Barbara I.

Der Ritter ohne Kopf und Tadel

für Can
 
Tim fand es immer spannend seinen Opa zu besuchen. Gewöhnlich verbrachte er zwei Wochen in den Sommerferien dort. Zwei Wochen, in denen er tun und lassen konnte, was er wollte. Den ganzen Tag in der Gegend herumstreunen und abends Opa zuhören, wie er spannende Geschichten erzählte. Geschichten von früher, als der Opa noch klein gewesen war, oder vom Krieg und der Gefangenschaft, oder Geschichten aus der Gegend.

Opa Kurt lebte in einem Dorf am Regen, dem Fluß. Das Haus, das er bewohnte, war schon viele hundert Jahre älter als er selbst. Und natürlich gab es auch eine Geschichte über dieses Haus. Diese Geschichte mochte Tim am liebsten. Obwohl er sich danach gar nicht allein nach oben ins Bett traute, weil sie so gruselig war. Opa mußte dann mitgehen und warten, bis er eingeschlafen war. Aber am nächsten Abend rief Tim dann regelmäßig: „Erzähl noch einmal, Opa. Wie war das, als der Burgherr sich verstecken mußte?“
Ja, wie war das gewesen?

Es war so:
Vor langer, langer Zeit stand auf dem Hügel hinter dem Dorf eine Ritterburg. Jetzt war sie längst verfallen, aber man konnte noch gut erkennen, daß sie groß gewesen war und daß viele Menschen dort gelebt hatten. Die Besitzer der Burg waren für die Sicherheit der Menschen, die in ihr lebten und für die in den umliegenden Dörfern verantwortlich. In Zeiten, in denen wilde Räuberbanden durch das Land zogen, war das ein notwendiger Schutz.

Es gab nun einmal einen Burgherren, den die Menschen besonders schätzten, den Ritter Hartmut. Er war ein großer, ernster Mann, der kaum jemals lachte. Doch wenn er es tat, dann so laut, daß man es bis ins Dorf hinunter hören konnte. Wenn er einen mit seinen dunklen Augen ansah, so konnte man leicht das Gefühl bekommen, der Blick würde durch einen hindurch gehen und einen an die nächste Wand nageln.
Und diesen Mann schätzten die Menschen?

Ja, hör nur zu: Es waren seine Handlungen, mit denen die Menschen sehr einverstanden waren. Er nahm sie ernst. Alle miteinander und jeden einzelnen. Er hörte ihnen zu, mit welchen Anliegen sie auch immer zu ihm kamen. Da, wo es nötig war, half er sofort. Da wo es unnötig war, mischte er sich nicht ein. Er hatte ein gutes Gespür dafür, was nötig und unnötig war.

Es war ein gutes Leben in der Burg und den umliegenden Dörfern solange der Ritter Hartmut lebte. Das sah man den Menschen an. Sie hatten genug zu essen, waren ordentlich gekleidet und meistens guter Laune. Ihre Häuser waren in Ordnung. Die Felder wohlbestellt.

Und genau dies brachte ihm den Neid seiner Nachbarn ein, bei denen es nicht so gut aussah. Zwei Ritter, Egbert und Alfons, taten sich sogar zusammen und begannen mit Überfällen auf die Dörfer des Ritter Hartmut. Es kam zu einigen Kämpfen. Es gab Verwundete und Tote auf beiden Seiten. Doch schließlich wurden die Eindringlinge verjagt.

Das schürte ihren Haß erneut. Egbert und Alfons verstanden, daß sie nichts ausrichten konnten, solange Hartmut lebte. Sie begannen ihn zu beobachten. In seiner Burg konnten sie ihm ja nichts anhaben. Aber sie fanden heraus, daß er manchmal unten im Dorf am Regen bei einem Freund übernachtete. Der Freund lebte genau in dem Haus, das nun Tims Opa gehörte.

Eines Mittags sahen nun die Kundschafter von Egbert und Alfons, daß eine große Holzkiste mit schweren Metallbeschlägen von der Burg zu diesem Haus getragen wurde. Sie hörten auch, daß Hartmut später selbst hinunterkommen wollte. Dies berichteten sie ihren Herren.

Egbert und Alfons machten einen Plan. Sie wollten Hartmut nachts dort in diesem Haus töten. Zunächst wollte ihnen das nicht gelingen, denn das Haus war fest verschlossen. Dann aber kam ihnen ein Zufall zur Hilfe. Hartmut machte sich am frühen Morgen, noch bei Dunkelheit auf den Heimweg. Auf seinem Ritt durch den Wald brachten sie ihn durch einen Schuß zu Fall und schlugen ihm den Kopf ab.

Die Leute, die später nach ihm suchten, fanden nur seinen Leib, der Kopf blieb verschwunden. Und verschwunden blieb auch die schwere Holzkiste.

Hier kam die Stelle, die Tim ganz besonders gruselig fand und auf die er schon die ganze Zeit vorher gewartet hatte.

„In der Kiste soll sich ein Schatz befunden haben.“ sagte der Opa. „Denn unser Hartmut hat wohl gewußt, daß man ihm ans Leben wollte. So hat er seine Reichtümer zunächst zu seinem Freund gebracht und wollte später damit fliehen. Was ihm wohl eingefallen sein mag, daß er noch einmal in die Burg zurück geritten ist?“
Dann wurde Opas Stimme leise und geheimnisvoll. „Einige Zeit danach und durch viele Jahrhunderte hindurch, sah man ihn noch zwei oder dreimal im Jahr durch das Dorf gehen. In der Morgendämmerung. Auf der Suche nach seinem Schatz. Er kam den Hügel herunter, ging den Weg an der Kirche vorbei auf unser Haus zu und klopfte heftig ans Tor.

Niemand machte ihm auf. Alle verkrochen sich unter ihren Bettdecken. Schlimm genug, daß er als Geist kam. Schlimmer noch: ... er kam ohne Kopf!“

Tim starrte den Opa mit offenem Mund an. Und jedesmal fragte er: „Hast Du ihn auch einmal gesehen?“

„Nein.“ sagte Opa Kurt. „Das sind alles Märchen aus vergangenen Tagen. Kein Mensch heutzutage glaubt noch an so etwas. Selbst als ich klein war, wußten wir, daß Geistergeschichten zu nichts anderem gut sind, als andere damit zu erschrecken.“

„Aber wenn er doch noch einmal kommt?“ fragte Tim.

„Dann frage ich ihn, was er eigentlich will.“ sagte der Opa stirnrunzelnd. Er tat dabei so, als sei er furchtbar mutig. Tim wußte nicht, ob er ihm das glauben sollte.

„So, für Dich ist es Zeit, ins Bett zu gehen.“ schnitt Opa seine Gedanken ab.

Und natürlich mußte er auch diesmal mit Tim nach oben gehen und warten, bis Tim eingeschlafen war.

„Wo hat der Ritter geschlafen?“ fragte Tim, schon halb im Traum.

„Das hier war schon immer das Gästezimmer.“ hörte er Opa noch sagen. „Es stand wohl damals ein anderes Bett darin. Aber in diesem Zimmer, in dem Du jetzt schläfst, schliefen von Anfang an die besonderen Freunde des Hausherren.“

Tim lächelte zufrieden.

Er schlief tief und traumlos. Doch am nächsten Morgen erwachte er, noch ehe die Sonne aufgegangen war.

„Das muß die Stunde sein, in der Hartmut aufgebrochen ist.“ dachte Tim. „Mal sehen, wie das war.“ Er zog sich leise an, huschte die Treppe hinunter und öffnete die Haustüre. Doch wie erschrak er, als vor ihm eine riesige, breite Gestalt stand. Die Faust, die sich ihm entgegenstreckte, hatte gerade an die Tür schlagen wollen. Tim duckte sich, damit sie ihn nicht träfe. Dann sah er schlotternd vor Angst nach oben. Tatsächlich, da war er. Das heißt, da war er nicht – der Kopf.

Die Faust merkte, daß da keine Tür war, wo sonst immer eine gestanden hatte. Der Ritter ging einen Schritt nach vorne und stieß dabei an Tim. Tim hatte immer gedacht, ein Geist müsse sich eisig anfühlen, oder einfach nach nichts. Aber dies hier war viel schrecklicher. Es war, als hätte er einen echten Menschen vor sich.
Ehe Tim aufstehen und fortlaufen konnte, hatte die Faust sich zur Hand geöffnet und nach ihm getastet. Die Hand legte sich auf seine Schulter. Die zweite Hand kam nach und zog ihn hoch. Ganz behutsam.
Dann schoben ihn beide Hände weiter in den Hausflur hinein. Tim konnte nicht aufhören zu zittern. Es war ihm schrecklich zumute. Wie hatte Opa gesagt? Er würde den Ritter einfach fragen, was der hier wolle.
Tim nahm allen Mut zusammen.

„Laß mich los!“ sagte er trotzig. „Dein Schatz ist nicht mehr hier.“

Aber womit hätte der Ritter das hören können? Er hatte ja weder Kopf noch Ohren.

Tim wurde in Richtung Keller geschoben. Als er das bemerkte, kam er auf einen anderen Gedanken. Vielleicht wußte der Ritter, wo der Schatz versteckt war. Vielleicht brauchte er ihn, damit er ihn finden konnte.

Tim ging bereitwillig vor dem Ritter her. Er paßte sogar auf, daß der auf der Kellertreppe nicht stolperte. Er holte den Schlüssel vom Haken und sperrte das Schloß auf. Er knipste das Licht an. Sie gingen durch einen Raum, durch einen zweiten. Schließlich kamen sie in den, den Opa die Rumpelkammer nannte, weil dort das Gerümpel vieler Jahrhunderte, das niemand mehr brauchte, einfach hineingeworfen worden war.

Der Ritter ohne Kopf ließ Tim stehen und begann, sich durch den Raum zu tasten. Er stellte Bretter und Geräte zur Seite, öffnete Truhen und schloß sie wieder. Tim sah ihm verständnislos zu. Es mußte etwas Kleines sein, das er suchte. Eine große Schatzkiste konnte doch nicht in einer Truhe versteckt sein.

Schließlich, ziemlich weit hinten im Raum, als der Ritter schon über und über mit Staub bedeckt war, bückte er sich und hob etwas Rundes hoch. Zunächst dachte Tim, es sei ein Fußball. Aber warum sollte man einen Fußball in ein Tuch eingewickelt haben?

Der Ritter wickelte den Gegenstand aus. Tim schrie auf und sah schnell weg. Ein Totenkopf hatte ihn direkt angesehen. Er wäre am liebsten davongelaufen.

„Ah,“ machte da eine donnernde Stimme neben ihm. „Das tut gut!“ Dann fragte die Stimme weiter: „Wo ist nun mein kleiner hilfreicher Freund?“

Das war so nett gesagt, daß Tim unwillkürlich doch wieder auf den Ritter sah. Den Ritter mit Kopf diesmal. Und der Kopf hatte Fleisch auf den Knochen, Haut darüber, schwarze Haare, einen struppigen Bart und Augen mit einem so stechenden Blick, daß Tim meinte, er würde durch ihn hindurchgehen und an die Wand nageln.

„Hier bist du.“ sagte der Ritter zufrieden. Er ließ sich einfach neben Tim auf die Holzkiste fallen. „Es war höchste Zeit, daß sich mal jemand meiner angenommen hat. Ich habe genug davon, kopflos durch die Gegend zu laufen. Wo wart Ihr Schlafmützen nur alle?“

„Sie waren schon da.“ meinte Tim. „Aber Angst hatten sie eben.“

„Ja, Angst,“ sagte der Ritter, „die hat man schon mal. Da kann ich mich erinnern. Aber das man darüber vergessen kann, einem anderen beizustehen? Nein, nein. Es muß viel Zeit vergangen sein. Viel muß sich geändert haben.“

„Immerhin habe ich dir geholfen. Auch, wenn jetzt eine andere Zeit ist.“ bemerkte Tim ein wenig ärgerlich. Er dachte, er hätte sich doch sehr mutig verhalten.

Der Ritter lachte sein dröhnendes Lachen und schlug ihm dabei auf die Schulter, daß Tim erschrocken zusammenzuckte.

„Da hast du recht, kleiner Freund, da hast du ganz recht.“

„Hör mal.“ sagte Tim. „Soll ich dir nicht noch helfen, deinen Schatz zu suchen?“

„Welchen Schatz?“ wollte der Ritter verblüfft wissen.

„Nun, die Kiste, die du deinem Freund gebracht hast.“

Da lachte der Ritter noch lauter, so laut, daß Tim sich die Ohren zuhielt.

„Das erzählt man sich also.“ meinte Hartmut schließlich, als er sich beruhigt hatte. „Meinen Kopf wollte ich wieder haben, verstehst du! Kopflos taugt man hier nichts und in der anderen Welt auch nicht.
Die Kiste? Da war wohl ein Schatz drin. Bücher, die ich meinem Freund zum Geschenk machte. Sie war nicht sehr groß.“ Er sah sich um. „Da hinten steht sie. Willst du hineinsehen?“

Tim hatte in der Schule gelernt, daß Bücher in früheren Zeiten etwas unerhört Kostbares gewesen waren. Als der Ritter gelebt hatte, wurden sie noch Buchstabe für Buchstabe abgeschrieben. Tim ging zu der Kiste und öffnete sie. Aber sie war leer.

„Dann wolltest du nicht fliehen?“ fragte er den Ritter.

„Vor wem denn? Vor Egbert und Alfons vielleicht?“ Hartmut lachte verächtlich.

„Was wolltest du dann so früh auf der Burg?“

„Nun, ich war wach und hatte keine Lust liegen zu bleiben. Ist das so ungewöhnlich?“

Tim schüttelte den Kopf. Es war ihm ja heute genauso gegangen.

„Jetzt wirst du wohl nicht mehr wiederkommen?“

„Jetzt habe ich endlich Ruhe.“ bestätigte der Ritter. „Ich danke dir, ... Wie heißt du eigentlich?“

„Tim.“ sagte Tim und es klang ein kleines bißchen traurig.

„Ich danke dir, Tim.“

„Tim!“ rief da eine Stimme von der Kellertreppe aus. „Tim! Was machst du da unten. Komm hier rauf. Das Frühstück ist fertig.“

„Opa Kurt.“ erklärte Tim leise. Er sah den Ritter immer noch traurig an. „Er glaubt nicht daran, daß es dich gibt.“

Der Ritter grinste ihm verschwörerisch zu.

„Komm.“ sagte er.

Und dann gingen die beiden, den Weg durch die Kellerräume, den sie gekommen waren, wieder zurück.
Der Opa glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er hinter Tim noch jemanden die Kellertreppe heraufkommen sah. Einen großen Mann, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Jedes Wort blieb ihm im Hals stecken.

„Gratulation, Meister Kurt.“ sagte der Mann mit dröhnender Stimme. „Du hast einen wackeren Enkel. Gib’ gut auf ihn acht!“

Ja, und dann, war der Mann auf einmal verschwunden.

„Was war das?“ fragte der Opa heiser, als er seine Sprache wiederfand.

„Tja, Opa.“ sagte Tim. „Das war der Ritter Hartmut. Und heute abend erzähle ich dir eine gruselige Geschichte. Und wenn ich dich danach ins Bett bringen muß, dann mache ich das glatt!“
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.11.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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