Scheiben von innen verdreckt und verfettet. Auf der Türklingel stand kein Name und die Klingel selbst machte auch nicht den Eindruck noch zu funktionieren.
 
„Sind sie sicher, dass der Typ hier wohnt? Sieht hier eher aus, als ob seit Jahren keiner mehr hier drin war.“
 
Der Detektiv klopfte kräftig an die Tür. Diese war allerdings nicht abgeschlossen und der Weg nach innen war frei.
 
Im inneren des Gebäudes war es dunkel. Entweder waren sämtliche Lampen an den Decken defekt oder, was wahrscheinlicher war, das Unwetter hatte die Sicherungen ausgelöst.
 
„Man, ist aber ganz schön dunkel hier drin.“
„Ja, aber für solche Fälle hat ein erfahrener Bulle wie ich immer etwas in der Tasche.“
 
Detektive Franklin zog eine kleine graue Taschenlampe aus einer der vielen, großen Taschen seines Parkers und leuchtete damit den vor ihnen liegenden Gang etwas aus.
 
„Gruslig hier drinnen, finden sie nicht auch, Detektiv?“
„Naja, sagen wir mal so, nicht gerade ein Ort an dem ich nach der Arbeit ausspannen würde.“
 
Ein dumpfes Poltern aus dem Stock ließ John kurz zusammenzucken und wirkte sich auch auf Franklin aus, welcher just seine Lampe fallen ließ, diese aber sofort wieder aufhob.
 
„Man, passen sie etwas besser auf.“
„Ich? Wieso? Sie haben das Ding fallen lassen.“
„Ja, aber nur weil sie, zucken wie ein halbtoter Fisch. Also lassen sie das in Zukunft oder ich...“
„Psssst. Hören sie das?“
 
Wieder war von oben Gepolter zu hören.
 
Der Detektiv fasste mit der freien Hand an seinen Halfter und betrat leise, die knarrenden alte Holztreppe nach oben, dicht gefolgt von John, der sich, soweit möglich, in gebückter Haltung hinter Franklin verkroch.
 
Für einen kurzen Moment konnten die beiden, etwas Schemenhaftes am Rand des Lichtkegels erkennen, aber keine weitere Spur davon ausmachen.
 
„Was war das? Haben... haben sie das gesehen?“
Detektiv Franklin nickte zustimmend.
„Ja, wahr vielleicht nur ne Katze.“
„Nur ne Katze? Werden die Dinger etwa so groß wie Menschen?“
„Pssst. Seien sie still. Das war bestimmt nur ne Katze.“
Franklin wollte John lediglich beruhigen, er wusste ja selbst nicht was er da gesehen hatte. Es machte ihn sogar etwas unruhig, was eigentlich nicht seine Art war.
 
Die Geräusche waren wieder zu hören, sie kamen aus dem hinteren Teil des Stockwerks. Fahles Licht, welches durch eines der verdreckten Fenster schien, half ihnen dabei etwas mehr von ihrer Umgebung zu erkennen als noch vor einigen Minuten und ihre Augen gewöhnten sich, dank des wenigen unterstützenden Lichts, langsam an die Dunkelheit. Wieder huschte ein Schatten an ihnen vorbei. Nun da sie aber etwas mehr erkannten, sahen sie, dass der Schatten in einem der rechten Zimmer verschwand. Grund genug für Detektiv Franklin, seine Waffe zu ziehen um mit ihr in der Hand die Lage zu sichern.
 
„Haben sie das gesehen? Da ist es rein.“
„Halten sie die Klappe und bleiben sie hinten.“
 
Der Detektiv schlich vorsichtig auf das Zimmer zu und begab sich in einem großen Bogen hin zur Tür.
„Kommen sie da raus!“
Er leuchtete mit der Lampe in das dunkle Zimmer hinein, aber bis auf die gespenstisch anmutenden Schatten alter Möbelgegenstände war nichts zu erkennen.
„Ich sagte kommen sie da raus!“
Es gab keine Reaktion.
„Ich werde jetzt bis drei Zählen! Wenn sie dann nicht hier sind, komme ich rein!“
Er ging langsam einen Meter nach vorne.
„Eins....Zwei....Drei!“
Franklin stürmte blitzschnell das Zimmer, zielte mit angespannter Waffe in alle Ecken des Raums, aber der war leer.
„Was zum Henker?“
Jetzt war er ratlos, wie war das möglich? Hatten ihm seine Augen einen Streich gespielt?
„Aber, wie kann das sein? Hier ist doch was reingelaufen?“
„Ich weiß, Mr. Rivers. Ich hab das Ding auch gesehen, aber vielleicht...“
Beide verließen den Raum und machten vor dem verdreckten Fenster im Gang halt. Franklin wischte einige male mit seinem Ärmel über das Fenster und tätigte einen Blick nach unten. Von hier aus konnte man den Wagen vor dem Haus stehen sehen und man hatte einen weiten Blick hinaus auf das größtenteils verlassene Stadtviertel.
 
„.....vielleicht war es auch nur eine Ratte.“
„Eine Ratte? Eine metergroße Ratte?“
„Das Licht hat den Schatten vielleicht größer gemacht. Es wäre auch denkbar, dass...“
In genau diesem Augenblick knarrte die Treppe in den ersten Stock. Der Detektive drehte sich um und blickte direkt in die spöttischen Augen von Michael, welcher wieder dieses teuflische Lachen zeigte, ansonsten aber regungslos vor ihm stand.
 
„Verdammt, haben sie mich erschreckt.“
Franklin leuchtete Michael genau in seine Augen. Eigentlich müsste er sich, geblendet von dem hellen Leuchten, abwenden, doch er zeigte keine Reaktion und auch seine Puppillen blieben starr, sie waren fast vollkommen schwarz.
„Sie haben einiges zu erklären. Am besten fangen sie mit ihrem Namen an.“
 
Michael lachte nur und lehnte sein Gesicht nach vorne. Franklin konnte den ruhigen, kalten Atem aus Michaels Nase in seinem Gesicht spüren und ihn überkam ein seltsames Gefühl von Angst, jedoch nicht wegen Michaels Nähe zu ihm. Es war ein anderes Gefühl, schwer zu erfassen, aber es war da. Michael zog langsam seine Zunge über die Lippe und dann zurück in seinen Mund. Für einen kurzen Augenblick dachte Franklin gesehen zu haben, das Michael Zunge wie die einer Schlange zitterte und auch an der Spitze gespalten war.
 
„Guten Flug.“
 
Detektiv Franklin war irritiert. Er hatte keine Ahnung was Michael ihm damit sagen wollte und noch ehe er diesen Satz richtig verarbeiten konnte, fuhren Michaels Hände gegen seinen Oberkörper und drückten ihn durch das Fenster nach draußen. Franklin stieß noch einen kurzen verzweifelten Schrei aus, welcher schlagartig verstummte, als er, mit einem dumpfen Knall, auf dem harten Asphalt aufschlug.
 
„Und jetzt zu dir.“
 
John, stolperte nach hinten weg und kroch fliehend vor Michael weg. Dieser blieb unbekümmert stehen und verspottete ihn nur.
 
„Du hättest nicht hier her kommen dürfen. Du bist viel zu neugierig. Kümmerst dich um Dinge die dich nichts angehen. Es wird Zeit, dass dir jemand eine Lektion erteilt.“
 
John drehte sein Gesicht hin zur Treppe, stand auf und stolperte die Stufen hinab ins Erdgeschoss. Nach einem unsanften Fall rappelte er sich unter Schmerzen gekrümmt zusammen und stand auf. Als er seinen Kopf erhob, blieb sein Herz fast stehen.
 
„Was zum.....“
 
Michael ließ ihm gar nicht die Zeit, diesen Satz zu beenden, packte ihn mit beiden Händen und warf ihn mit enormer Kraft gegen eine der Wände. Alleine der Aufprall wäre schon genug für John gewesen, doch Michael schien gerade erst begonnen zu haben. Er packte ihn an der Kehle, was in John ungewollt Erinnerungen weckte. Michael packte ihn und zog ihn quer durch den Gang hinein in eines der Zimmer um ihn über den gedeckten Esstisch zu schleifen.
 
„Guten Appetit.“
 
Etliche Gläser und Teller stießen gegen Johns Kopf und verursachten ihm starke Schmerzen, die jedoch noch relativ gering waren im vergleich zu seinem zweiten Aufprall an einer Wand.
 
„Aufhören....bitte....bitte....“
„Bettel nur weiter. Hättest du auf mich gehört. Du bist selbst schuld.“
 
Michael hob John vom Boden auf und brachte ihn in eine aufrechte Haltung, nur um ihm einen gezielten, kraftvollen Schlag mit seiner Außenhand zu verpassen. Dieser warf ihn gegen einen der kleinen Wandschränke, und brachte diesen zum Einsturz.
 
„Noch ein paar letzte Worte?“
 
John fiel es schwer, klaren Blick zu fassen, er hustete einige Male kräftig Blut nach außen, dann keuchte er:
„Angela... wo... Was hast du mit ihr gemacht?...“
„Sie gehört jetzt mir. Einzig und allein mir. Zu dumm, dass du sterben wirst ohne zu begreifen was sie erwartet.“
 
Michael beugte sich über John und stieß ein unnatürliches Lachen aus. Seine Augen färbten sich tief rot und seine Haut begann sich zu verändern, so wie John es bereits in seinen Träumen sah.
 
Michaels knochige Hand hob sich über Johns Kopf und seine lange, gespaltene Zunge flutschte über sein Gesicht und hinterließ schleimige Spuren an den Stellen über die sie hinwegfuhr. Michael griff sich in Johns Haaren fest und sein Griff wurde immer stärker.
 
Unweigerlich dachte John an seinen Tot und an diese Art zu sterben, zu sterben, weil jemand ihm sein Hirn zerquetschen würde. Und kurz bevor John dabei war, unter quälenden Schmerzen bewusstlos zu werden, vernahm er einen Schuss aus einer Waffe.
 
Michael fuhr mit grellem Schreien nach oben und blickte hinter sich in das blutenden Gesicht des Detektivs. Wütende ging er auf Franklin zu, dieser schoss jedoch, angewidert von Michaels Anblick sein ganzes Magazin leer und brachte ihn für einen kurzen Moment zu fall. Michael erhob sich jedoch wieder, zwar war er sichtlich angeschlagen und die Kugeln hatten ihre Wirkung nicht verfehlt, doch blieb ihm genügend Kraft um den Detektiv zur Seite zu stoßen und das Haus über einen Sprung durch eines der Fenster zu verlassen.
 
Franklin humpelte zu John hinüber und ließ sich neben ihm auf den Boden fallen. Beide schnauften tief und blickten sich ungläubig an, dann, nach einigen Minuten begann Franklin John eine einzige Frage zu stellen.
 
„Was war das?“
 
John drehte irritiert den Kopf zu Franklin und starrte ihn mit einem kraftlosen Blick an, sprach aber weiter kein Wort, als ob er die Frage überhört hätte. Doch das hatte er nicht. Ihm fiel nur nicht im geringsten ein, was er dem Detektiv erzählen sollte. Diese Ding, es gab keine andere Bezeichnung dafür, hatte ihn wie einen Stoffball quer durchs ganze Zimmer geworfen und dies mehrere Male. Noch ehe John begriff das er durch die Luft flog, knallte er bereits wieder am Boden auf. Jetzt erst blieb ihm etwas Zeit dies zu realisieren. Wären da nur nicht diese riesigen Kopfschmerzen und seine blutige Nase.
 
„He, haben sie mir nicht zugehört? Was war das?“
 
Wieder musterte John den Detektiv mit einem kraftlosen Blick, dann glitten seine Augen quer durch das verwüstete Zimmer hin zur zertrümmerten Fensterscheibe.
 
„Ein Mensch war es jedenfalls nicht. Soviel ist sicher.“
 
John drückte sich, gekrümmt vor Schmerzen in der Brust und an unzähligen anderen Stellen an seinem gesamten Körper, an der Wand nach oben. Wie viel er doch vertragen konnte.
 
Erst vor einigen Tagen katapultierte ihn eine mächtige Druckwelle mehrere Meter weit über eine Steintreppe hinunter gegen den Asphalt, dann machte er sich, in der wohl verregnetsten Nacht an die er sich erinnern konnte, auf um sie zu suchen, brach noch am selben Tag im Krankenhaus zusammen. Und jetzt stand er da, inmitten dieser Baracke von Haus. Die Tropfen von Blut aus seiner Nase an seiner zerrissenen Kleidung und neue Schnittwunden, die teilweise so groß waren, das die drei Tage Alten dagegen wie die kleinsten Kratzer aussahen. Doch er konnte noch stehen und das war ein gutes Zeichen. Auch wenn es ihm große Mühe machte, er konnte noch alle Finger und Zehen bewegen. Prüfend drehte und wendete er seine Arme in alle Richtungen, tastete sich an der Brust, nach gebrochenen Rippen ab und wischte sich mit dem Unterarm das Blut von der Nasenspitze.
 
„Kommen sie, wir müssen ins Krankenhaus.“
 
„In welches denn?“
 
Das hatte John tatsächlich fast vergessen. In dem Chaos das dort gerade herrschte, wäre wohl kaum eine Schwester, geschweige denn ein Arzt dazu in der Lage die beiden zu versorgen.
 
„Ich habe eine bessere Idee. Eine Freundin von mir wohnt einige Kilometer weiter in der Innenstadt. Sie arbeite auch im Krankenhaus. Glücklicherweise hatte sie gestern frei und heute durfte sie erst gar nicht kommen. Die Zuständigen wollen nicht zu viele überflüssige Schwestern, die wie kopflose Hühner umherirren. Also los.“
 
Schwer angeschlagen humpelten beide durch die alte, offen stehende Holztür nach draußen. Fast schon aus Respekt machte John, einen weiten Bogen um den großen dunklen Blutfleck, der schon fast vollständig durch die Ritzen im Pflasterstein, versickert war. Doch einzelne Tropfen auf den kleinen und größeren Glasscherben, machten den Fleck zu einem wahren Blickfang, im negativen Sinne. John blickte nach oben hin zum Fenster, sah verunsichert zu Franklin und dem Wagen überlegte einen kurzen Moment, und sprach den Detektiv an.
 
„Sind sie sicher, dass ich nicht fahren sollte? Ich meine nach diesem Sturz? Nicht das sie unter der Fahrt umkippen und wir gegen einen Baum rasen.“
 
„Vergessen sie es.“
 
Waren alle Detektivs so? Oder war es seine Bestimmung nie selbst am Steuer eines Polizeiwagens zu sitzen. Langsam begann er es zu glauben. Wer wohl diese alte Freundin sein würde? Ob er sie schon im Krankenhaus gesehen hatte? Die blauen Flecken an seinem Oberkörper meldeten sich wieder. Es war wohl besser für ihn, sich einfach ruhig zu verhalten und jede überflüssige Bewegung und wenn möglich auch das Atmen einzustellen.
 
Beide stiegen äußerst vorsichtig in den Wagen ein. Jemand der den beiden dabei zugeschaut hätte, müsste gemeint haben es handelt sich um zwei alte, gebrechliche Männer, kurz vor dem Kollaps.
 
John machte einen letzten Blick hinüber zum Haus und beim Anblick fragte er sich unweigerlich ob Sie vielleicht vor kurzem noch da drinnen war. Ob Er Sie verschleppt hätte? Ob Sie noch leben würde? Natürlich würde sie noch leben. Er fühlte es. Er wusste es einfach. Und doch befürchtete er, sie verloren zu haben. Nicht an Michael, oder wie auch immer dieses Monster hieß. Verloren aus dem Leben, aus seinem Leben. Ihr Anblick, ihr Lächeln, sollten seine Augen all das nie wieder sehen?
 
Die Wagenhupe riss ihn Augenblicklich aus seiner Depression. Ein roter Kleinwagen hatte die Vorfahrt missachtet und sich gerade noch so an der Front des Polizeiwagens vorbei manövriert. Glück im Unglück könnte man behaupten. Jedenfalls waren alle Gedanken über Angela wie gelöscht.
 
„So ein Trottel. Man oh man.. Kommt mir langsam wirklich so vor, als ob in letzter Zeit immer mehr Verrückte auf den Straßen unterwegs wären... Oder was meinen Sie?“
 
Der Detektive blickte für einen kurzen Augenblick hinüber zu John und der konnte sofort erkennen, auch wenn er Franklins Blick nur kurz vernahm, das dieser noch immer besorgt und verwirrt über viele Dinge war. Es war an der Zeit ihm einiges zu erklären. Ja, es war wohl genau der richtige Zeitpunkt ihm eine kleine Geschichte zu  erzählen.
 
„Detektive, wissen sie, es gibt da etwas das sie wissen sollten.....“
 
 
Kapitel 11
 
Das alte Verlassene Kino glich im Schein des Mondlichts einer verlassenen Ruine und doch konnte man in der Dunkelheit der Nacht, fahles Licht zwischen den vernagelten Fenstern hindurchscheinen sehen.
 
„Er musste es wieder besser wissen. Wieso muss dieser Mann so stur sein? Warum kann er nicht, warum will er nicht die Tragweite seiner Handlungen begreifen? Ich will ihn sehen, sofort. Bringt ihn mir... Ich muss mit ihm Reden... bevor er noch weitere Dummheiten macht.“
 
Besorgt ließ sich der alte Mann in seinem Sessel nieder, der den äußeren Anschein erweckte, als würde er ihn schon viele Jahre besitzen. Eine zitternde Hand legte sich auf seine Schulter um ihn zu beruhigen. Doch auch Madame Lolette schaffte es nicht, die Besorgnis aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie kannte John und sie wusste, dass er zu emotional handelte. Eine Eigenschaft die ihm noch den Tod bringen könnte, oder aber auch eine Tugend die ihn eines Tages retten würde.
 
Schmerzüberflutet humpelten die beiden Gestalten die Treppen in den ersten Stock hinauf. Am anderen Ende des Ganges war Licht durch eine offene Tür zu vernehmen. Und eine junge Frau stand zwischen Gang und Tür.
 
„Oh, nein....“
 
Ein Foto von Johns Blick, wäre ein Vermögen wert gewesen. Diese Frau war ihm vertraut. Und er mochte sie nicht. Sie hatte es auch verstanden, einen schlechten Eindruck bei ihm zu hinterlassen.
 
„Mr. Rivers. Ich dachte immer sie wären Schriftsteller? Wenn ich sie mir so ansehe, dann frage ich mich wirklich, ob sie diesen Beruf mit dem eines Stuntman verwechseln.“
 
„So sehr ich deinen Sarkasmus auch bewundere Barbara, bitte lass ihn für einen Augenblick.“
Franklin ließ sich schlapp in ihre Arme fallen und alle drei betraten die Wohnung.
Die junge Schwester brauchte bis zum Morgengrauen um die Wunden der beiden zu versorgen und dann fiel sie sichtlich erschöpft auf ihr kleines rotes Sofa. Alle drei lagen im Wohnzimmer. Die Beruhigungsmittel hatten ihren Zweck bestens erfüllt, sie unterdrückten die Schmerzen und förderten einen langen Schlaf.
 
Keiner der drei bemerkte, wie sich das Schloss an der Wohnungstür bewegte und selbst wenn sie es bemerkt hätten, wäre keiner von ihnen in der Lage gewesen, darauf zu reagieren. Langsam ging die schmale dunkelbraune Tür auf und zwei Männer huschten durch den noch dunklen Flur hinein ins Wohnzimmer. Einer der beiden deutete hinüber zu John, der vorne über gebeugt in einem kleinen braunen Sessel schlief.
 
„Das ist er. Los pack mit an.“
 
Der zweite Mann hielt den anderen jedoch zurück und deutete mit einem Kopfnicken zu Barbara und Franklin.
 
„Was ist mit den beiden?“
„Was soll mit denen sein? Du hast ihn doch gehört. Er will ihn. Die beiden lassen wir weiterschlafen.“
 
Behutsam packten die beiden John jeweils an Händen und Füßen und zogen ihn aus dem kleinen Sessel hinaus durch die Tür. John selbst bekam von all dem nicht im geringsten etwas mit. Die Medikamente und der Stress ließen ihn im tiefsten Schlaf verweilen und einmal mehr die absurdesten Dinge träumen.
 
„Diese ganze Stadt geht zu Grunde. Vielleicht haben sie es noch nicht bemerkt und vielleicht haben sie es bemerkt, aber das alles ist erst der Anfang. Aus allen Ecken und dunklen Löchern kriecht das Böse hervor. Ich kann es fühlen, ich fühle es in meinen Gliedern, in meinen Adern, wie tausend Nadelstiche und es wird stärker mit jedem Tag der vergeht, mit jeder Stunde die verstreicht.“
 
Wie ein Echo halten die Worte des alten Mannes durch die kalte, feuchte Nachtluft. Schienen sich mit dem Wind durch die verlassenen Straßen zu tragen, begleitet von leisem Gelächter. John stand unter einer alten flackernden Straßenlaterne, direkt in einer Weggabelung. Vier Wege, in vier Himmelsrichtungen erstreckten sich von ihm weg. Unendlich lang schienen sie sich hinein ins Dunkel der Nacht zu winden.
 
Wieder trug der kalte Wind ihm Worte entgegen. Sein Vater sprach zu ihm.
„Verlier sie nicht.“
„Verlier dich nicht.“
 
Die Lampe über seinem Kopf flackerte einige Male stark auf, bevor sie in einem riesigen Knall ihr letztes Licht verlor.
 
„Du darfst sie nicht verlieren.“
 
Dunkelheit lag vor ihm, umhüllte ihn. Es war ihm fast so als könnte er eine kalte, tote Hand um seinen Hals spüren. Und mit jedem Atemzug den er machte, mit jedem Herzschlag drückte die kalte, fremde Hand weiter zu, fester, stärker.
 
 
„Die Frau gehört jetzt mir, kapiert? Mir allein! Also halt dich verdammt noch mal von ihr fern.“
 
Ehe er einen weiteren Atemzug machen konnte, blickte er in die dunklen Augen von Michael. Der blickte ihn mit einer hässlich entstellten Fratze an.
 
„Du hast nicht auf mich gehört. Ich habe dich gewarnt. Sie gehört mir und du... du wirst unter der Erde verfaulen.“
 
Ein dumpfer Knall warf die beiden auseinander und schleuderte Michael mit voller Wucht in eine Ansammlung alter Mülltonnen.
 
„Verlier sie nicht.“
„Du darfst sie nicht verlieren.“
„Lauf mein Sohn. Lauf!“
 
„Dad?“
„Lauf mein Sohn! Finde sie!“
 
Ohne zu wissen wohin machte John sich auf und rannte in einen der langen Gänge hinein, er konnte gerade noch mit ansehen wie Michael sich voller Zorn aus einem großen, stinkenden Müllhaufen erhob.
 
„Lauf nur weg. Du kannst dich nicht vor mir verstecken. Ich finde dich und dann werde ich dich in Stücke reißen.“
 
Der Weg vor ihm schien kein Ende zu nehmen und das teuflische Lachen hinter ihm wurde lauter, kam näher. Er konnte den brennenden Atem in seinem Nacken spüren und doch war da außer der tiefen Dunkelheit nichts hinter ihm. In weiter Ferne erblickte er ihre Gestalt. Sie stand da, winkte ihm mit ihrem Zeigefinger zu sich, betrachtet ihn mit kalten Augen. Er stand nun direkt vor ihr. Sie zeigte keine Reaktion. Ihr Blick erweckte den Eindruck als würde sie durch ihn hindurch starren. Ihre Augen wurden größer, so als ob sie etwas vernahmen, dass ihr Angst zu machen schien.
 
„Angela was ist los? Angela?“
 
„Sie gehört mir.“
Der teuflische Schrei seiner Stimme ließ John voller Angst hinter sich blicken und wenn es auch nur für einen kurzen Moment war, als er seinen Blick zurück wandte, war Angela verschwunden und auch er stand nun an einem anderen Ort. Er fand sich inmitten eines alten Kinosaals vor der zerrissenen Leinwand stehen. Der Projektor am anderen Ende des Raums warf ein Bild auf die große Wand. Das Licht blendete ihn, doch er konnte den Ton deutlich hören und ihm war klar, dass der Film der gespielt wurde, die Ereignisse in dem alten, kleinen Haus wiedergab.
 
Das Publikum klatschte Beifall, genau in dem Augenblick in dem Detektive Franklin durch das Fenster nach draußen auf die Straße fiel. Hunderte Leute saßen in dem alten, modrigen Saal und John brauchte keine Sekunde um zu erkennen, dass sie alle Tot waren. Genau in dem Augenblick, in dem er den Schrecken der Situation erkannte, fasste ihm ein Hand auf die Schulter und es wurde Dunkel.
 
„Mr. Rivers?“
„Mr. Rivers? Wachen sie auf!“
 
John riss die Augen auf und sprang unter Schreien auf. Sein Verstand brauchte einen Moment um zu erkennen, dass alles nur ein schrecklicher Traum war. Er blickte in die weißen Augen eines alten Mannes, der ihn zufrieden mit einem dezenten Lächeln anstarrte.
 
„Sie haben schlecht geträumt. Aber jetzt sind sie wach.“
„Was? Wo bin ich.. Wa... Wo ist der Detektive? Was haben sie mit ihm gemacht?“
„Dem Detektive und auch der Krankenschwester geht es gut. Kein Grund sich um die beiden zu sorgen.“
 
„Was wollen sie. Wie komme ich hier her?“
„Ich habe sie herbringen lassen, weil es nun wirklich an der Zeit ist, dass wir beide reden. Keine Rätsel, keine Spielchen. Es ist Zeit für Antworten, das sehe ich in ihren Augen.“
 
John, war verwirrt. Dieser Satz, aus dem Mund eines alten, blinden Mannes hätte unpassender nicht sein können. Doch er war noch zu verwirrt und zu müde um darauf zu antworten.
 
„Ihre Freundin. Sie machen sich um sie Sorgen, nicht wahr?“
„Angela? Wissen sie wo sie ist? Geht... geht es ihr gut?“
 
Der alte Mann, senkte den Kopf.
„Ich fürchte ich kann ihnen auf keine der beiden Fragen eine Antwort geben. Aber ich kann ihnen etwas über diesen Michael erzählen.“
 
John riss interessiert die Augen weit auf und seine Müdigkeit war wie weggeblasen.
„Sie kennen diesen Mann?“
„Nun ich fürchte der Ausdruck Mann trifft es eher unpassend. Nur das Wort Mensch könnte es noch unpassender treffen.“
 
„He, Moment! Mal Langsam“
John fuchtelte wild mit den Händen umher und irrte dabei ziellos durch den Raum.
„Wer ist der Kerl. Was ist er?“
 
Der alte Mann schnaufte tief ein, hielt einen Moment still und atmete ruhig aus, bevor er sich zu einer Antwort bemühte.
„Ich denke es ist wohl besser, ihnen alles von Anfang an zu erzählen.“
 
Behutsam tastete er sich an John heran und weiß ihn an mit ihm durch den Gang in ins Hinterzimmer zu gehen. Dabei stützte der alte Mann sich kräftig an John ab, um ihn durch den wage ausgeleuchteten Raum zu geleiten.
 
„Um zu verstehen, Mr. Rivers, um alles zu begreifen, ist es nötig ihnen von seinem Leben zu erzählen.“
 
 
Kapitel 12
 
John half dem alten Mann vorsichtig in seinen kleinen Sessel, welcher vom dunkel schimmernden Licht der Kerze auf dem Tisch, einen immer wechselnden Schatten durch den Raum warf und nahm dann ebenfalls auf dem zweiten Sessel im Raum platz. Ein letztes Mal fuhr sein Blick durch das kleine, unscheinbare und doch beeindruckend eingerichtete Zimmer. An den Wänden hingen alte schwarz-weiß Fotos, vergilbte Ölgemälde mit beeindruckenden Landschaften und einige Zeitungsartikel, von denen die meisten aus den vierziger, fünfziger Jahren stammten. Einige kleine und große Regale standen an den Wänden, gefüllt mit modrigen Büchern, deren Einband kaum mehr zu entziffern war und so keinen Aufschluss auf deren Inhalt ließ. Und dies alles machte zusammen mit dem dunkelorangenem Licht der kleinen, fast schon abgebrannten Kerze einen gespenstischen und doch zugleich bemerkenswerten Eindruck dieses Raums, der dem einer antiken Bücherei in nichts nachstehen würde.
 
„Die Kreuzzüge.“
„Was?“
„Sie haben doch schon sicher von den Kreuzzügen gehört? Oder haben sie in Geschichte nie wirklich aufgepasst?“
„Aber natürlich habe ich davon gehört!“
 
Die Kreuzzüge, ein Begriff mit dem er nicht viel in Verbindung bringen konnte. Fieberhaft versuchte er sich an den Geschichtsunterricht aus seiner, zu lange vergangenen, Schulzeit zu erinnern. Doch bis auf die Gestalt des alten, dicklichen Lehrers, der immer dann wenn er glaubte die Schüler würden interessiert in ihren Büchern lesen, genüsslich in seiner fettigen Nase pulte und freudig die Ausbeute an seinem ausgeblasstem Jackett hängen ließ oder sie sich fast schon auffällig, unauffällig mit dem Zeigefinger in seinen durch den wuchernden Bart verdeckten Mund stopfte, war da nicht mehr viel, das ihm an Erinnerungen blieb.
 
Zu seinem Glück fuhr der alte Mann sogleich fort.
„Also die Kreuzzüge, ein barbarischer Aufruf der katholischen Kirche, der östlichen Welt Glauben zu bringen, waren wohl neben der Inquisition eines der dunkelsten Kapitel der Kirche im Mittelalter. Doch worauf ich hinaus will ist Folgendes.... Ein junger, vom Glauben erfüllter Ritter, folgte dem Ruf der Kirche, Gottes Dienst, Gottes Werk zu vollbringen. Jedenfalls war er in seinem Glauben auf Gott so blind, dass er der Kirch folgte, ohne daran zu zweifeln, dass das was er im Begriff war zu tun Gottes Wille war. Selbst die lange und beschwerliche Reise gen Osten konnte ihn nicht von seiner Überzeugung abbringen. Zusammen mit vielen anderen jungen Rittern und Männern des Glaubens bahnte er sich seinen Weg bis kurz vor Jerusalem. Blind folgte er dem Ruf seines Anführers. Eines Mannes dessen Gesicht Erfahrung, Tapferkeit und Entschlossenheit wiederspiegelte, wie kein anderer Mensch es vermochte. Doch geblendet von seiner Blindheit zu diesem Mann, begriff er nicht welche Bestie wirklich hinter diesem freundlichen Gesicht versteckt lag. Eines Tages kam es, dass sie in ein kleines Dorf einfielen. Ein kleines, unbedeutendes Dorf, nicht von Soldaten verteidigt, nur bewohnt von alten Männern und Frauen, von Fischern und Hirten und einem kleinen Jungen. Dem einzigen Kind in diesem kleinen Ort. Blind im Vertrauen auf ihren Anführer, diese Menschen zu verschonen folgte er ihm zusammen mit vielen Anderen hinein in die Mitte des Dorfes. Beängstigt von den, in schwere Rüstungen gekleideten Menschen, flohen sämtliche Bewohner in ihre Häuser, lediglich ein kleiner Junge spielte sitzende vor dem Brunnen. Behutsam sprang der Anführer von seinem Pferd und rief den jungen Ritter zu sich, er solle ihm folgen. Ohne einen Moment zu zögern folgte der Jüngling seinem Meister festen Fußes. Unaufhaltsam schritt der in Richtung Brunnen und kniete vor dem kleinen Kind nieder. Er starrte es an und seine Geschichtszüge zeigten ein freudiges Lächeln, das sogleich von dem kleinen erwidert wurde. Mit einem befehlenden Rufen leitete der Anführer den Ritter zu sich und übergab ihm das Kind in seine Arme. Dann veränderte sich sein freundlicher Gesichtsausdruck schlagartig und ein teuflisches Grinsen begleitete seinen nächsten Befehl. Ein Befehl der für den gläubigen Ritter fast surreal erschien. Sein Meister, sein Führer, der Mann der ihn sicher und ohne unnötiges Blutvergießen sicher durch die Gefahren und die Hitze des Ostens leitete, verlangte nun er solle das Kind töten. Er solle sein Blut der Erde übergeben. Der Ritter wollte den Befehl nicht befolgen, doch die hypnotisierenden Augen des Anführers verhinderten jegliche Möglichkeit und fast schon, als würde er neben seinem Körper stehen, als würde jemand Fremdes handeln, zog er seinen kleinen Dolch und.....“
 
Der alte Mann unterbrach die Geschichte, sein zögernder Gesichtsausdruck machte deutlich, dass es ihm schwer fallen würde fortzufahren. Einen Moment hielt er inne, doch dann beendete er die Erzählung mit einem leisen, mitfühlendem Ton.
 
„....rammte ihm den kleinen Jungen in die Brust. Erschreckt von seiner Tat, fiel der Ritter zu Boden und krallte seine Finger tief in den staubigen Sand. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und er schrie einen Schrei der Entsetzung gen Himmel. Sein Anführer zog sein Schwert und befehligte den Rest des Trupps, diesen Ort dem Erdboden gleichzumachen. Jeder der Ritter stieg von seinem Pferd und als ob sie in Raserei verfallen wären, meuchelten sie sämtliche Menschen nieder. Sie rissen Türen nieder und schliffen Frauen über den harten Sandboden nach draußen, um sich wie Tiere über sie herzumachen. Wie entfremdet starrte der junge Ritter auf die ganze Szenerie und bettete zu Gott er möge ihn von seinen Qualen erlösen und ihn von diesem Ort fortbringen. Doch nur der kalte Wind fuhr durch sein langes Haar, trieb ihm Staub in sein verweintes Gesicht und fegte den Sand um ihn herum über seine, vom Blut des Kindes getränkte Kutte. Der Anführer schritt auf den jungen Ritter zu und beugte sich vor ihm nieder. Er erzählte ihm, dass der Weg zu seinem Gott nun für immer verschlossen wäre und es nur noch einen Meister für ihn gäbe, ein Wesen dem er nun zu folgen hätte. Bis sein verfluchtes Dasein ein Ende finden würde. Er machte dem Ritter klar, dass er ihm ein Geschenk habe zuteil werden lassen, tausendmal mächtiger als sein Gott es je hätte tun können. Die Unsterblichkeit. Ein Leben für die Ewigkeit, jetzt wo er einem wahrhaft mächtigen Wesen dienen würde. Dann unterbrach der Anführer seine Erklärung blitzartig und blickte über die duzenden Kadaver auf dem Erboden hinweg hin zu einem alten Mann, der gestützt auf einen Stock zielstrebig näher und näher zu den beiden hinschritt.“
 
„Und dann? Was passierte dann?“
John war fasziniert von der Geschichte. Gebannt vor Neugier konnte er fast nicht glauben, dass der blinde alte Mann wieder unterbrach.
 
„Was dann passierte, Mr. Rivers, dass wird im Tagebuch des jungen Ritters beschrieben. Auf einer der letzten Seiten, in einem der letzten Einträge.“
 
Der alte Mann zog ein kleines unscheinbares Buch aus der Dunkelheit hervor. Die Seiten waren vom Zahn der Zeit sichtlich zerfressen worden. Er klappte den hinteren Teil des Buches aufs und übergab es John.
 
„Lesen sie selbst.“
 
Vorsichtig griff John nach dem Buch, um keine der Seiten zu beschädigen musste dann aber erschreckt feststellen, dass Seiten eine Sprache wiedergaben, die er nicht im Stande war zu begreifen. Natürlich war es das nicht. Wie konnte er auch überhaupt nur für eine Sekunde auf den Gedanken kommen, das es in Englisch verfasst sein würde.
 
„Ich fürchte ich kann es nicht lesen. Ich..“
„Oh, natürlich wie dumm von mir, das zu vergessen. Hier, die Übersetzung.“
 
Der alte Mann griff in seine Seitentasche, zog einen kleinen gefalteten Zettel heraus und übergab ihn an John. Der öffnete das Blatt und hielt nun einen mit Schreibmaschine getippten Text in seinen Händen. Er begann sofort, laut darin zu lesen.
 
„Möge Gott den Qualen meines Lebens ein Ende bereiten. Wäre ich dazu in der Lage, mein Schwert in mein verfluchtes Herz zu rammen, könnte ich diesem Alptraum selbst ein Ende bereiten, ich würde keine Sekunde zögern..... Was habe ich getan? Welch teuflische Macht hat mich dazu bewegt diese Schandtat zu begehen? Ich habe mich von meinem Führer und dem Rest der Gefolgschaft getrennt..... Dieser alte Mann. Verflucht hat er mich, ebenso wie mein Führer es tat, doch erlegte er diesem Fluch einen weiteren, tausendmal schlimmer als das ewige Leben, mit einer gequälten Seele zu verbringen.... Seine Worte schallen immer wieder in meinen Ohren.... Jene hier haben ihr Schicksal besiegelt, eine schändliche Tat alte, schwache und kranke Menschen zu richten. Doch tausendmal schändlicher ist es, einem kleinen Kind das Leben zu rauben. Möge der Fluch, der Fluch der Ewigkeit, der dir auferlegt wurde, dir keine Genugtuung verschaffen. Ich richte über dich, junger Ritter, Diener deines Meisters. Mögest du die dir verliehene Ewigkeit damit verbringen, dazu verdammt zu sein, dir dein eigen Fleisch und Blut zu vernichten. Deine Frucht, dein Erbe, mögest du niemals Ruhe finden. Ich verfluche dich junger Ritter, verfluche dich dazu, dir bis ans Ende der Zeit, fortwährend ein Weib zu suchen, ein Weib, dass dir ein Kind gebärt, nur zu einem Zwecke. Nur um deinen eigenen Verfall zu verzögern. Deine verfluchte Seele möge zwar die Ewigkeit überdauern, doch dein Körper möge faulen, fortwährend, unaufhaltsam, nur hinausgezögert durch den Tod deiner Kinder, deiner Nachkommen, deines Fleisches. Und mögest du nicht in der Lage sein, dies zu verhindern. Ich verfluche dich zu Untätigkeit, Untätigkeit dein eigenes Leben zu beenden. Möge keine Waffe dich vernichten. Doch höre meine Worte junger Ritter. Dein Durst nach Leben wird stärker werden und mit den Jahrhunderten die vergehen werden, wird er dich dazu treiben, dich mehr und mehr deinem Hass hinzugeben. Noch mögest du in der Lage sein, dich selbst für all dies zu hassen, doch die Jahre werden deinen Hass von dir selbst ableiten und ihn auf die Welt loslassen. Und höre auch was ich dir weiter zu erzählen habe. Mögest du nur vernichtet werden, wenn das Weib, dass dir verfallen ist, den Tot...“
 
John stockte der Atem und sein Herzschlag pochte schneller, immer schneller. Er wollte nicht glauben was er da las. Was er im Begriff war zu lesen.
 
„...den Tot findet oder sie deinen Fesseln entrissen wird. Entrissen durch die Hingabe zu ihrer wahren Liebe. Höre auf meine Worte junger Ritter. Möge dein Gott dir vergeben für deine Taten. Für die Taten die du getan und für jene die du noch tun wirst..... Dieser alte dumme Mann, ich werde seinen Ausdruck nie vergessen, den Blick in seinen Augen, als mein Dolch ihm durch seine runzelige Kehle fuhr... Ich habe sie gerichtet, alle... soll sich die Hölle ihrer annehmen, für das was sie mir angetan haben. Voller Freude hielt ich seinen Kopf in Händen, genoss es, das Blut über meine Stiefel tropfen zu sehen. Mein Meister, mein Führer.. mein Verflucher.. Keiner von ihnen konnte mir die Stirn bieten. Nicht einmal ihre Neugewonnene Unsterblichkeit, konnte sie von ihrem Schicksal bewahren...“
 
Die letzten Zeilen des Textes wurden einige Jahre später verfasst.
 
„...mein Kind ist tot. Ich habe seinem Leben ein Ende bereitet, seinem Leben und dem meiner Frau. Ich habe sie geliebt beide, doch der Fluch... der alte Mann hatte recht. Mein Hass, er überkam mich... Ich habe es genossen, jede einzelne Sekunde meiner Tat und doch hasse ich mich selbst dafür und zugleich Liebe ich mich für all das... Das Blut ich kann es fühlen, kann vernehmen, wie es mit neuer Kraft durch meine Adern pocht, wie es meiner Gestalt neue frische verleiht, wie es die Bestie in mir verdeckt. Die äußerliche Gestalt, versteckt...... Werde gen Osten ziehen, tiefer hinein in dieses gottverlassenen Land. Ein gottverlassenes Land für einen gottverlassenen Menschen ,der passendste Ort und wer weiß, vielleicht wird mein Hunger mich eines Tages zurück in den Westen treiben, und möge Gott und die Welt betten, das dieser Tag noch lange andauern wird..... Jenem der diese Zeilen vernimm, spreche ich eine Warnung aus. Kein Gebet dieser Welt, kann meinen Hass auf sie stillen. Keines meiner Kinder, werde ich mehr bedauern. Möge euer Gott euch Gnade zu teil werden lassen, Gnade die er mir nie zeigen konnte, die er mir nie zeigen wollte. Ich lebe und ich werde stärker. Gezeichnet. Micaiel.“
 
Diese letzten Worte riefen John einen Schauer über den Rücken. Micaiel. Michael. Der Name, der ihm Angst bereitete. Der eine Name, der seinen Zorn schürte, mehr als alles andere der letzten Tage.
 
„Dieser Kerl? Ist er, ist er der ...“
„Ritter. Ja, er ist es. Aber ich will ihnen noch etwas zeigen. Sehen sie sich das alte Bild an der Wand dort drüben an.“
 
Der alte Mann erhob erschöpft seine rechte Hand und deutete zittern hinüber auf ein kleines, unscheinbares, vergilbtes Gemälde. Unfähig, durch das dunkle Kerzenlicht, erkennen zu können was das alte Bild zeigte, stand John auf und schritt hinüber. Als sein Blick auf das Gemälde klarer wurde, wollte er seinen Augen erst nicht trauen. Johns blick flog über das, in Öl gemalte, Portrait, verfing sich im Blick der Augen die es zeigte. Sie starrten ihn an und er starrte zurück. Es war ihm fast, als würde die Person ihn beobachten, als würde sie ihn mit ihrem dezenten Lächeln verspotten. In seinen Gedanken konnte er das teuflische Lachen hören.
 
„Nein, das... das kann nicht..“
„Sein? Lesen sie was auf dem Rahmen geschrieben steht.“
 
Johns wandte sich beunruhigt von den Augen ab und zog seinen Blick etwas nach unten hin, zum Rahmen. Der Name des Mannes, konnte nicht lügen. Was er sah, war was er befürchtete. Die letzte Hoffnung, es könne ein Irrtum sein, war wie weggeblasen.
 
„Micaiel Uichaki, 1060 – 1097“
 
Er war es. Sein Gesicht, keine Ähnlichkeit, nein pure Übereinstimmung. Sein Name, Micaiel, Michael, das Monster.
 
„Ich weiß, es mag nicht leicht zu verstehen sein, aber glauben sie mir Mr. Rivers, er ist es. Es ist Micaiel, Michael. Doch was sie auf dem Bild sehen, Mr. Rivers, was ihre Augen vernehmen, schildert nicht im geringsten seine wahre teuflische Fratze. Das Gesicht ist nur eine Maske. Eine, seine letzte Erinnerung an sein Leben als Mensch. Sie haben sein wahres Gesicht, die Bestie in ihm gesehen. Und dafür fast mit ihrem Leben bezahlt.“
 
In seinen Gedanken hätte John dem alten Mann fast zugestimmt. Er hatte Recht, wäre Franklin nicht im letzten Moment dazwischen gegangen, dann würde er nicht hier stehen, würde nicht verwirrt und beängstigt auf das Bild starren, würde dies Augen nicht sehen, Augen die er nie vergessen könnte.
 
„Es gibt noch ein Bild vom ihm. Entstanden einige Jahre später als dieses hier. Sie finden es in dem großen grauen Buch dort drüben im Regal.“
 
John drehte sich hinüber zum Bücherregal, das graue Buch ragte etwas hervor, so dass es für ihn kein Problem war, es sofort zu entdecken. Er zog es aus dem Haufen, dabei fielen die verbliebenen Bücher wie Dominosteine in sich zusammen. Er würdigte dem Ereignis keinen weiteren Blick, stattdessen las er gebannt was auf dem Einband geschrieben stand.
 
„Die Bestie, Micaiel.“
 
Zu seiner Überraschung wurde das Buch in Englisch verfasst. Es war nicht sonderlich alt, der Name des Autors ließ ebenfalls auf Englische Herkunft schließen.
 
Er überflog die ersten Seiten, las nur Bruchstücke daraus, da sie im groben die Geschichte wiedergaben, die ihm der alte Mann vor wenigen Minuten erzählt hatte. Im vorderen Teil des Buches war auch das Gemälde zu finden, dass hinter ihm an der Wand hing. Die folgenden Seiten enthielten weitere Angaben über das Wirken dieses Monsters. Und dann sah er es. Das Bild, eine grauenhafte Szenerie. Es zeigte, Michael, wie er ein Neugeborenes Kind in seinen teuflischen Klauen hielt. Es mit weit aufgerissenem Maul anschrie. Wie eine Schlangenähnliche Zunge sich über den Körper des kleinen hinweghob. Und im Hintergrund eine verängstigte Frau, in ihrem eigenen Blut auf dem Boden liegend, so als ob sie ihren letzten Atemzug machte und mit gestreckter Hand zu dem Baby griff. Zweifellos verstand der Künstler dieses Bildes, die Theatralik bestens zu nutzen. Michaels Gestalt, wurde, offensichtlich der Dramatik wegen, übertrieben bestialisch gezeichnet. Der Satz unter dem Bild wahr einfach nur widerlich und doch passte er bestens zu dem Geschehen.
 
„Die Bestie genießt ihr Mahl.“
 
Auf einer weiteren Seite erläutert der Autor den stetig steigenden Durst, das wachsende Verlangen nach dem Fleisch seiner Nachkommen. Die ersten Jahrhunderte war der Drang noch nicht sehr groß, doch schon nach 350 Jahren nahm er sich immer mehr Frauen. John begann zu überlegen. Wenn die Berechnungen des Verfassers korrekt waren, dann musste sich Michael in den letzten Jahrzehnten nahezu alle 9 Monate eine neue Familie gesucht haben. Und das würde bedeuten, es gab für John nun keine Zeit zu verlieren.
 
„Ich muss sie finden!“
 
Er stieß diesen Satz so laut aus, dass er noch im gesamten Kino gehört werden konnte. Es war eine von den Situationen in denen der Mensch dazu neigt laut zu denken, immer dann wenn nur seinem Instinkt, seiner Intuition folgt.
 
„Ich verstehe, dass es ihr größter Wunsch ist, ihre Freundin zu finden. Aber wenn sie jetzt losrennen und die ganze Stadt nach ihr absuchen, dann werden sie nichts finden. Aber er wird sie finden. Dann wird es übermorgen eine Todesanzeige von ihnen in der Zeitung geben und in etwa neun Monaten wird ihre Freundin auch eine bekommen und sie wird auch einen Artikel wert sein. Einen ähnlichen, wie der an der Wand dort drüben.“
 
Johns blick wurde starr, er blickte in die Augen des alten Mannes, völlig ungläubig darüber, was er ihm entgegnete, dann wandte er sein Augenmerk, auf den alten, doch gut erhaltenen Zeitungsartikel, der in einem Bilderrahmen an der Wand hing.
 
Der Artikel stammte vom 17. August 1936 und handelte von einem grauenhaften Mord an einer jungen Frau und ihrem Baby. Die Frau wurde, mit schweren Kratz- und Biss wunden am ganzen Körper tot aufgefunden. Den Säugling fand man grauenhaft zugerichtet. Die Polizei ging von einem Raubtier aus, welches in den Wäldern nahe de Stadt sein Unwesen trieb. Doch hätten sie keine Ahnung, wie das Tier den Weg quer durch die Stadt finden konnte. Zudem wurden die beiden Opfer in einer kleinen Wohnung aufgefunden. Unter dem Bericht war noch ein Foto der jungen Frau abgedruckt worden.
 
Aus irgendeinem Grund, war dieser Bericht sehr gut erhalten. An den Stellen, an denen er aus der Zeitung entfernt worden war, waren keine Risse oder sonstiges zu erkennen. Und auch das Glas des Rahmens war völlig frei von Staub. Offenbar, wollte der alte Mann, dass dieser Bericht gelesen werden sollte. Vielleicht um sich bewusst zu werden, wie bestialisch dieses Monster werden konnte.
 
Nachdem John den Bericht gelesen hatte, rief er sich die letzten Worte des Mannes in Erinnerung. „Aber er wird sie finden... Mich finden? Aber warum?“ Einmal mehr blickte John den alten Mann irritiert an. Der Alte starrte auf John zurück, erwiderte seinen Blick und obwohl seine Augen deutlich seine Blindheit erkennen ließen, war es John als ob er ihn genauestens betrachtete, wieder einmal.
 
„Ja, ganz recht, Mr. Rivers. Er wird sie suchen. Er sucht sie gerade in diesem Augenblick. Und wenn er sie findet, findet bevor sie darauf vorbereitet sind, dann wird ihnen dieses mal kein schießwütiger Polizist helfen können.“
„Woher wissen sie...“
„Das ist nicht wichtig. Viel wichtiger ist es jetzt, genauestens zu überlegen, was zu tun ist.“
„Aber was will er von mir?“
 
Der alte Mann kniff die Lippen kurz zusammen, legte seine zittrigen Hände übereinander und wechselte kurz seine Sitzhaltung, danach entgegnete er John mit einer kurzen, nichtssagenden und ebenso kalten Antwort:
 
„Sie töten.“
 
Einmal mehr ließ der geheimnisvolle Mann John ratlos in diesem dunklen Raum stehen. „Mich töten?“, dachte sich John. „Na klar will er das. Das er mich quer durchs Zimmer, über den Esstisch und gegen sämtliche Wände geworfen hat, war sicher keine Geste der Freundschaft.“
 
„Mr. Rivers. Sie sind eine große Gefahr für ihn.“
„Was? Gerade haben sie noch gesagt, ich..“
„Sie begreifen es wieder nicht, haben sie in dem Buch nur die Bilder betrachtet?“
 
Der alte Mann hatte John kalt erwischt. Tatsächlich hatte er doch in dem dicken Buch fast nur wild umhergeblättert, sich drei oder vier Seiten genauer durchgelesen. Er kam schon fast in die Versuchung das Buch erneut zu öffnen um sich die Antwort daraus zu suchen, da unterbrach ihn der alte Mann.
 
„Legen sie das Ding weg und hören sie zu.“
 
Der Mann entriss John, der mittlerweile direkt neben ihm stand, das Buch aus seinen durchgeschwitzten Fingern und warf es unsanft in die Ecke. „Ich hoffe mal nicht, das Ding war wertvoll“, dachte John kurz irritiert.
 
„Sie sind eine Bedrohung für ihn, weil sie der einzige sind, der es vermag Angela aus seinen Händen zu entreißen und wenn das wirklich passieren sollte, dann müsste er sterben. Etwas was seine Seele zwar zutiefst wünschte, aber sein verfaulter Körper niemals zulassen würde.“
 
Das war es also? Deshalb wollte Michael, dass John keinen Kontakt mehr zu Angela aufbauen sollte? Würde John Angela zurückgewinnen, dann wäre dieser Alptraum vorbei? Auf eine gewisse Art und Weise erinnerte, allein schon der Gedanke, an einen abgedroschenen Liebesroman, nun ja, abgesehen von dem Monster und den vielen Toten Frauen, und Kindern.
 
„Ich muss also Angela finden? Und dann? Soll ich ihr ein Ständchen singen?“
 
John bereute jetzt schon den Sarkasmus seiner Antwort, der war nicht nur abgedroschen, sondern auch völlig fehl am Platz.
 
„Um ehrlich zu sein Mr. Rivers, ich weiß es nicht.“
 
Jetzt war John doch sehr überrascht. Er hatte mehr erwartet, als ein Schulterzucken. Der Mann verheimlichte ihm offenbar etwas. So gut der alte es auch verstanden haben mochte seine Emotionen und Gedanken zu verbergen, so deutlich war doch in diesem Augenblick zu erkennen, dass da noch etwas war, dass an seinem Gewissen nagte.
 
„Sie wissen es also nicht? Und was soll ich ihrer Meinung nach dann tun?“
 
Der alte Mann, ignorierte John völlig, in Gedanken schien er sich mit etwas zu beschäftigen, dass seine volle Aufmerksamkeit verlangte, etwas, dass ihn nicht mehr loszulassen schien.
 
„Hallo? Mr.?“
„Was? Oh, entschuldigen sie, ich.... was sagten sie gerade?“
„Ich fragte, was ich ihrer Meinung nach tun soll, wenn sie keine Ahnung haben!“
 
Der alte Mann schob seine Lippen übereinander und erhob seine rechte Augenbraue, er versuchte, zögernd, eine Antwort zu finden.
 
„Nun, ich..... vielleicht... Sie sollten.... Ihre Freundin, sie müssen sie finden. Und dann.... dann wird Er muss sie an einen Ort gebracht haben, auf den sie niemals kommen würden. Ein Ort von dem er denkt, sie vor ihren Augen verbergen zu können. Mit diesem Ass im Ärmel und seiner festen Überzeugung sie bald getötet zu haben, wiegt er sich in Sicherheit.“
 
John, war fassungslos. Einmal mehr. Der alte Mann, sprach, als ob Johns Tot bereits ein fester Bestandteil dieses, ohnehin schon viel zu lange andauernden, Alptraums. Und langsam bekam er das Gefühl, nur eine Marionette, an der jeder mal ein paar Fäden ziehen durfte, mal links, mal rechts, mal lang, mal kurz. Und in seinem Kopf baute sich das lustige Bild einer kleinen John Rivers Marionette auf, die wie wild hin und her zappelte.
 
„Und soll ich jetzt darauf warten, bis der Kerl mich findet?“
„Das würde ihren sicheren Tod bedeuten und dies würde ich, zutiefst, bedauern.“
 
Der alte Mann war ein fabelhafter Lügner, er brachte es tatsächlich fertig, keine Mine zu verziehen, während er John sein falsches Mitleid entgegenbrachte.
 
„Ich sagte bereits, er wiegt sich in Sicherheit und mag es ihm auch die Siegeskarte sichern, so ist es gleichzeitig seine stärkste Schwäche. Die Jahrhunderte haben ihn arrogant und selbstsicher gemacht und wir werden diese beiden Schwächen nutzen.“
„Gut, und wenn sie mir jetzt sagen würden, wie wir das anstellen, dann..“
 
Just unterbrach ihn der alte Mann, er hatte ihm gar nicht zugehört, sondern lediglich eine kurze Verschnaufpause eingelegt um einen weiteren Vortrag zu Ende zu bringen.
 
„Er wird sie jagen, das mag stimmen. Er sucht sie, ihm bleibt keine andere Wahl. Für ihn sind sie eine, wenn auch relativ kleine, Unbekannte, die ihm seine gesamte Rechnung durcheinander bringen könnte. Also krempeln sie die ganze Stadt nach ihm um. Bringen sie ihren Polizeifreund mit ins Spiel. Das schlimmste was sie tun könnten wäre, nichts zu tun. Nichts ist leichter zu treffen als ein unbewegliches Ziel.“
 
Das stimmte allerdings. Zwar war John kein Jäger, doch hatte er schon oft Dokumentationen im Fernsehen gesehen, in denen Schützen darüber berichteten, wie schwer es war, ein Ziel zu treffen, dass sich bewegte. Und dennoch gefiel ihm der Gedanke nicht, dass man ihn als bewegliches Ziel betrachtete. Wieder baute sich ein Bild vor seinem geistigen Auge auf, ein kleines John Rivers Männchen mit einer schwarz-weißen Zielscheibe auf seinem Torso, deren Mitte mit der Zahl 100 geprägt war. Doch dann erinnerte er sich an einen abgedroschenen Satz, den er in duzenden Filmen gehört hatte und er konnte nicht wiederstehen, diesen Satz laut auszusprechen.
 
„Also wird der Jäger zu Gejagten!“
 
Der alte Mann nickte nur zutreffend.
 
 
Kapitel 13
 
„Wo ist er!?“
 
Ihre Schmerzensschreie halten durch die Wohnung. Wo waren alle Nachbarn, die sonst schon beim zu laut Fernsehen an die Decke sprangen? Keiner reagierte, doch sie war sich sicher gehört zu werden. War es die Angst der Menschen, oder war es ihre Gleichgültigkeit? Mit letzter Kraft zog sie sich über den dunkelbraunen Teppich hinüber zum Telefon, sie griff den Hörer, und begann zu wählen. Ihre zittrigen Finger waren nicht in der Lage einzelne Tasten zu drücken. Es wäre ohnehin vergebens, Barbara hatte in ihrer Verzweiflung ohnehin bereits die Nummer der Polizei vergessen.
 
Genüssliches Lachen drang aus dem anderen Ende des Zimmers aus dem Schatten hervor. Die Blutroten Augen beobachteten jeden einzelnen ihrer Handgriffe, labten sich an ihren schmerzerfüllten Zuckungen. Michael genoss es sichtlich sie da liegen zu sehen. Erschöpft, in ihrem eigenen Blut, flehend um Hilfe.
 
„Keiner wird dir helfen. Sie sind alle zu beschäftigt. Interessieren sich nur noch für sich selbst. Egoismus, eine Eigenart der Menschen. Ich habe über all die Jahrhunderte viel davon erlebt. Und eines Tages wird die Selbstsucht noch euer aller Untergang sein.“
 
Langsam schritt er auf sie zu. Er konnte ihr erschöpftes, dennoch schneller pochendes Herz fühlen. Der Rhythmus brachte das Blut in seinen Adern zur Wallung, füllte ihn mit neuer Kraft.
 
„Doch du wirst diesen Tag nicht mehr erleben. Du solltest mir danken. Danken dafür, dass ich dich aus diesem Alptraum erlöse. Diesem Alptraum den du Leben nennst.“
 
Er kniete vor ihr nieder. Begutachtete sie von oben bis unten, fuhr mit seinen kalten, leblos anmutenden Fingern über ihren Körper.
 
„Eine Schande.“
 
Sein Blick wurde erregter, fast schon animalisch. Er strich mit der Zunge kurz über seine Unterlippe.
 
„Wirklich, eine Schande. Weißt du.... wäre die Situation eine Andere. Würden diese ...bedauerlichen Umstände nicht unser Treffen bestimmen, dann wärst du genau die Richtige. Ein Jammer.“
 
Seine Finger hatten mittlerweile ihr Gesicht erreicht, verfingen sich in ihren Haaren. Er strich ihr die blutgetränkten Strähnen aus der Stirn. Dann packte er Barbara kräftig an ihrem Hinterkopf und drückte sie nahe zu seinem Gesicht. Das Blut blubberte kräftig aus ihrer Nase, als ihr Atem schneller wurde.
 
„Ich frage dich ein letztes Mal! Wo ist er?“
 
Wimmernd gab sie ihre die Antwort. Jene die sie ihm schon zuvor erwiderte, jene die ihn keineswegs zufrieden stellte.
 
„Ich weiß nicht...Er.. Als ich aufwachte war er weg.“
 
Michael warf ihr einen bedauernden Blick zu, dann begann sich seine Haut zu wölben, blasser zu werden. Adern quollen über sein Gesicht nach außen, er begann mit seinen Zähnen zu fletschen. Nach und nach begann sich der Schatten seines Körpers, den die kleine Tischlampe an die Wohnzimmerwand warf zu verändern. Langsam verlor er seine menschenähnliche Gestalt, wurde größer und undeutlicher. Dann hallte ein letzter greller Schrei durch die Wohnung, bevor es ruhig wurde.
 
John musste unweigerlich immer und immer wieder an diese Worte denken, er bekam sie den ganzen Morgen nicht aus seinem Kopf. Sie verfolgten ihn, beschäftigten seine Gedanken.
 
 
„Er wird sie jagen.... Er sucht sie, ihm bleibt keine andere Wahl... krempeln sie die ganze Stadt nach ihm um. Bringen sie ihren Polizeifreund mit ins Spiel... Der Jäger wird zum Gejagten.“
 
Hier war er nun. Vor seinen Füßen erhob sich das Appartementhaus, aus dem er vor einigen Stunden erst im Schlaf entführt wurde. Im Flur angelangt beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Ein Gefühl das er bestätigt sah, als er die angelehnte Tür weiter öffnete. Ohne die Wohnung betreten zu müssen, konnte er deutlich die Blutflecken an den Wänden im Gang erkennen. Er rannte mitten ins Wohnzimmer und das gesamte Ausmaß des Grauens ergoss sich über ihn.
 
„Oh mein Gott.“
 
John war kurz davor, sich zu übergeben. Er hatte seit einem halben Jahr nicht mehr so etwas abscheuliches gesehen und auch immer gehofft so etwas nie wieder sehen zu müssen.
 
Das gesamte Wohnzimmer war blutverschmiert, die Wände waren zerkratzt worden. Jemand oder Etwas hatte tief Furchen in den Putz gerissen. Und dort, unter dem kleinen Tischchen mit dem Telefon lag sie, oder das was Michael von ihr übrig ließ. Der Hörer des Telefons lag in ihren Resten. Mit den verbliebenden drei Fingern ihrer rechten Hand hielt sie ihn noch immer fest im Griff. Sie musste in ihrer Not noch versucht haben Hilfe zu rufen. John versuchte unter all dem in Blut getränktem Fleisch wenigstens ihr Gesicht erkennen zu können, doch vergebens. Er schritt auf ihren Kadaver zu und fasste ihn an. Seine Finger spürten, dass das Blut noch warm war. Schnell wurde ihm bewusst, dass sie erst kurz tot sein musste und ihm wurde klar, dass seine Finger in einem Brei aus Blut und Fleisch steckten. Blitzartig zog er sie zurück und rannte aus der Wohnung in den Gang hinaus. Hier konnte er den Brechreiz nicht mehr bekämpfen. Und sein, ohnehin schon leerer Magen, gab letzte Reste eines Tage zurückliegenden Frühstücks frei. John konnte die grausamen Bilder nicht aus seinem Kopf verdrängen. Ihm war ohne jeden Zweifel klar, dass nur Michael, Micaiel, die Bestie zu so etwas fähig war.
 
„Er wird sie suchen. Er sucht sie gerade in diesem Augenblick....... Sie töten.“
 
Diese Worte hatten jetzt, nachdem er diesen Anblick vernahm einen noch fahleren Geschmack der Angst erweckt.
 
John spuckte noch ein letztes Mal und hob seinen erschöpften Körper aus der Pfütze empor. Kurz überlegte er, ob es vielleicht nicht doch besser wäre, die Polizei zu verständigen, doch was sollte er ihnen sagen? Und es gab noch einen weiteren Grund, der ihn davon abhielt in die Wohnung zurück zu laufen und sich den Hörer zu greifen. Der Grund war der Telefonhörer selbst, den sie oder Reste von ihr noch immer fest im Griff hatten. Die junge Krankenschwester tat ihm leid. Als er sie gestern noch sah, da war es ein Schock für ihn, feststellen zu müssen, dass diese sarkastische, junge Frau die Explosion überlebt hatte und zugleich war er auch erfreut darüber und nun? Nun hatte sie einen Alptraum gegen einen anderen eingetauscht und jetzt? Jetzt war es alleine Johns Schuld, dass sie einen so grausamen Tod fand. „Meine Schuld. Ich... ich habe sie umgebracht...“ Seit langer Zeit hatte er nicht mehr soviel Schuldgefühle gehabt. Selbst für den Tod seines Vaters, an dem Moment in dem sie den Sarg die Erde herabließen, selbst in diesem Augenblick gab er sich nicht soviel Schuld.
 
Er war kurz davor, alles hinzuwerfen, einfach aufzugeben. Und genau in diesem Moment, genau in dem Augenblick, in dem sein letzter Funken Hoffnung aus seinem Verstand verschwinden zu drohte, da hörte er sie wieder. Die Worte, die ihm in den letzten Tagen soviel Kraft und Hoffnung gaben. Die Worte die ihn glauben ließen, dass es immer einen Weg gab.
 
„Verlier sie nicht.“
„Verlier dich nicht.“
„Du darfst sie nicht verlieren.“
 
Hatte er sich nicht schon längst verloren? Hatte er sie nicht schon längst verloren? „Ich kann nicht mehr Vater. Ich will nicht mehr. Das alles hat keinen....“, „..Sinn? Denkst du so darüber mein Sohn?“ War es wahr? Bildete er sich das alles nur ein? War da sein Vater, der in seinen Gedanken zu ihm sprach? Oder hatte er vollkommen den Verstand verloren?
 
„Denkst du wirklich, nur weil es für dich keinen Sinn macht, ergibt es überhaupt keinen?“
„Ich kann nicht mehr.“
„Du darfst nicht aufgeben. Wenn Alles für dich keinen Sinn ergibt, wieso lebst du dann immer noch? Weshalb lebt sie noch? Weshalb hast du sie in den Trümmern wieder gefunden? Nur um sie erneut zu verlieren? Um dich zu verlieren?“
„Ich habe sie doch schon verloren. Sie ist weg. Und... und ich weiß nicht wo ich nach ihr suchen soll. Verdammt, ich weiß nicht mal was ich machen soll, wenn ich sie gefunden habe.“
„Vertrau auf dich. Vertrau auf deinen Verstand, auf deine Gefühle. Du weißt wo sie ist. Du kennst den Ort. Glaub mir, wenn es soweit ist, dann findest du sie.“
„Aber ich schaffe das nicht allein.“
„Du bist nicht allein.“
 
Genau in diesem Moment spürte er einen festen Griff auf seiner Schulter.
 
„Mr. Rivers?! Wo zum Teufel waren sie? Ich hab die ganze Stadt nach ihnen abgesucht, was... he, haben sie einen Geist gesehen oder warum sind sie so blass?“
 
John blickte nur stumm auf die offenstehende Wohnungstür. Sein Blick verriet dem Detektive alles. Er hatte solche Blicke in seiner Laufbahn schon oft gesehen und es bedurfte keiner weiterer Erklärung um zu verstehen, was hinter der Tür zu finden war. Und dennoch war es für den Detektive dieses mal anders. Es war persönlicher, familiärer.
 
Ungläubig, in der Hoffnung sich doch zu irren rannte er in die Wohnung.
 
„Nein, Detektive. Nicht...“
 
Es war zu spät. John hätte nichts mehr tun können, um ihn aufzuhalten. Einige Sekunden später kam Franklin leichenblass wieder zurück auf den Gang. Ohne ein Wort zu sagen, blickte er mit leeren Augen in Johns Gesicht und starrte danach kalt in den dunklen, langen Gang.
 
John wollte, er musste dem Detektive sein Beileid aussprechen. Zögernd erhob er seine Hand um sie mitfühlend auf die Schulter des Detektivs zu legen. Er schaffte es erst nach drei Anläufen.
 
„Es... es tut mir leid. Ich....“
 
Hasserfüllt drückte der Detektiv Johns Hand zur Seite und stieß ihn gegen die Flurwand.
 
„Fassen sie mich nicht an.“
 
Gab es etwas was er sagen sollte? Was er sagen musste? War es nicht einfach besser, ihm diesen Moment der Trauer zu lassen? Es gab keine Zeit zu trauern. Nicht jetzt. Nicht hier.
 
„Wer... wer hat das getan?“
 
Diesem fragenden Blick. Diesem, in Tränen gehüllten Gesicht konnte John keine Antwort verwähren.
 
„Michael.“
„Michael? Dieses... dieses Ding?“
„Ja.... er...“
 
Mit ganzer Kraft und in Sekundenschnelle, griff der Detektiv nach Johns Hals.
„Das ist deine Schuld. Du... du verdammter Bastard hast mich auf ihn gehetzt. Und wegen dir ist Sie jetzt tot. Du haben sie umgebracht. Du.... ich mach dich fertig. Ich......“
 
Der Griff wurde fester. Wurde John in den letzten Tagen nicht schon oft genug die Kehle abgedrückt?
 
„Detektiv.... ich.... ich... bekom.... me... kei..ne... Luft...“
„Ja, so wars gedacht. Du verdammter Mistkerl. Sie ist tot. Ich.. ich hätte nicht mehr in das Haus zurücklaufen sollen. Hätte er dich in Stücke gerissen, dann wär das alles nicht passiert. Wäre ich einfach weggegangen, dann....“
 
Der Detektiv ließ los. Ihm wurde klar, dass es genauso gut seine Schuld war. Es war sein Eifer, seine Spürnase, die von diesem Michael nicht mehr lassen konnte, nicht nachdem es keine Akten über ihn gab. Woher hätte er wissen können, was dieser Mensch war? Oder was er nicht war?
 
„Wo ist er? Ich bring ihn um. Ich baller ihm die Grütze aus seinem verdammten Gehirn. Wo ist dieser...“
 
Just wurden seine Rachepläne vom lauter werdenden klingeln seines Handys unterbrochen. Er wollte nicht rangehen. Er konnte nicht. Aber er hatte keine andere Wahl. Wie oft hatte man ihm auf der Akademie beigebracht, dass es, egal wie schlimm die Umstände sein mögen, für einen Polizisten wichtig ist, ruhig und professionell zu bleiben. Auch wenn er sich in genau diesem Moment dafür hasste, es war seine Pflicht und es war nicht das erste Mal, dass er sie erfüllen musste.
 
„Franklin?.... ja.... Was? Sind sie sicher? Nein... nein ich.. ich bin unterwegs.“
 
Er blickte ein letztes Mal zur offenstehenden Wohnungstür, atmete tief ein und brachte seinem Gegenüber am anderen Ende der Leitung eine wichtige Bitte entgegen.
 
„Könnten... könnten sie einen.. Leichenwagen zur Washington Avenue 53a schicken? Ja, Mordopfer. .... machen sie es einfach... Danke.“
 
Euphorisch zog er John hinter sich her, den Gang entlang, aus dem Gebäude und zum Fahrstuhl.
 
„Wo wollen sie hin?“
„Wir haben sie.“
„Wen? Wen haben sie? Angela? Haben.. haben sie, Sie gefunden?
„Nein... nein, diese Verrückten. Die Bombenleger. Wir haben sie!“
 
Gab es doch noch Hoffnung? Vielleicht war es kein Zufall, dass John Michael an jenem Tag beim Krankenhaus sah, vielleicht gab es da einen Zusammenhang. Ergab vielleicht doch alles einen Sinn?
 
Der Detektive rannte regelrecht zu seinem Wagen, sprang hinein und nahm sich dennoch ein letztes Mal die Zeit, um hinauf zu dem kleinen, unscheinbarem  Fenster zu blicken.
 
„Wir finden ihn, Detektiv. Er wird dafür bezahlen. Für alles.“
 
 
Kapitel 14
 
Die alte Lagerhalle erhob sich am Stadtrand in den dunkel werdenden Himmel und mit ihren Backsteinziegeln und großen, teils geborstenen, Einglas-Fensterscheiben, passte das Gebäude kaum zum restlichen Viertel. Es stach heraus, wie ein Schimmelfleck zwischen weißen Badfliesen.
 
„Willkommen, Mr. Rivers. Willkommen im neuen Polizeirevier.“
„Was schäbigeres haben sie in der kurzen Zeit nicht gefunden?“
„Nein, halten sie die Klappe und steigen sie aus.“
 
Etliche Polizisten umwanderten die große Halle und achteten penibelst auf alles was sich bewegte. Einige von ihnen machten einen derart verspannten Eindruck, dass man meinen könnte, würde eine Katze aus dem Gebüsch hervorspringen, würden alle wie wild ihre Magazine auf sie entleeren. Aber wer konnte es ihnen denn verübeln. John mit Sicherheit nicht. Er war selbst nervös genug. Bekäme er eine Waffe in die Hand gedrückt, er würde sich vermutlich sofort in den eigenen Fuß schießen und dann vor Schreck noch in den Anderen.
 
„Wo glotzen sie denn so lange hin, kommen sie endlich.“
 
Der Detektive stand bereits vor der großen metallenen Eingangstür, die er mit voller Kraft beiseite zog und dabei seinen kahlen Kopf zum glühen brachte. Zögernd gab die Tür nach und öffnete sich unter lautem Quietschen.
 
John staunte nicht schlecht, als er in das innere der meterhohen Halle blickte. Wie wild liefen uniformierte Menschen auf und ab, telefonierten, kritzelten auf Blöcken hin und her, malten auf Wandtafeln herum, diskutierten, schrieen sich gegenseitig an.
 
„Ist ja wie im Spielkasino hier. Wo bekomm ich Chips?“
„Lassen sie ihre dummen Witze und kommen sie mit.“
 
Der Detektive schleppte John durch die große Halle und machte am anderen Ende vor einer kleinen dunkelgrünen Metalltür halt.
 
„Sie warten hier bis ich wieder da bin. Und stellen sie keine Dummheiten an. Die Leute hier drin haben alle nervöse Finger.“
 
Der Detektive verschwand im Raum hinter der Tür und ließ John alleine im inneren der großen Halle zurück. John blickte umher und bemerkte einige Meter weit entfernt einen kleinen Klapptisch, auf dem eine Kaffeemaschine und einige Kisten mit Donuts standen. „Donuts“, dachte er und fing an zu lachen, bevor er unauffällig zu dem Tisch hinüberschlenderte. Er grinste freundlich und griff zögernd zu einer der leeren Tassen um sie mit Kaffee zu füllen. Danach fasste er in die kleine Box und holte sich einen mit Schokolade überzogenen Ring heraus. Er biss gerade ein Stück ab und spülte es mit einem kräftigen Schluck der Brühe nach unten, als ihn eine Hand die auf seine Schulter klopfte dazu veranlasste, alles nach vorne über den Tisch auszuspucken. „Oh, oh. Jetzt erschießen sie dich, weil du ihr Essen wegputzt.“ Mit geschlossenen Augen drehte er sich um.
 
„He.. sie sinds... Wow... erkennen sie mich noch?“
 
Und ob er den Mann noch kannte. Wie konnte er diese Stimme, diese nervig, piepsende Stimme jemals vergessen. Als er langsam seine Augen öffnete blickte er in das lachende Gesicht jenes Polizisten, dem er vor gerade mal einer Woche noch ein Autogramm gegeben hatte. Und er war überrascht ihn zu sehen, dachte er doch, er sei bei der Explosion umgekommen.
 
„Natürlich, kenne ich sie noch. Ich dachte sie wären in der Explosion..“
„Nein... nein... ich... ich war an dem Tag zuhause. Gottseidank..... Aber lassen sie uns nicht weiter darüber sprechen.“
 
Der Mann fasste an John vorbei und griff in die kleine Schachtel. Er stopfte sich den Erdbeerdonut regelrecht in sein grinsendes Gesicht und nahm sich kaum die Zeit zu kauen, geschweige denn wartete er mit dem Weiterreden.
 
„Und... schon Ideen für ihre neue Geschichte? Also wenn nicht... ich hätte da noch eine wirklich tolle Idee. Es geht da um einen Mann der mitten in der Nacht durch ein Klopfen an seiner Tür aufgeweckt wird und raten sie mal wer dann vor der Tür steht?“
„Wer?“
 
John tat es jetzt schon leid gefragt zu haben, aber er wollte keineswegs unhöflich sein.
 
„Also sie werden ganz schön staunen, wenn ich ihnen das erzähle. Also der Mann wacht also mitten in der Nacht um zwei Uhr auf, weil es an der Tür klopft und er macht auf, natürlich völlig entnervt und er reißt die Tür auf und da steht dann diese blutverschmierte Frau vor seiner Tür und fleht um Hilfe. Eine tolle Idee für eine Geschichte oder?“
„Ja, eine tolle Idee.“
 
John nickte zustimmend und machte ganz große Augen. „Eine bescheuerte Idee, der Typ sollte wirklich mal weniger fernsehen. Eine blutverschmierte Frau, die mitten in der Nacht an eine Tür klopft? Also so was dummes würde den übelsten Autoren nicht einfallen.“ John grinste den Mann weiter an, in der Hoffnung endlich aus dieser nervenden Unterhaltung befreit zu werden.
 
„Also was sagen sie?“
„Wozu?“
„Zu meiner Idee? Werden sie sie in ihrem neuen Buch verwenden?“
„Oh... ja... also... wissen sie.. Ich...“
„Mr. Rivers!!!!!“
 
Ein lauter Schrei ging durch die Halle. Der Detektive war zurück. „Na endlich“, dachte John zu sich selbst.
 
„Wenn sie mich entschuldigen würden, ich... ich komme drauf zurück, ok?“
„Ja, natürlich. Ich werde noch etwas an der Geschichte arbeiten, falls das in Ordnung ist?“
„Ja... ja.. machen sie nur.“
 
Und in einem leisen Unterton und einige Meter aus Hörweite des Mannes fuhr er fort:
 
„Am besten irgendwo am Arsch der Welt.“
„Mr. Rivers. Ich sagte doch sie sollten nichts anfassen.“
„Ja, tut mir leid. Sie glauben gar nicht, wie ich mich freu sie zu sehen, der Typ da drüben...“
„Meinen sie meinen Neffen?“
 
Verdammt, John schaffte es immer wieder.
„Ja.. ihr Neffe... wissen sie... also der hat wirklich Gute Ideen. Also, der sollte...“
„Reden sie keinen Mist. Der ist dumm wie Brot. Der Arbeitet doch nur hier, weil seine Mutter meine Schwester ist und hätte ich ihr diesen Wunsch abgeschlagen.... na ja das ist jetzt uninteressant. Also kommen sie mit.“
„Wohin?“
„Das werden sie gleich sehen.“
 
Der Detektive öffnete die grüne Tür und John rutschte fast das Herz in die Hose, als seine Augen erblickten, was er da sah.
 
„Ist das?“
„Ja. Und zwar genug um diese ganze Viertel in einen Krater zu verwandeln.“
„Äh... und sie sind sicher, dass es nicht...“
„Nein. Es ist völlig ungefährlich ohne den Zünder und der ist sicher verwart.
 
Eine große Ladung Sprengstoff stand in dem Raum mitten auf dem Tisch, daneben lagen einige rote Kutten.
 
„Doppelt soviel wie im Krankenhaus und fast das vierfache, dessen was die Polizeistation in die Luft jagte. Dies Dreckskerle, waren kurz davor das Rathaus hochzujagen, als man sie in letzter Sekunde noch erwischt hat. Gott allein weiß, was sonst noch alles passiert wäre.“
 
John kam ein Gedanke, der ihn schon befasste, seit er Michael in der Menge vor dem Krankenhaus stehen sah.
 
„Detektive, ich muss mit den Kerlen reden. Ich...“
„Darauf hab ich spekuliert. Ich will genauso mit denen reden. Also kommen sie mit.“
 
Franklin machte kehrt, verließ den Raum und begab sich zielstrebig durch die große Halle. Ganz hinten saßen vier niedergeschlagene Männer und Frauen in einem provisorisch zusammengenagelten Verschlag.
 
„Na das nen ich doch mal ne Zelle.“
„Wollen sie das Ding von innen sehen?“
 
John blickte in die ernsten Augen des Detektivs und überlegte einen Moment, wie es wohl wäre da drinnen zu sitzen. Mit Wasser und Brot versorgt zu werden und jeden Tag von durchgedrehten Polizisten verhört und geschlagen zu werden. Er sah einfach zu viele von diesen Filmen.
 
„Ähh.. Nein.“
„Dann reißen sie sich am Riemen...“
 
Franklin erhob drohend seinen Zeigefinger.
 
„Und lassen sie mich reden.“
 
Ein grimmig dreinblickender Beamter öffnete die wacklige Tür und die beiden traten ein.
 
„Na Jungs und Mädels, wie gefällt es euch unserem gemütlichen Hotel?“
 
Die vier Insassen blickten regungslos in die Leere.
 
„Ja... hab ich mir gedacht. Nun ja, vielleicht sollten wir..“
 
Franklin befehligte den Beamten vor der Tür, sich die Beine zu vertreten. Die vier Insassen blickten auf den Polizisten, der sich ohne ein Wort zu verlieren von der Zelle abwandte und geradewegs in den vorderen Teil der Halle ging.
 
„... uns mal etwas unterhalten. Mit wem von euch fangen wir denn an?“
 
Er ging vor den Vieren auf und ab und blieb beim zweiten stehen.
 
„Du... ja ich glaube du siehst mir aus wie ein schlauer Kerl, der weiß wann er den Mund aufmachen muss.“
 
Der Detektiv griff sich einen Stuhl, zog in zu sich heran und setzte sich mit dem Bauch zur Lehne darauf.
 
„Ich werde mal eine einfache Frage stellen. Warum?“
 
Keine Antwort. Der Mann blickte immer noch gebannt in die Luft.
 
„Bist wohl nicht sonderlich gesprächig was? Ich frage dich jetzt noch einmal. Warum?“
 
Wieder gab er keine Antwort. Der Detektiv atmete wütend ein und erhob sich zornig von seinem Stuhl.
 
„Ich habs auf die höfliche Art versucht, aber scheinbar stehst du mehr auf die andere Methode.“
 
Wutentbrannt packte er den Kerl an der Kehle und zog drückte ihn mit dem Kopf voraus gegen die Gitterstäbe, des zu groß geratenen Vogelkäfigs.
 
„Jetzt hör mal gut zu du Stück Scheiße. Siehst du die vielen Polizisten da vorne? Sieh sie dir genau an. Siehst du den Ausdruck in ihren Gesichtern? Die Wut? Jeder von denen hat wegen euch Drecksäcken Freunde verloren, ich eingeschlossen. Was denkst du also würde passieren, wenn ich jetzt einfach so zum Spaß die Tür da aufmache und dich an deinem kleinen Schwanz nach vorne ziehe? Jetz mach dein verdammtes Maul auf oder brech dir sämtliche Finger du Arschloch.“
 
Er drückte den Kopf des Mannes fester in das Gitter hinein und dessen rechten Arm hinter dem Rücken nach oben. Auch wenn seine Art eher unkonventionell war, hatte sie Erfolg. Erst leise dann immer lauter begann der Mann vor Schmerzen zu jaulen.
 
„Du kannst ja doch reden. Und jetzt frage ich dich ein letztes Mal. Warum?“
„Ahhhh... Meine Hand...“
 
Unbeeindruckt zog der Detektive den Arm noch ein paar Millimeter weiter nach oben.
 
„Ahhhhh.... Ok... Ok... ich... rede ja... Ahhhhhh....“
 
Franklin interessierten die Schmerzschreie des Mannes nicht. Er wollte sie nicht hören, stattdessen zog er den Arm noch ein kleines Stück weiter nach oben.
 
„Ahhhhhhhhhhhh.“
„Detektiv?!“
 
John konnte die Schrei nicht länger ertragen, auch wenn er genauso wenig Mitleid entfand, es war genug.
 
„Detektiv!?“
 
Franklin macht unbekümmert weiter. Seine Augen, brannten regelrecht vor Wut.
 
„Schrei doch du Arsch. Was glaubst du wohl wie laut die ganzen Menschen geschrieen haben? In der Kirche? Im Revier? Im Krankenhaus? Wie laut werden die geschrieen haben, bevor sie erbärmlich verbrannten oder in tausend Stücke gerissen wurden?“
 
Ein weiteres Mal zog Franklin den Arm nach oben, bis ein knackendes Geräusch zu hören war, als würde ein Stück Holz in der Mitte gebrochen werden, ein großes Stück Holz.
 
„Ahhhh... Ahh...“
 
Franklin ließ ab und schleuderte den Mann hinüber zu den anderen Drei.
 
„Sie.. Sie haben ihm den Arm gebrochen.“
„Nein. Ich habe ihm den Arm aus dem Schultergelenk gerissen, das ist ein Unterschied. Und glauben sie mir, wenn ich ihm den Arm gebrochen hätte, dann würde er nicht ansatzweiße so wimmern.“
 
Der Mann zuckte vor Schmerzen am Boden hin und her.
 
„Möchte jetzt einer von euch reden? Oder muss ich euch allen, den Arm ausreißen?“
 
Beängstigt sahen die anderen Drei zu dem vierten und sofort begannen sie flehend zu jammern.
 
„Dachte ich mir. Also fangen wir an. Warum? Und wenn ich keine Antwort höre, die mir gefällt, dann...“
„Wir haben große Pläne. Die Verdorbenheit musste beendet werden, wenn erst einmal die neue Ordnung erschaffen wurde, dann wird.....“
„Die neue Ordnung? Was..“
„Eine bessere Welt, als Vorbereitung auf...“
„Indem ihr Unschuldige Tötet erschafft ihr eine bessere Welt? Ich werde gleich eine bessere Welt für uns erschaffen, wenn ich auch die Grütze aus dem Schädel blase.“
„Unsere Leben, sind nicht wichtig. Unsere Seelen, werden in die höhere Ebene gleiten und von dort...“
„Ihr kranken Schweine. Ich...“
„Detektiv!“
 
John musste ihn unterbrechen. Er brauchte eine Antwort.
 
„Detektiv, bitte.“
„Ok, machen sie..“
„Wo ist sie? Wo hat er sie hingebracht?“
„Wer?“
„Wo ist sie?“
„Wo ist wer?“
„Stellt euch nicht dumm, ich bin zwar kein so harter Brocken wie der da, aber wenn ich mit nem Stuhl nach euch werfe, dann..“
„Wir haben keine Ahnung von wem sie sprechen.“
„Wo ist Angela?“
„Wir kennen keine Angela.“
„Wo hat Michael sie hingebracht?“
„Wir kennen keinen Michael.“
„Nein? Vielleicht sagt euch der Name Micaiel mehr?“
„Wer ist Micaiel?“
„Was? Wollt... Wollt ihr mich verarschen? Euer... Euer Anführer?“
„Wir dienen keinen Micaiel. Nur unserem wahren Meister, dem Einen, dem Großen, dem Meister!“
 
Die Augen des Mannes wurden groß, begannen zu glänzen, als ob er vor etwas atemberaubendem Stand. Was auch immer, oder wer auch immer dieser Meister war. Er musste etwas Großes sein, zumindest in den Augen der Verrückten.
„Meister? Welchen Meister?“
„Der Verbannte. Wenn wir unsere Aufgabe erfüllt haben, dann wird er sich empor heben und wir werden...“
„Was? Angela? Ihr kennt sie nicht? Ihr kennt Michael nicht? Aber...“
 
Die Worte des alten blinden Mannes sprangen John ins Gedächtnis. „....nur Handlanger, dumme unwissende Marionetten eines weitaus gefährlicheren Etwas. Und dennoch sind sie nicht die treibenden Gefahr in dieser Stadt. Noch nicht.“
 
„Sie wissen es nicht, Detektiv... Nur ein Haufen von Verrückten. Ich... ich muss hier raus.“
„Aber...“
 
Niedergeschlagen verließ er die Zelle, verließ die große Halle. Er öffnete das kalte Eisentor und zog sich entmutigt nach draußen. Wo konnte er es vergessen? Der alte Mann hatte es ihm so deutlich gesagt. Nur Marionetten. Jetzt war er wieder am Anfang. Er war alleine, ohne einen Funken Hoffnung, ohne die geringste Ahnung, was er tun sollte, wo sie sein könnte.
 
„Ich habe aufgegeben. Jetzt habe ich aufgegeben.“
„Aufgegeben? Mr. Rivers wir... wir finden sie.“
 
Franklin wollte John Mut machen, so wie ein Polizist den Menschen immer Mut machte, auch wenn die Situation und die Beweise, die Tatsachen noch so deutlich standen, es war für Franklin immer wichtig, den Opfern, den Geschädigten Mut zu machen. Mut alleine, da war er sich sicher, konnte schon die ganze Situation von selbst ändern.
 
„Finden? Wo? Sie könnte überall sein. Und ich... ich habe nicht die geringste Ahnung.“
„Dann lassen sie mich ihnen helfen. Ich bin Polizist, es ist unsere Aufgabe nach Dingen zu suchen, nach Spuren. Wir..“
„Nein Detektiv. Ich... Sehen sie sich doch um. Zig Tausende Menschen leben in dieser Stadt. Es gibt hier mehr als Hunderte Orte an denen man sich verstecken kann. Und wo... wo sollten wir denn anfangen?“
 
John senkte seinen Kopf, er blickte hinunter auf das graue Pflaster. Die Farbe seiner Seele. Dunkel, trostlos, ohne jede Hoffnung.
 
„Sie wollen doch nicht aufgeben? Nach all dem?“
„Doch.... ich... vielleicht war das von Anfang an so gedacht. Vielleicht war es...“
„Jetzt reißen sich sie mal zusammen. Ich will das nicht hören. Barbara ist nicht umsonst gestorben. Das werde ich nicht akzeptieren, wenn sie aufgeben wollen, dann tun sie es. Aber ich werde ihn finden, ihre verdammte Freundin ist mir egal. Ich will nur ihn.“
 
John begann zu überlegen. In seinem Gedankenmeer der Verzweiflung begann sich ein kleiner Tropfen Hoffnung zu bilden. „Er sucht sie, ihm bleibt keine andere Wahl.“ Wie konnte er das nur vergessen. Natürlich, er suchte nach ihm. Deshalb starb Barbara, weil er wusste wo John zu finden war. Und wenn er es wusste, dann würde er ihn doch auch finden. Und wenn er ihn finden würde, wäre es dann möglich, dass..?
 
„Detektiv?“
„Ja?“
„Haben sie einen Peilsender?“
„Einen Peilsender? Äh....ja... das heißt nein.“
„Sie haben keinen Peilsender?“
„Wir.. wir hatten welche. Aber, die sind im Revier, was noch vom Revier übrig ist.“
„Dann müssen wir dahin. Kommen sie.“
 
Der kleine Tropfen Hoffnung breitete sich aus, John war erfüllt, von neuer Kraft, soviel davon, wie er in den letzten Tagen nicht besaß. Der Peilsender, dass musste die Lösung sein. Würde er Michael wieder begegnen, würde er diese Begegnung überleben und würde er es dann auch noch schaffen, ihm irgendwie einen kleinen Peilsender anzubringen, dann würde er ihn direkt in seinen „Bau“ führen. In der Theorie war dies jedenfalls durchaus möglich.
 
„Wie groß sind diese Peilsender?“
„Die haben wir in allen Größen. Wir haben sogar welche, die sind kleiner als Fingernägel. Aber die Reichweite, ist da nicht besonders groß, warum was haben...“
 
Jetzt begriff auch der Detektiv, was John wollte. Ein genialer Einfall.
 
„Mr. Rivers. Sie überraschen mich. Das ist einfach genial. Aber ich kann sie leider nicht zum Revier begleiten, ich muss mich um diese Verrückten da drin kümmern. Ich werde ihnen meinen Partner mitschicken.“
„Danke.“
„Warten sie kurz hier, ich hol ihn schnell und dann machen sie sich lieber gleich auf den Weg. Wenn sie den Sender haben, dann lassen sie von sich hören.“
 
 
Kapitel 15
 
„Und sie sind sich wirklich sicher, dass sie den Sender brauchen?“
„Ja!“
 
Die eindringliche Antwort überraschte den jungen Clapert. Aber John war sich sicher, er konnte die ganze Fahrt über an nichts anderes mehr denken, als an diesen Sender.
 
„Wenn sie meinen. Dann lassen sie uns mal sehen. Die Sender liegen im technischen Lager und das ist im Keller.“
„Im Keller?“
„Ja. Ich fürchte nur, der Weg dahin ist...“
„Nein ist er nicht.“
„Ist er nicht?“
„Nicht mehr. Ich.... ist nicht so wichtig.“
 
Überrascht blickte Clapert John an. Er kannte ihn nicht gut genug um ihm zu vertrauen. Für Clapert war der Mann vor seinen Augen, ein Verrückter. Ja ein Verrückter, mit etlichen Kratzern im Gesicht und einem humpelnden Bein. Doch Franklins Worte waren eindeutig. „Der Typ ist in Ordnung. Ein bisschen Verrückt, aber er ist in Ordnung. Also egal was er auch sagt oder tut, stell es nicht in Frage, Ok?“ Verrückt war er allerdings, da war sich Clapert sicher. Mit den Taschenlampen in den Händen machten sich beide in den Keller auf. John ging vor, ein Dejavueerlebnis für ihn. Und doch war es dieses mal anders, war er doch das letzte mal hier um sie zu finden und zu retten und dieses mal... Es war doch nicht anders. Er war wieder hier um sie zu finden und zu retten.
 
Vom Licht der Taschenlampen geführt, drangen die beiden tiefer in den dunklen Gang entlang. In ihren Nasen machte sich ein größer werdender stechender Geruch von Fäulnis breit.
 
„Bohh hier stinkt es, als ob..“
„Ein Toter hier liegen würde?“
„Ja genau, woher wissen sie...“
„Ach, ist nur so ne Vermutung.“
 
Die Leiche der Frau lag offenbar noch immer hier unten. Das würde bedeuten, seit John Angela hier drinnen fand, war außer ihm Niemand mehr hier. Einige Schritte weiter, wurde er in seiner Vermutung bestätigt. Das Licht der Taschenlampe zog sich langsam den Boden entlang, auf einen kleinen stinkenden Haufen unter einem herabgestürztem Stahlträger. Ratten machten sich darüber breit und drängten sich in Massen um den Haufen hinweg.
 
„Was... was ist das...?“
 
Clapert näherte sich dem Haufen mit einem vor die Nase gehaltenem Taschentuch um den beißenden Geruch zu mindern. Sein Herz pochte sehr stark. War er im Begriff seinen ersten Toten zu sehen? Seinen ersten Toten im Dienst? Auf der Akademie hatte man ihm schon einmal Einen gezeigt. Er war auch schon bei einer Autopsie anwesend. Doch nie zuvor machte sich ein so beißender Geruch in seiner Nase breit. Aber oft hatten ihm ältere Kollegen davon erzählt. Das der Geruch sich in die Nase brannte und dann langsam den Magen in Wallung brachte, bis man kurz vor dem Erbrechen wäre. Und dann würde alleine der Anblick im Zusammenhang mit dem Geruch dazu führen, die Kontrolle über seinen Magen zu verlieren. Clapert hielt das immer für ein Märchen, etwas, dass man den Jungen erzählte um ihnen Angst zu machen. Jetzt wusste er aber, dass es kein Märchen war, nicht einmal ansatzweise.
 
„Diese Ratten... das.. das ist abartig. Was.. was.. oh mein Gott.“
 
Als er nah genug kam und seine Anwesenheit die Ratten verscheuchte, sah er es. Lange schwarze Haare hingen im Gesicht des vollkommen zerfressenen Kadavers.
 
„Ist das.... oh Gott...“
„Detektiv, vielleicht sollten sie da nicht näher ran gehen. Es gibt nichts mehr was sie für die Frau tun könnten.“
 
Angewidert stolperte Clapert wieder einige Schritte zurück und fixierte das Licht der Taschenlampe in den langen Gang. Er war selbst nicht wirklich scharf darauf, die Leiche näher zu untersuchen.
 
„Wenn wir hier fertig sind, werde ich die Spurensicherung anrufen, die werden sich darum kümmern.“
 
Beide schritten den Gang weiter entlang und achteten gebannt darauf, die Tür mit der Aufschrift „Technisches Material“ zu finden, falls die Aufschrift überhaupt noch zu entziffern, geschweige denn vorhanden war.
 
„Der Raum muss hier irgendwo sein. Lassen sie mal sehen. Da drüben ist der Vorraum zur Asservatenkammer und da hinten der Heizungsraum. Dann müsste hier...“
„Sie wissen nicht wo der Raum ist, oder? Waren sie vorher überhaupt schon einmal hier?“
„Doch war ich, aber das letzte Mal gab es noch Licht und die Stahlträger lagen nicht auf dem Boden. An den abartigen Geruch von verwestem Fleisch kann ich mich auch nicht erinnern.“
 
Einige Meter vor ihnen endete der Gang abrupt vor einem Berg aus herabgestürztem Schutt und Eisen.
 
„Ich hoffe mal, der Raum ist nicht dahinter?“
„Mr. Rivers, ich fürchte der Raum ist dahinter.“
 
Schlagartig verlor er seine Hoffung erneut. Er war so nah und doch gab es keinen Weg hinter den Schutt. Er begann Stein für Stein aus dem Weg zu räumen, doch der Haufen gab nicht nach, wurde nicht kleiner. Es gelang ihm ohnehin nur die oberen, kleinen Stücke zu beseitigen, die dahinter liegenden ineinander gekeilten großen Brocken mussten nahezu Hunderte von Kilo wiegen.
 
„Das hat keinen Sinn Mr. Rivers, lassen sie es.“
„Nein. Helfen sie mit na los. Kommen sie, den großen Brocken da.“
„Mr. Rivers, für das Ding bräuchten wir nen Kran. Das schaffen wir nicht.“
„Helfen sie mir, na los.“
„Na gut. Aber das klappt nicht.“
 
Clapert krempelte die Ärmel seiner Jacke zurück und schob seine Hände unter einen der großen Steine. Gemeinsam begannen sie mit ganzer Kraft aus den Beinen heraus zu heben. Der Stein bewegte sich keinen Millimeter. Sie zogen, hoben, schoben und schlugen sogar mit den Beinen dagegen, doch er war wie festgebohrt im Erdboden.
 
„Das wird nix.“
 
John schüttelte entmutigt den Kopf. War der letzte Funken Hoffnung nun entgültig vertan?
 
„Mr. Rivers, dass war wohl alles umsonst, vielleicht sollten wir besser...“
 
Clapert unterbrach, aufgeschreckt von einem Geräusch in der Ferne des Gangs.
 
„Haben sie das gehört? Da war doch was?“
„Vielleicht nur eine Katze?“
„Nein, nein, das hörte sich an, ob Jemand die Treppen hinunter gesprungen wäre.“
 
 
Das Tapsen von Schritten war zu hören und ein lauter werdendes Schnaufen, begleitet von einem leisen Lachen, dass Johns Herzschlag ins unermessliche springen ließ. Er hatte ihn gefunden. Michael war da.
 
„Clapert nein. Bleiben sie hier.“
 
Zu spät. Er stand bereits kurz vor der Treppe. Der Lichtkegel der Taschenlampe schwankte wie wild umher und erlosch dann vollständig. Ein lauter Aufschrei ertönte und dann... Stille.
 
„Clapert?“
 
John befürchtete das Schlimmste. Es war nichts zu hören.
 
„Clapert? Clapert, was ist los?“
 
Gebannt richtete er seine Ohren in die Ferne. Immer noch keine Antwort von Clapert. Er kniff seine Augen zusammen und richtete die Lampe in die Ferne. Gerade noch rechtzeitig um erkennen zu können, dass etwas durch die Luft auf ihn zuflog. Er duckte sich und wich einen Schritt zur Seite. Als er sich wieder aufrappelte, sprang er tief erschrocken zurück vor dem was im Blickfeld seiner Augen lag.
 
„Scheiße.. Wa.....Verdammt!“
„Hier hast du deinen Detektiv. Schön handlich ist er jetzt.“
 
Ein zerrissener Kadaver lag vor ihm im Dreck. Ein Auge in dem entstellten Gesicht war weit aufgerissen, das andere fehlte völlig. An der Stelle, an der John die Arme vermutete, befanden sich nur blutige Stummel. Eines der Beine hing nur noch an einem Stückchen Haut.
 
„Hast du Angst, vor dem was du da siehst? Glaub mir, was ich mit dir machen werde, kannst du dir nicht im geringsten Vorstellen. Mit dem da gings schnell, aber bei dir werde ich mir Zeit lassen, keine Sorge.“
 
John blickte um sich. Es gab keinen anderen Weg nach draußen, eine Sackgasse.
 
„Du hast es mir nicht leicht gemacht dich zu finden. Aber jetzt..... ja, sieh dich nur um. Kein Weg nach draußen? Pech... für dich. Ha ha ha...“
 
John überlegte. Er schaffte es kaum einen klaren Gedanken zu fassen. Er brauchte eine Waffe. Etwas womit er Michael vielleicht in Schacht halten konnte. Lange genug um den Weg nach vorne freizumachen. „Hier muss doch irgendwo eine Stange oder etwas sein... verdammt... nur Steine... Steine!! Ja!“, dachte er und hob sogleich einige davon auf um sie Michael entgegenzuschleudern.
 
„Ha ha ha. Bist du schon so verzweifelt? Denkst du etwa du kannst mich mit ein paar kleinen Steinchen aufhalten?“
 
Die Steine brachten also, wie zu erwarten war, nicht den gewünschten Erfolg. „Hier muss es doch irgendetwas geben, irgendetwas... ich...“. John blickte hinunter zu dem blutigen Kadaver. Clapert trug noch immer seine Jacke. Vielleicht hatte er den Halfter noch umgeschnallt. John beugte sich vor ihm nieder und begann mit Daumen und Zeigefinger, das blutige Stück Stoff vom Körper wegzuheben und tatsächlich da war die Waffe. Einwickelt in einem Gemisch aus Fleisch und Blut steckte sie im Halfter. Er fasste mit der Hand hinein, Claperts Körper war noch warm. Mit der Waffe zog sich ein Stück Fleisch mit nach oben. John schüttelte es von seiner Hand und richtete die Waffe in den Gang. Er konnte Michael nun deutlich einige Meter vor ihm sehen. Fasst auf allen vieren kroch diese Gestalt durch den Gang. „Die Bestie“, dacht John. Blutrote Augen, stachen aus dem dunkel hervor. Fletschende Zähne, wie die eines Tieres spitzten aus dem Maul der teuflischen Fratze. John zielte mit der Pistole direkt in Michaels Gesicht.
 
„Wo ist Angela?“
„Nicht hier! Und du wirst sie auch nicht mehr sehen. Nicht in diesem Leben.“
 
Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren drückte John den Abzug. Der laute Knall der Waffe donnerte in seinen Ohren und die Wucht des Rückstoßes, kugelte ihm fast den Arm aus dem Gelenk.
 
„Daneben!“
 
Michael machte einen großen Sprung nach vorne, warf John um und schleuderte ihn über sich hinweg. John schüttelte sich kurz und stand auf. Er richtete die Waffe erneut auf Michael. Ein weiteres Mal feuerte er und noch mal und noch mal. Er drückte den Abzug immer und immer wieder. Feuerblitze erhellten den Gang und das donnernde Hallen nahm kein Ende mehr. Einige der Kugeln hatten ihn offenbar nicht verfehlt. Michael stand nach hinten geneigt im Gang. Das war die Gelegenheit. John musst rennen, rennen solange ihm die Zeit blieb, schnell hier raus bevor Michael wieder zu sich kam. John nahm die Beine in die Hand und rannte. Er lief die Treppe nach oben und schloss die Tür hinter sich. Schnell rannte er zu Claperts Wagen. Vor der Tür fiel ihm jedoch ein, dass er keine Schlüssel dafür hatte. „Claperts Jacke! Verdammt.“ Was jetzt? Wohin? Michael war noch immer im Keller, aber wie lange würde ihm dieser Joker gehören?  Ein einsamer Wagen bog in der Ferne um den Häuserblock. Sein Chance. Zielstrebig rannte John auf das Auto zu. Mit den Händen deutete er dem Fahrer an anzuhalten. Die Hupe ertönte und er Wagen kam vor ihm zum stehen.
 
„Was soll das? Aus dem Weg. Sie können doch nicht einfach...“
 
Etwas pochte mit ganzer Kraft gegen die Kellertür in den Ruinen. Die Zeit wurde knapp.
 
„Ich brauche ihren Wagen!“
„Na klar, du Verrückter. Verpiss dich lieber oder ich du fängst ein.“
„Hören sie. Sie bekommen den Wagen wieder zurück, aber jetzt steigen sie aus.“
 
John hielt noch immer die Waffe in der Hand. Mit ihr direkt auf den Fahrer gerichtet, verlieh er seiner Bitte Nachdruck.
 
„Ok... He, alles easy, hier nimm ihn. Ich wollte ihn sowieso verkaufen....“
 
Ein weiterer lauter Schlag riss die Tür aus der Verankerung und schleuderte sie davon. Michael stampfte wütend aus den Ruinen.
 
„Du!!! Jetzt bin ich wütend!“
„Verdammt, springen sie rüber, los!“
 
John stieg in den Wagen und schubste den Mann auf den Beifahrersitz. Er startete den Motor und drückte das Gaspedal bis zum Anschlag. Die Reifen quietschten und der Wagen bohrte sich langsam aus dem Asphalt. John machte einen Blick in den Rückspiegel. Doch bis auf den Qualm des Gummis war nichts zu erkennen. Hatte er Michael abgeschüttelt? War er in Sicherheit, fürs erste? Ein dumpfer Knall auf das Dach des Autos, ließ John für eine Sekunde die Kontrolle über den Wagen verlieren. Beide Insassen blickten zum Himmel des Wagens hinauf, der leicht nach innen gedrückt war.
 
„Mein Auto!! Was zum...“
 
Der Mann kam nicht mehr dazu seinem Unmut Stimme zu verschaffen. Noch bevor er seinen Satz vollenden konnte durchbrachen ihn zwei teuflische Arme, zogen ihn am Hals nach draußen und schleuderten ihn vor den Bug des Wagens auf die Straße, zu nah als das John noch eine Möglichkeit gehabt hätte auszuweichen. Er hatte den Mann gnadenlos überfahren. Doch blieb ihm jetzt keine Zeit darüber nachzudenken.
 
„Hallo, John.“
 
Die grinsende Fratze von Michael hing kopfüber durch das Seitenfenster in den Wagen.
 
„Schicker Wagen! Und jetzt halt an!“
 
Eine Faust knallte gegen die Windschutzscheibe und brachte sie zum bersten. John schloss reflexartig seine Augen und verriss bei der kurzen Blindfahrt das Lenkrad. Der Wagen raste direkt an den rechten Straßenrand und nahm Kurs auf einen parkenden Kleinbus. Wieder hing Michael kopfüber am Beifahrerfenster. Im letzten Moment öffnete John seine Augen um gerade noch seinen Fuß mit ganzer Kraft gegen das Bremspedal zu stemmen. Er drehte das Lenkrad bis zum Anschlag nach Links und der Wagen schob sich mit voller Fahrt quer gegen den Bus. Michael drehte seinen Kopf und blickte direkt auf die Breitseite des Busses.
 
„Oh, schei...“
 
Bum.... Der Aufprall quetschte Michaels Körper zwischen den beiden Fahrzeugen ein und wirkte gleichzeitig als Stoßdämpfer. John hob seinen Kopf vom Lenkrad auf und sah benebelt auf den regungslosen, zusammengedrückten Köper. Der Fahrgastraum war überraschen unbeschädigt. John drückte die Augen fest zusammen um wieder einen klaren Blick zu bekommen. Er ertastete das Zündschloss und drehte den Schlüssel. Es dauerte einige Male, aber letztendlich heulte der Motor auf. John legte den Rückwärtsgang ein und manövrierte sich aus dem Blechhaufen. Michael blieb an der Außenwand des Van hängen. So schnell es ging machte sich John auf den Weg zu Franklin. Die Nachricht vom Tot seines Partners würde ihn schwer treffen.
 
 
Kapitel 16
 
„Er war einer der Besten, die ich in den letzten Jahren getroffen hatte. Er war so voller Enthusiasmus, voller Kraft. Sein.... sein größter Wunsch war es, etwas zu verändern. Und jetzt.... Er hat eine kleine Tochter. Er hatte sie alleine großgezogen, nachdem seine Frau vor zwei Jahren gestorben war. Was.... was soll ich der Kleinen denn sagen? Wer... wer kümmert sich jetzt um sie.“
 
Franklin schlug mit seinen Händen, kräftig auf den weißen Klapptisch. Die Wucht drückte die Tischplatte in der Mitte durch und ließ den gesamten Tisch einige Zentimeter in die Luft springen. John versuchte sich so unauffällig wie nur möglich zu verhalten. Er hatte eine kleine Tochter. Ein seltsam bedrückendes Gefühl zu wissen, dass man für den Tot eines Menschen verantwortlich war. Wieder einmal. Noch bedrückender war es hingegen zu wissen, dass dieser Mensch ein Kind hatte, das nun wohl in einem Heim aufwachsen würde. Und am schlimmsten daran war die Tatsache, dass alles umsonst war. Sie hatten den Sender nicht gefunden. Die wohl einzige Chance auf Angelas Rettung und Michaels Vernichtung.
 
„Detektiv, ich.... es ist alles meine Schuld. Ich.... ich weiß nicht ob..“
„Sparen sie sich das. Es war meine Schuld. Ich hätte ihn nicht mitschicken dürfen. Ich hätte selbst gehen sollen. Selbst sterben sollen.
 
„Nein... nein. Hören sie auf, es ist einzig und allein meine Schuld. Ich bin.... war besessen vom Gedanken daran Michael zu finden, Angela zu finden. Ich hätte sie da nie mit reinziehen dürfen.“
 
Franklin blickte John ungläubig an. Sein Atem wurde schwerer, schneller. Er ballte erneut seine Faust und schlug abermals kräftig gegen den wackligen Tisch.
 
„Nein.. Sie scheinen das nicht begreifen zu wollen. Zwei Menschen die mir sehr viel bedeutet haben sind heute gestorben und das letzte was ich tun werde, ist hier sitzen bleiben und Däumchen drehen. Und glauben sie mir, wenn ich dieses Biest in die Finger kriege, dann reiß ich ihm seinen verdammten Kopf ab und scheiß ihm in den Hals.“
 
John bewunderte Franklins Feuer und er wünschte sich, es würde auch in ihm lodern. Aber es war vorbei. Es gab keine Möglichkeit mehr Michael zu finden. Angela war tot. Unausweichlich.
 
„Detektiv, es ist vorbei. Es gibt keine Möglichkeit mehr ihn zu finden. Ich habe mich zu sehr an den letzten Funken Hoffnung geklammert der mir blieb. So sehr, dass ich vergessen habe, wie unwahrscheinlich es gewesen wäre ihm den Sender unterzubringen. Wenn... wenn nicht einmal ein Polizist ihm etwas entgegensetzen kann, wie sollte ich ihn dann jemals aufhalten können. Wie..“
 
„Wenn sie ihn nicht aufhalten können, dann erklären sie mir, weshalb sie ihm bereits zweimal begegnet sind. Wenn das alles so Sinnlos für sie ist, nach allem was bisher geschehen ist, dann verraten sie mir weshalb sie eben diese zwei Begegnungen überlebt haben.“
 
„Hm... ich wünschte ich wäre schon bei der ersten Begegnung gestorben. Verdammt ich wünscht ich hätte die Explosion im Polizeirevier nicht überlebt. Dann wären ihre beiden Freunde noch am Leben und Angela wäre mittlerweile im Keller des Reviers gestorben. Ich hätte sie nie suchen dürfen. Es war mein Fehler..“
 
John blickte durch das große, verdreckte Fenster der Lagerhalle nach draußen in die Ferne. Vor ihm lag nur der Wald. Dunkel, trüb. Die Äste der Bäume hingen gen Boden, als ob auch sie bereits den dünnen Faden der sie am Leben hielt verloren hatten und nur auf ihr Ende warteten. Und dann passierte es. Etwas, dass man wohl nur als Wunder bezeichnen konnte. Als Fingerzeig Gottes. Ein einzelner Sonnenstrahl fiel zwischen den Bäumen hindurch in eine mehrere Fußballfelder große Vertiefung zwischen den Hügeln. „Für immer unter der Erde bleiben.“ Die Worte, die sein Vater ihm im Traum immer wieder mitteilte.
 
„Detektiv? Was ist da draußen zwischen den Hügeln?“
Franklin blinzelte durch das Fenster nach draußen und entgegnete danach unbeeindruckt:
 
„Da? Das sind die alten Minen. Warum fragen sie?“
„Für immer unter der Erde bleiben.“
„Was haben sie gesagt?“
 
Franklins Irritation wahr ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Er hatte nicht, noch nicht, die geringste Ahnung was John vor sich hin faselte. Aber in einigen Stunden, würde er sich wünschen, er hätte diesen Satz niemals gehört und John nie getroffen.
 
Ein Wunder. Das war es also. „Für immer unter der Erde bleiben.“ Damit war nie das Polizeirevier gemeint. Dort musste sie sein und er. Diese Nacht würde Johns Leben mehr verändern, als alles was er bisher erlebt hatte.
 
 
Kapitel 17
 
Die alte Kohlemine im Norden war im 18. Jahrhundert der Hauptgrund dafür, das Stainsview sich innerhalb kürzester Zeit zu einer wohlhabenden Stadt entwickelte. Lange Zeit war sie das Brot für zahlreiche Menschen. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde sie jedoch geschlossen. Die Rohstoffe darin waren so gut wie vollständig abgebaut, die Stollen gingen zu tief und tödliche Unfälle ereigneten sich in solch kurzen Zeitabständen, dass sich der damalige Stadtrat dazu gezwungen sah, dem Betreiber die Lizenz zu entziehen. Der einzig bekannte Eingang zu den Minen wurde damals verschlossen und das Gebiet ringsherum großflächig zur Gefahrenzone erklärt. Doch regelmäßig schossen Meldungen durch die Tagespressen, dass einige Wanderer bei Waldspaziergängen in Erdvertiefungen gefallen und sich dabei verletzt hätten. Und jedes Mal appellierten die zuständigen Behörden an die Bevölkerung, bei Märschen durch die Wälder rings um die Mine nicht vom Weg abzukommen.
 
Mit beiden Händen zog Franklin die alte Karte über dem weißen Tisch auseinander.
 
„Das ist die einzige Karte, die ich auf die schnelle gefunden habe. Also mal sehen...“
 
Er überflog die Stadt mit seinem Zeigefinger und fuchtelte wild über dem eingezeichneten Wald umher.
 
„Also wenn ich mich richtig daran erinnern kann, dann erstreckt sich die Mine unterirdisch fast komplett um den Nordwald. Etwa von hier nach da. Aber bis auf den einzigen Eingang, der übrigens verriegelt ist, was auch vehement von uns kontrolliert wird, gibt es keinen bekannten Weg hinein.“
 
Die Karte zeigte die Stadt und die anliegenden Regionen. Die Mine war dort nicht eingezeichnet, lediglich ihr Eingang war mit einem kleinen Punkt und der Ziffer 23 vermerkt. In der Legende stand dazu: Die stillgelegte Kohlemine. Ein sehr ernüchternder Vermerk.
 
„Also los. Wir müssen zur Mine.“
 
John rannte zielstrebig zur Tür.
 
„Warten sie. Wir können nicht einfach da rein. Der Eingang ist verriegelt. Und was denken sie was das bedeutet? Da sind nicht nur drei oder vier Bretter dran genagelt. Das ganze wurde fachmännisch verschlossen. Kein Mensch kommt da so einfach rein. Jedenfalls nicht durch diesen Eingang. Und das dürfte auch Michael einschließen. Außer ihm ist ein Eingang bekannt, den keiner von uns kennt. Was macht sie überhaupt so sicher, dass er da drinnen ist?“
 
Was machte John so sicher? Ein Bauchgefühl, mehr nicht.
 
„Ich bin mir absolut sicher. Da gibt es keinen Zweifel. Ich weiß es einfach. Also kommen sie jetzt mit oder nicht? Ich gehe jedenfalls.“
„Warten sie.. „
 
Franklin biss sich fest in die Lippe. Er wusste, ihm würde noch leid tun, was er jetzt vorhatte.
 
„Ich komme mit, aber.....“
 
Er erhob seinen Zeigefinger.
 
„...wenn wir wirklich da hinein wollen und es tatsächlich schaffen sollten, dann brauchen wir eine Karte der Minen.“
„Und wo bekommen wir die her?“
„Dort wo alle alten Karten und Dokumente aufbewahrt werden.“
 
Die beiden sahen sich wortlos an. John wartete auf eine Erklärung.
 
„... im Stadtarchiv!“
„Wir haben ein Stadtarchiv?“
 
Franklin schüttelte seinen Kopf.
 
„Jede Stadt hat ein Stadtarchiv!“
„Jede Stadt?“
„Ja... ach jetzt kommen sie einfach mit.“
 
Das Stadtarchiv hatte seinen Sitz neben dem alten Rathaus. Vor einigen Wochen erst zog die Riege der Stadtführung in ein neues Gebäude und ließ einige Abteilung aus administrativen Gründen hier zurück.
 
Auf dem alte Metallschild links neben dem Eingang prangte: Stainsview Stadtarchiv. Die Tür war abgeschlossen. Franklin läutete einige Male an der Klingel unter dem Schild. Einen Augenblick später war ein kleines metallenes Klicken zu hören und die große Tür öffnete sich langsam. In dem dahinterliegenden, nur vom Notlicht ausgeleuchteten, Gang stand eine alte Frau. Die weißen Haare hinten nach oben zu einem Dutt zusammengebunden, eine kleine Lesebrille auf der Nase sitzend und um ihren Charakter perfekt zu beschreiben, nicht eine einzige Lachfalte prangte in ihrem Gesicht.
 
„Was wollen sie?“
 
Die alte Frau zog ihre Brille etwas nach vorne und starrte die beiden mit einem bitteren Blick an.
 
„Guten Abend. Mein Name ist Franklin ich bin Detektiv, dass hier ist Mr. Rivers, er.... ist uns bei einer Sache behilflich. Können wir reinkommen? Wir bräuchten Informationen bezüglich...“
 
„Sie sind Detektiv? Kann ich ihr Marke sehn?“
 
Franklin fasste hastig in seine Innentasche und zog sein Abzeichen und den Dienstausweis hervor. Die alte Frau riss ihm den Ausweis aus der Hand und verglich beharrlich das Foto darauf mit Franklin.
 
„Hmm... ist schon etwas älter oder? Da hatten sie noch Haare.“
 
Sie drückte ihm den Ausweis wieder entgegen und drehte den Kopf zu John.
 
„Und er ist kein Polizist?“
„Nein. Er ist uns nur behilflich.“
„Dachte ich mir. Sieht auch gar nicht aus wie ein Polizist. Eher wie ein Landstreicher. Na mir solls recht sein. Ist ein freies Land, da kann jeder machen was er will. Dann kommen sie mal rein und machen sie die Tür wieder zu.
 
Die alte Frau ging voraus und für John brauchte es viel Selbstbeherrschung sie nicht von Hinten niederzuschlagen.
 
Er flüsterte an Franklin:
 
„Ich glaubs nicht. Wir sind in der Hölle und die Mutter des Teufels führt uns durch.“
„Halten sie einfach die Klappe....“
 
  
 
Geführt von der alten Frau kamen die beiden letztendlich in einem kleinen Büro an. Die weißen Wände gaben die Kälte der Frau bestens wieder und passten zu ihr. Im ganzen Zimmer prangte kein einziges Foto. Einige Aktenschränke standen sauberst aufgereiht in der rechten Ecke des Raums. Der Schreibtisch vor dem alten Holzfenster war unglaublich aufgeräumt. Einige Stifte steckten in einer kleinen Vorrichtung neben dem antikem PC und eine einsame Uhr prangte auf der anderen Tischseite. Ihr ticken hallte lautstark durch den stillen Raum. Kein Wunder das die Lady etwas „seltsam“ war. Hier arbeiten zu müssen, würde Jedem die kleinen grauen Zellen durchmixen.
 
Die Frau schob ihren alten Stuhl unter dem Schreibtisch hervor und bequemte sich nieder und startete den PC.
 
„Also was ist denn bitte für die Polizei so wichtig, dass sie hier mitten in der Nacht auftaucht?“
 
„Nun, es geht um Folgendes. Wir brauchen eine alte Karte.“
„Eine Karte? Ja, davon haben wir hier eine Menge. Aber wenn sie sich etwas genauer ausdrücken würden, dann könnte ich ihnen auch helfen. Ich sehe mal in der Datenbank unter Karten. Welche Karte genau?“
„Wir brauchen einen Plan der alten Mine.“
 
Die Frau drückte sogleich die ESC-Taste und setzte ihre Brille ab.
 
„Die alten Minen? Also da werden sie hier in der Datenbank nichts finden. Warum sagen sie das nicht gleich. Alle Dokumente die älter als 80 Jahre sind, wurden nicht digitalisiert.“
„Aber es gibt Aufzeichnungen oder?“
 
Sie setzte die Brille zurück und erhob sich vom Stuhl.
 
„Das werden sie selbst herausfinden müssen. Alle alten Dokumente befinden sich im Keller. Aber glauben sie ja nicht, ich such für sie. Das machen sie schön selbst. Ich bin nicht ihre Sekretärin und habe weitaus wichtigeres zu tun.“
 
Sie kramte einen alten Schlüssel aus dem Schreibtisch hervor und warf ihn Franklin zu.
 
„Den Gang rechts die Treppe runter und dann die dritte Tür links. Machen sie keine Unordnung und sperren sie die Tür wieder zu wenn sie gehen.“
 
Franklin betrachtete kurz den Schlüssel und blickte in den Gang, dann wies er John an ihm zu folgen.
 
Der Geruch von altem Papier und Schimmel an den Wänden legte sich in ihren Nasen fest, als beide den dunklen Raum betraten. Eine Betätigung des Lichtschalters hatte ein klacken an der Decke zur Folge und nach mehrmaligem Flackern offenbarte die Leuchtstofflampe ihr kaltes Licht.
 
„Ist ja richtig gemütlich hier. Die alte muss sich ja hier wie im Himmel fühlen.“
 
John blickte prüfend auf die alten Aktenschränke und Regale.
 
„Ich hoffe die Buchstaben an den Regalen sind nicht nur aus Spass dran, sonst suchen wir uns tattrig.“
 
Franklin griff an einen der Aktenschränke und wollte den obersten Schub herausziehen, der allerdings keinen Millimeter nachgab.
 
„Scheint zu Klemmen das Ding... Vielleicht brauchts nur n bisschen....“
 
Abermals zerrte er an dem Griff und stemmte dieses mal sein fülliges Körpergewicht gegen.
 
„..Öl!“
 
Schlagartig schoss das Fach nach draußen und da Franklin seine gesammelte Manneskraft an dem Schränkchen ausließ, war es auch nicht verwunderlich, dass dem Schub der restliche Schrank folgte und mit einem gewaltigen Knall gegen den grauen Betonbogen krachte.
 
„Scheiße....“
 
Franklin stand verwirrt vom Boden auf, schüttelte sich den Staub von seiner Jacke und fuhr nüchtern fort:
 
„Aber das war sowieso der falsche Schrank. Vielleicht hab ich beim nächsten etwas mehr Glück.“
 
John interessierte der umgeworfene Schrank eher weniger er war vielmehr damit beschäftigt, in dem großen Regal durch die verstaubten Akten zu wühlen. Allerlei interessante Dinge verstaubten in den alten Holzregalen. Stadtschätze, wenn man so wollte. Historische Dokumente und Urkunden, lagen, lustlos hineingestopft, in selben Ordnern zusammen mit unwichtigen Zeitungsartikeln und Gebäudebauplänen. Wer auch immer die Dinger hier zusammen getragen hatte, war wohl nicht sonderlich an Archivierung interessiert und hatte noch weniger Liebe zur Historik als John. Doch selbst ihm tat beim Anblick halb zerrissener Urkunden der Bauch weh.
 
„Ah hier! Ich habs gefunden!“
 
Franklin zog eine kleine dunkelgelbe Mappe aus dem Regal und wischte einmal kräftig mit der Handfläche über den Einband.
 
„Lagepläne und Dokumente Stainsview-Kohlemine.“
 
Der umgeworfene Aktenschrank diente nun bestens als Auflagefläche und Franklin breitet den Inhalt des Ordners darüber aus.
 
„Sehen sie sich dieses Labyrinth an Gängen und Schächten an. Wenn sie wirklich ohne das Ding da runter wären....“
„Also haben wir was wir wollten. Und jetzt sollten wir keine weiter Zeit verlieren und unsere Sachen packen.“
 
John packte die Karte und begab sich hastig durch die Tür in den Gang.
 
„Kommen sie, Detektiv. Soll die alte Krähe doch umfallen, wenn sie die Unordnung hier sieht.“
 
Der Knall der Autotür weckte eine weitere Idee in Johns Kopf. Etwas, dass ihm, wenn es auch sehr gefährlich war, vielleicht einen kleinen Joker verschaffen könnte. Den nötigen Trumpf, den man wie bei einem perfekt geplanten Kartenspiel zum richtigen Zeitpunkt ausspielen sollte um einen sicheren Sieg einzufahren.
 
„Detektive? Ich habe da eine Idee. Wir brauchen noch einige Sachen bevor wir loslegen.“
 
Obwohl Franklin eher fassungslos von diesem Einfall war, ließ er sich zu guter letzt zu diesem Himmelfahrtsplan überreden. Und wenn es eins gab was John ihm in den vergangen Tagen bewiesen hatte, dann war dies, bis auf die Tatsache völlig verrückt zu sein, auch dass er wie es im Fach so schön heißt, „dicke Eier“ hatte.
 
 
Kapitel 18
 
Die kühle, nächtliche Waldluft brachte Frische und Kampfgeist zurück in die beiden gezeichneten Helden. Hätten sie keine Taschenlampen und Kompass dabei, würden sie sich im tiefsten Pinienwald um Stainsview die Hacken wund laufen nur um nach einigen Stunden entgeistert festzustellen, im Kreis gelaufen zu sein.
 
„Ganz schön kalt hier draußen. Sind sie sicher, dass sie die Karte richtig herum halten, Detektive?“
 
Franklin leuchtete John bestrafend in die Augen und entgegnete ihm mit einer kalten Stimme:
 
„Also lassen sie mal sehen. Wenn ich den Plan hier richtig verstanden habe, dann ist hier ganz in der Nähe, der kleine Noteingang irgendwo. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass es nie jemanden aufgefallen ist. Das nie einer von den Stadtheinis auch nur auf die Idee gekommen ist im Archiv nach alten Plänen zu suchen um sicherzustellen jeden Eingang dicht gemacht zu haben. Wo die doch sonst immer alles für eine Beförderung tun.“
„Sie mögen die Leute aus dem Rathaus wohl nicht besonders?“
„Ach ist ne lange Geschichte, dass erzähl ich ihnen vielleicht mal wenn wir ihre kleine Freundin gefunden haben.“
 
Angela! John wurde klar, dass er all das hier nach wie vor nur für sie tat. Und dabei war er sich nicht einmal sicher ob sie seine Hilfe wollte. Vielleicht war sie mit Michael glücklich. Glücklicher als sie es jemals mit John war, oder jemals wieder sein könnte, falls sich diese Möglichkeit nicht für immer verschlossen hatte. Und doch war sein Drang ihr zu sagen, dass er sie noch immer liebte, vergötterte, der stärkste Antrieb den es geben konnte. Und dies führte ihn zu einem weiteren Problem, dass er bis zuletzt zu verdrängen versuchte. Was war nötig um sie aus Michaels Bann zu reißen? Wenn es überhaupt einen Weg gab. Und er wollte gar nicht erst daran denken, was ihm der alte Mann sagte. Daran denken, Angela töten zu müssen, nur um Michael aufzuhalten. Und während die beiden weiter durch den dunklen Wald stampften, war es John fast, als würden ihm die Bäume im rascheln des Windes antworten zuflüstern, die ihm jedoch völlig unverständlich waren.
 
„Ich glaube da vorne ist es. Sehen sie die Steine hinter dem Gebüsch? Da müsste der Eingang sein. Sind sie sicher, dass ich nicht besser den Rucksack nehmen..“
„Nein, Detektiv. Ich muss das erledigen. Haben sie ihre Waffe entsichert?“
 
Franklin umfasste mit seinen Händen kräftig die Flinte und betrachte sie mit Stolz. Er freute sich darauf, diese „alte Lady“ wie er sie nannte, endlich verwenden zu können.
 
„Ja, ich kann kaum erwarten diesem Arsch eine Ladung Blei ins Hirn zu blasen. Ach und bevor ich’s vergesse, das ist für sie. Sie wissen ja wohl wie man damit umgeht?“
 
Franklin fasste in seine Anoraktasche und zog eine kleine Pistole hervor. Und ob John wusste, wie man eine Waffe abfeuerte. Nur mit dem Zielen hatte er noch so seine Schwierigkeiten. Aber wenn alles so funktionierte wie geplant, dann gab es keinen Grund den Hahn abzudrücken. Jedenfalls nicht, solange Franklin dabei war um ihm Rückendeckung zu geben.
 
John leuchtete mit der Taschenlampe zu den dichten Sträuchern hinüber. Das Gebüsch hatte sich über die vergangen Jahrzehnte hinweg so dicht verwachsen, dass nie Jemand auf die Idee gekommen wäre, dahinter einen Eingang zu vermuten.
 
„Wenn das der einzige weitere Eingang da hinein ist, wie konnte Michael dann durch das Dichte Gebüsch kommen?“
 
John erhielt auf diese Frage sogleich eine Antwort, als er einen der Sträucher mit der Hand anfasste. Sie waren aus der Erde gerissen worden und lagen nur, ineinander verstrickt, vor den moosbedeckten Steinen. Gemeinsam mit Franklin machte er sich an die Arbeit und räumte Strauch um Strauch, Ast um Ast aus dem Weg, bis beide letztendlich, sichtlich erstaunt, vor einem großen schwarzen Loch standen.
 
Es war so weit. So unsicher zu wissen, wie es dahinter in der Dunkelheit aussah, so unsicher war auch Johns Zukunft. Was würde ihn dahinter erwarte? Würde sein waghalsiger Plan funktionieren? Voller Sorge fasste er prüfend an seinen Rucksack. Es musste funktionieren. Nicht das sein Plan sonderlich einfach war, aber für den Fall des Versagens gab es keinen Plan B. Dies war kein Spiel bei dem es nur darum ging Spaß zu haben. Gewinnen, Siegen, das war das alternativlose Ziel. Und nach all den unvorhersehbaren Ereignissen der letzten Tage und Wochen, war es berechtigt einen Erfolg in Frage zu stellen.
 
„Bereit?“
 
John blickte zu Franklin. Bereit? Konnte er bereit sein, auf das was ihn erwartet?
 
„Ja.“
„Gut. Ich gehe vor. Und sie bleiben dicht hinter mir. Wenn wir Glück haben, dann hat er uns noch nicht bemerkt. Falls das Überraschungsmoment wirklich noch auf unsere Seite liegt, dann ist heute unser Glückstag.“
 
Beide leuchteten mit ihren Taschenlampen in das dunkle Loch, dass wie das weit aufgerissene Maul einer Bestie vor ihnen klaffte. Das Schallen eines tiefen Brummens ertönte aus dem dunklen Gang, der im fahlen Licht der Lampen kein Ende erkennen ließ. Doch die beiden hatten schließlich ihre Karte dabei, die sie sicher durch die verwinkelten Schächte geleitete. Und so machten sie sich Schritt um Schritt tiefer hinein, in den „Bau der Bestie“, in die „Höhle des Löwen“. Immer mit dem leisen Verdacht, das Geräusch von Schritten hinter ihnen zu hören, die sie verfolgten.
 
 
Kapitel 19
 
Die Gänge zogen sich, wie eine Endlosigkeit und ließen Johns Erwartungen Meter um Meter schrumpfen. Mit jedem neuen Gang der sich vor ihnen auftat, sank seine Zuversicht und wich der immer größer werdenden Angst zu versagen.
 
„Verdammt, das ist das reinste Labyrinth. Die mussten sich doch jeden Tag bei der Arbeit Stundenlang verlaufen haben. Das ist irrsinnig.“
 
Franklin hatte recht. Es war Irrsinn. Zwei angeschlagenen Männer, die nutzlose Waffen in ihren kalten zittrigen Händen hielten und blind vertrauend auf eine hundert Jahre alte Karte durch die Dunkelheit irrten.
 
Doch in der Ferne wurden die Geräusche lauter und Licht war zu vernehmen. Sie hatten sich nicht verlaufen!
 
„Da vorne ist es. Sind sie wirklich sicher, dass sie das durchziehen wollen? Noch könnten wir gehen.“
 
Gehen? Nach all dem? Bekam Franklin kalte Füße? Hatte er vergessen, dass es auch für ihn einen Grund gab hier zu sein, dass es sogar zwei Gründe gab hier zu sein? Nein, dass hatte er nicht, dass konnte er nicht. Er wollte John mit dieser Frage nur auf eine männliche Art mitteilen, dass er genauso bereit war auf das was sie erwarten würde. Ebenso fest entschlossen.
 
Beim Blick auf die Karte stellen beide fest, dass der Gang hinter der nächsten Ecke in einen großen Raum mündete. Ein alter Lagerraum, der gleichzeitig als zentraler Angelpunkt in diesem Abteil diente. Die Größe des Raums war bereits auf der Karte beeindruckend. Johns Augen erblickten nach einigen Schritten die ersten Meter des Raums. Das Geräusch, dass sie aus der Ferne schon hören konnten, war nun deutlich als das Brummen eines Stromaggregats zu deuten, welches genug Energie lieferte um den Raum mit Glühbirnen auszustrahlen. Michael hatte sich also perfekt an die Gepflogenheiten der Moderne angepasst.
 
Beide schalteten die Taschenlampen aus und Franklin bewegte sich vorsichtig, die Flinte im Anschlag, um die Ecke. John klammerte seinen Griff fest um die Pistole.
 
Inmitten des, mit Kisten vollgestopften Raums, saß er. Den Rücken zu den beiden gewandt, blutend, die Haut aufgerissen. Der Unfall hatte also noch bleibenden Spuren hinterlassen. John blickte umher. Angela? Wo war sie? Auf der anderen Seite lag sie, sich lustvoll zu Michael hinräkelnd in einem alten Bett, ihr Gesicht sah mitgenommen aus. Wie eine auf Entzug gelegte Heroinabhängige, starrte sie in die leere. Was hatte er nur mit ihr angestellt? Konnte sie überhaupt noch klar denken?
 
„Angela?“
 
John rief übermütig ihren Namen. Zu lange hatte er in Ungewissheit über sie verbracht und jetzt endlich fand er sie. Tief unter der Erde.
 
„Angela?“
 
Sie zeigte keine Reaktion. War gänzlich in Michaels Bann, so wie der alte Mann es vorhergesagt hatte. Nun lag es an John sie Michael zu entreißen. Es gab nur diesen Weg. An die Alternative war nicht zu denken. Michael beugte sich zu den beiden. Er hatte sie bemerkt, und sein noch immer vom Aufprall verformtes Gesicht, ließ doch deutlich seine Wut spüren.
 
„Du! Dieses mal werde ich dich in Stücke reißen.“
 
Es kostete Michael fiel Kraft aufzustehen. Und doch, bewegte er sich mit einer Leichtigkeit, die Aufschluss über seine wahre Kraft gab.
 
„Wie ich sehe hast du diesen fetten, alten Sack mitgebracht?“
 
Mit seinem linken unverletztem Auge blickte er zu Franklin hinüber und fuhr mit einer kalten Unbekümmertheit fort.
 
„Dann werde ich euch wohl beide die Köpfe abreißen.“
 
Franklin spannte den Hahn der „alten Lady“ und drückte mit der selben Kälte, die Michaels Worte wiedergaben ab. Nun war klar weshalb Franklin so erpicht darauf war dieses Schmuckstück verwenden zu dürfen. Die Flinte war modifiziert worden, so dass sie zwei schnelle Schüsse hintereinander abgab, bevor sie erneute geladen werden musste. Die Kugeln fraßen sich durch den Bastard und so als hätte Jemand ein mit Federn gefülltes Kissen in der Luft zerrissen, flogen kleine rote Stückchen von Michaels Körper hinweg. Die Wucht der Waffe warf ihn außerdem zurück.
 
„Sieht mir eher so aus als wärst du nicht in der Verfassung hier irgendwem den Kopf abzureißen.“
 
Franklin griff in seine Jackentasche und füllte die Flinte mit frischen Patronen.
 
„Jetzt sind sie an der Reihe Mr. Rivers. Holen sie ihre kleine Freundin. Die Kugelchen hier scheinen unserem Freund zwar weh zu tun, aber der Kerl ist wie n Panzer.“
 
John war beängstigt, von Franklins Kälte und doch blieb ihm nicht die Zeit weiter darüber nachzudenken, wie Verrückt der alte Polizist war. Angela räkelte sich noch immer auf dem Bett hin und her. Er warf den Rucksack zu Boden und rannte zu ihr.
 
„Angela? Komm...“
 
John packte sie am Arm und schreckte zurück. Sie war eiskalt. Und doch glühten ihre Augen, während sie gebannt auf Michael blickte.
 
„Angela.... Angela sieh mich an.“
 
Er griff ihren Kopf, drehte ihn fest zu sich und schüttelte sie einige Male fest durch.
 
„Angela..... ich bin es...“
 
Sie sah ihn nicht einmal. Ihr Blick war leer.
 
„Michael?“
„Nein Angela... John... ich bin John....“
 
Er war sich sicher, dass sie ihn deutlich verstand, da Tränen aus ihren Augen über die blassen Wangen nach unten glitten.
 
„Angela. Komm.. ich bring dich hier weg. Nachhause....“
„Aber ich bin doch Zuhause.“
„Nein... nein Angela... du bist... was hat er mit dir gemacht.. Ich bins John. Erkennst du mich nicht mehr. Komm....“
 
Wieder sammelten sich Tränen in ihren Augen.
 
„John? Ich.....“
 
Erschreckt zuckte John zusammen, als er einen dumpfen Knall hörte. Franklin hatte ein weiteres Mal abgedrückt.
 
„Besser sie beeilen sich etwas Mr. Rivers. Die alte Lady hält ihn nicht mehr lange auf trab.“
 
John erinnerte sich wieder an die Worte des alten Mannes. Er musste einen Weg finden sie aus seinem Bann zu entreißen, ihr klar machen wie sehr er sie liebte.
 
„Angela. Ich liebe dich.“
„John?“
„Angela. Ich...“
 
Eine Stimme aus einem der Gänge unterbrach ihn.
 
„Sie hört sie nicht, Mr. Rivers.“
 
Franklin und John blickten hinüber in den Gang, aus dem ein alter tattriger Mann ins Licht schritt.
 
„Sie? Was...“
„Ich bin ihnen gefolgt. Ihnen beiden.“
„Was? Aber warum?“
„Nun, Mr. Rivers. Um zu Ende zu bringen, was ich schon zu lange mit mir herumtrage.“
„Was? Wovon reden sie?“
„Den Artikel. Sie haben den Artikel an der Wand gelesen.“
 
John erinnerte sich wieder an den alten Zeitungsausschnitt, in dem über den Mord an einer jungen Frau berichtet wurde.
 
„Sie erinnern sich wieder daran, nicht wahr? Ich habe sie geliebt. Und er hat sie mir genommen. Ich... ich war nicht fähig sie zu retten. An jenem Tag habe ich meine Augen für immer vor dieser Welt verschlossen. Welchen Sinn macht es Dinge zu sehen. Die man nicht ändern kann?“
 
John war überrascht und zugleich verängstigt.
 
„Wir sind kurz davor ihn ein für alle Mal zu vernichten. Wir haben es fast geschafft. Angela.. sehen sie? Sie ist hier. Sie ist am Leben, ich bringe sie hier raus.“
 
„Ja, Mr. Rivers. In einer Sache haben sie recht. Wir werden ihn ein für alle Mal vernichten. Aber ich werde nicht noch einmal mit ansehen, wie sich mein Fehler wiederholt. Also gehen sie mir aus dem Weg und ich bringe das alles hier zu Ende.“
 
Mit zittriger Hand zog der Mann einen kleinen Revolver aus seiner Tasche hervor und stütze sich fester auf seinen Gehstock.
 
„Gehen sie mir aus dem Weg. Ich will sie nicht verletzten.“
 
John blickte direkt in den Lauf der Waffe. Er konnte nicht glauben, was der alten Mann vorhatte. Er wurde nur benutzt. Von Anfang an.
 
„Sie wollten gar nicht, dass ich Angela rette oder? Ich war nur der Köder, habe ich recht?“
„Mr. Rivers, bitte. Es war eine Notwendigkeit sie in den letzten Tagen zu beschatten. Hätte ich ihnen die Wahrheit gesagt, was dann? Wären sie hier aufgetaucht?“
„Aber sie haben selbst gesagt, es gibt einen Weg sie zu retten. Das haben sie gesagt!“
„Ja, Mr. Rivers, das sagte ich. Aber ich war damals nicht in der Lage ihr zu helfen und sie werden jetzt nicht in der Lage sein ihrer kleinen Freundin zu helfen. Also gehen sie mir jetzt aus dem Weg.“
 
Franklin war so gebannt von der Unterhaltung, die er nicht begriff, dass er nicht bemerkte wie sich Michael in der Ecke langsam aufrichtete.
 
„Ich werde nicht aus dem Weg gehen. Wenn sie Angela töten, dann gibt es für mich keinen Grund länger zu leben. Sie ist das einzige, dass mich in den letzten Tagen davon abhielt aufzugeben.“
„Aber sie hat sie damals verlassen, haben sie das vergessen? Sie liebt sie nicht mehr.“
„Das können sie nicht wissen. Sie kennen die Gefühle eines Menschen nicht. Sehen sie sich doch an. Sie besitzen doch selbst nur noch Hass.“
 
Erbost von Johns Behauptung, knirschte der alte Mann fest mit den Zähnen.
 
„Sie haben keine Ahnung, was es bedeutet, sein ganzes Leben auf den Moment zu warten, alles ins Lot zu bringen.“
Nein, da haben sie recht. Ich kenne dieses Gefühl nicht. Ich will es nie kennen. Aber eins weiß ich...“
 
John blickte Angela tief in die Augen und für einen kurzen Moment, für den Bruchteil einer Sekunde, dachte er, sie hätte ihn angelächelt. Und es gab ihm Kraft. Ihr lächeln gab ihm immer Kraft. Und es erinnerte ihn daran, weshalb er all dies machte. Nur um sie noch ein weiteres Mal lächeln zu sehen. Dafür war er auch bereit, dass schlimmste in Kauf zu nehmen.
 
„...wenn, wenn es nötig ist zu sterben, um sie zu schützen, dann drücken sie ab. Wenn sie, mit Michael glücklich ist, wenn auch nur noch einige Monate, aber wenn er ihr das geben kann was ich nie konnte, dann werde ich nicht zulassen, dass sie stirbt.“
„Sie sind ein Narr, Mr. Rivers. Er wird sie töten. Verstehen sie das nicht. Er wird sie schwängern und dann ihr Kind und sie töten. Das ist sein einziger Antrieb.“
„Das mag sein, aber sie wird glücklich sterben. Und ich wollte immer nur, dass sie glücklich ist. Wenn.... wenn sie zu lieben bedeutet, sie gehen zu lassen, dann werde ich das tun. Dann lasse ich sie los.“
 
John blickte mit einem Lächeln zu Angela. Ein Lächeln, dass ihr zeigen sollte, wie sehr er bereit war, alles für sie zu tun.
 
Der alte Mann zielte, und kniff den Finger um den Hahn.
 
„Wenn sie dieser Meinung sind, Mr. Rivers, dann fürchte ich, dass es mir leid tut.“
 
Der alte Mann atmete tief ein und drückte ab. Ein bohrender Schmerz fraß sich in Johns Körper und doch, war es nicht schlimm, denn er sah sie. Und sie lächelte. Alles ergab Sinn, jetzt machte all dies Sinn für ihn.
 
„John? Nein..“
 
Er hatte es geschafft. Das größte Opfer das es für die Liebe gab, war das Leben, und er war bereit es aufzugeben..... für sie. Obwohl um ihn herum alles noch immer klar zu erkennen war, hatte es keine Bedeutung. Selbst die Kälte, die sich in seinem Körper ausbreitete, machte ihm nun keine Sorgen, denn er fühlte ihre Hand. Und er hörte ihre Stimme. Für ihn gab es in diesem Augenblick nichts Bedeutenderes.
 
„John. Nein.. Bleib hier... John, oh Gott bitte.”
 
Franklin war geschockt, von dem was er sah, und noch bevor er dazu in der Lage war, den alten Mann davon abzuhalten Angela zu erschießen, packte ihn etwas kräftig von hinten und warf ihn gegen die Wand.
 
Michael war zurück. Er hatte sich gesammelt. Und er genoss die verwirrende Situation sichtlich.
 
„Du hast es wieder nicht geschafft alter Narr. Ich hätte dich damals schon aus dem Weg schaffen sollen. Aber diesen Fehler mache ich kein weiteres Mal.“
 
Noch bevor der alte im Stande war ein weiteres Mal den Hahn seiner Waffe zu betätigen, spürte er einen brennenden Schmerz in seiner Brust. Er wusste was es war. Er fühlte wie sein Herzschlag langsamer wurde und er fühlte den Druck um sein Herz. Es war zu Ende. Michael zog seine Hand aus der Brust des Mannes, der sogleich zu Boden fiel.
 
„Alter Narr.“
 
Dann blickte er hinüber zu John, der fast schon regungslos auf dem Boden lag und er blickte auf Angela, die weinend vor ihm kniete und John anflehte nicht aufzugeben.
 
„Was dich angeht, John. Da hat mir dieser senile Sack wohl die Arbeit abgenommen. Angela? Komm mein Schatz.“
 
Verstört blickte sie zu Michael und dann zurück zu John. Sie war frei. Und das würde seinen Tot bedeuten und auch ihren.
 
„Nein.“
„Was? Was!?“
 
Michaels siegessicherer Blick wich Ängstlichkeit. Sein Ende war nah. Der Bann war gebrochen und dies bedeutete, der Fluch würde von ihm genommen werden. Ein unterbewusster Teil freute sich darüber und doch hielt die Bestie in ihm am Leben fest.
 
„Nein! Nein!... Ich.... Ich werde euch alle in Stücke reißen.“
 
Voller Wut ging er auf Angela zu, doch ein dumpfer Knall riss ihn nach hinten. Franklin kniete, die rauchende „alte Lady“ in den Händen in der Ecke.
 
„Du verdammter Bastard. Warum stirbst du nicht einfach.“
 
Er füllte die Patronen nach und feuerte zwei weitere Male auf ihn. Und wiederholte diese Prozedur.
 
„Verdammt, du bist ganz schön zäh.“
 
Die Ladung Blei hielt Michael noch einige Zeit in Schacht und ließ Franklin Zeit nach John zu sehen. Er beugte sich über ihn und sah zu der Schusswunde. Kopfschüttelnd sah er Angela an.
 
„Er wird’s nicht schaffen. Tut mir leid.“
 
Angela fasste Johns Hand noch fester. Sie war fest entschlossen bis zum Ende bei ihm zu bleiben.
 
„Dann bleib ich hier. Bis...“
„Nein....“
 
John hustete dieses Wort fast unverständlich zusammen mit Brocken von Blut aus seinem Mund, und drückte Angelas Hand mit letzter Kraft zusammen um ihr zu zeigen, dass es sein Ernst war.
 
„Geh. Angela, geh.“
„Nein, John. Ich lass dich nicht hier. Ich... ich bleibe hier bei dir. Das wollte ich immer, nur dich. Tu mir das nicht an, bitte.“
„Angela. Ich habe erreicht was ich wollte. Dich nur noch ein weiteres Mal zu sehen, war es wert. Geh jetzt.“
 
Ein weiteres Mal keuchte er und sein blubbernder Atem machte deutlich, dass das Loch in seiner Lunge keine Überlebenschance für ihn offen ließ.
 
„Detektiv, der Rucksack, geben sie ihn mir.“
„Sind sie sicher?“
 
Franklin kroch hinüber zu dem kleinen blauen Rucksack, griff ihn und setzte ihn vorsichtig neben John ab, der ihn mit seinen beiden Händen fest packte.
 
„Was ist da drin?“
 
Angela sah Franklin fragen an. Was war so wichtig an diesem Rucksack. John bat Franklin in aus seiner Tasche die kleine Fernbedienung zu holen.
 
„Was ist das?“
„Eine Bombe.“
„Was?“
 
Sie öffnete den Rucksack und sprang erschrocken zurück. Die Bombe, die man den Fanatikern abnahm, prangte unscheinbar darin. Das war also Johns Plan. Er wollte Michael hier unten für immer begraben. Auch wenn er den Sender erst aus sicherer Entfernung betätigen wollte. Aber es gab nun nur noch diesen Weg. Diese eine Tat bevor alles zu Ende war.
 
„Geht jetzt. Detektive bringen sie Angela hier raus.“
 
Sie blickte die beiden an.
 
„Nein. Nein. John, ich lass dich nicht hier. Ich...“
 
Langsam fasste er mit den Zeigefinger an ihren Mund um ihr zu deuten still zu sein. Sein Blick erklärte den Rest. Er war bereit für diesen letzten großen Schritt. Er war sowieso schon tot, also war es nur recht, mit einem Knall zu verschwinden.
 
„Geh, bitte. Mach... mach es nicht noch schwerer für mich, mach es nicht noch schwerer für dich. Geh einfach.“
„John. Ich will dir noch etwas sagen. Ich wollte es dir schon lange sagen. Als ich dich... ach vergiss es einfach. Ich liebe dich.“
 
Ein letztes Mal küsste sie ihn, bevor Franklin sie an beiden Armen packte und durch die Gänge mit ihr zum Ausgang lief.
 
„Beeilt euch.“
 
Fest entschlossen fuhr er mit dem Daumen über den kleinen Knopf auf der Fernbedienung. Er war nun bereit für diesen letzen Schritt. Er blickte zu Michael hinüber, der sich langsam wieder sammelte.
 
„He... fang!“
 
Er warf den Rucksack zu ihm hinüber und Michael öffnete ihn, wenn auch verstört, um neugierig hinein zu blicken. Was er allerdings sah, ließ ihn wutentbrannt aufschreien. Ein letztes Mal atmete John tief ein und schloss die Augen. Es war Zeit. Alles machte Sinn.
 
 
Epilog
 
„Kommen sie. Wir müssen hier lang.“
 
Franklin zog Angela hastig von Gang zu Gang, die Karte zitternd in den Händen haltend.
 
„Hier geht’s rechts oder warten sie mal... links?“
 
Ein lauter Aufschrei ließ die beiden zusammenzucken.
 
„Nein, rechts. Kommen sie.“
 
Sie rannten weiter und vor ihnen machte sich das Licht des Ausgangs bemerkbar. Kurz davor blieb Angela jedoch stehen und blickte zurück.
 
„Was ist los?“
„Ich kann es nicht. Ich muss zurück. Ich kann ihn nicht..“
 
Ein dumpfer lauter Knall erschütterte die Gänge und das Bersten von Stein war zu hören. Feuerwellen schallten durch das ganze Tunnelsystem und Franklin packte Angela gerade noch rechtzeitig um mit ihr durch den Ausgang nach draußen zu bringen, dicht gefolgt von einer Walze aus Flammen.
 
Beide rappelten sich auf uns starrten ungläubig zurück. Die Flammen waren verflogen und es gab keinen Zweifel mehr daran...... es war zu Ende.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.11.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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