für Can
Tim fand es immer spannend seinen
Opa zu besuchen. Gewöhnlich verbrachte er zwei Wochen in den Sommerferien dort.
Zwei Wochen, in denen er tun und lassen konnte, was er wollte. Den ganzen Tag
in der Gegend herumstreunen und abends Opa zuhören, wie er spannende
Geschichten erzählte. Geschichten von früher, als der Opa noch klein gewesen
war, oder vom Krieg und der Gefangenschaft, oder Geschichten aus der Gegend.
Opa Kurt lebte in einem Dorf am
Regen, dem Fluß. Das Haus, das er bewohnte, war schon viele hundert Jahre älter
als er selbst. Und natürlich gab es auch eine Geschichte über dieses Haus.
Diese Geschichte mochte Tim am liebsten. Obwohl er sich danach gar nicht allein
nach oben ins Bett traute, weil sie so gruselig war. Opa mußte dann mitgehen
und warten, bis er eingeschlafen war. Aber am nächsten Abend rief Tim dann
regelmäßig: „Erzähl noch einmal, Opa. Wie war das, als der Burgherr sich
verstecken mußte?“
Ja, wie war das gewesen?
Es war so:
Vor langer, langer Zeit stand auf
dem Hügel hinter dem Dorf eine Ritterburg. Jetzt war sie längst verfallen, aber
man konnte noch gut erkennen, daß sie groß gewesen war und daß viele Menschen
dort gelebt hatten. Die Besitzer der Burg waren für die Sicherheit der
Menschen, die in ihr lebten und für die in den umliegenden Dörfern
verantwortlich. In Zeiten, in denen wilde Räuberbanden durch das Land zogen,
war das ein notwendiger Schutz.
Es gab nun einmal einen
Burgherren, den die Menschen besonders schätzten, den Ritter Hartmut. Er war
ein großer, ernster Mann, der kaum jemals lachte. Doch wenn er es tat, dann so
laut, daß man es bis ins Dorf hinunter hören konnte. Wenn er einen mit seinen
dunklen Augen ansah, so konnte man leicht das Gefühl bekommen, der Blick würde
durch einen hindurch gehen und einen an die nächste Wand nageln.
Und diesen Mann schätzten die
Menschen?
Ja, hör nur zu: Es waren seine
Handlungen, mit denen die Menschen sehr einverstanden waren. Er nahm sie ernst.
Alle miteinander und jeden einzelnen. Er hörte ihnen zu, mit welchen Anliegen
sie auch immer zu ihm kamen. Da, wo es nötig war, half er sofort. Da wo es
unnötig war, mischte er sich nicht ein. Er hatte ein gutes Gespür dafür, was
nötig und unnötig war.
Es war ein gutes Leben in der
Burg und den umliegenden Dörfern solange der Ritter Hartmut lebte. Das sah man
den Menschen an. Sie hatten genug zu essen, waren ordentlich gekleidet und
meistens guter Laune. Ihre Häuser waren in Ordnung. Die Felder wohlbestellt.
Und genau dies brachte ihm den
Neid seiner Nachbarn ein, bei denen es nicht so gut aussah. Zwei Ritter, Egbert
und Alfons, taten sich sogar zusammen und begannen mit Überfällen auf die
Dörfer des Ritter Hartmut. Es kam zu einigen Kämpfen. Es gab Verwundete und
Tote auf beiden Seiten. Doch schließlich wurden die Eindringlinge verjagt.
Das schürte ihren Haß erneut.
Egbert und Alfons verstanden, daß sie nichts ausrichten konnten, solange
Hartmut lebte. Sie begannen ihn zu beobachten. In seiner Burg konnten sie ihm
ja nichts anhaben. Aber sie fanden heraus, daß er manchmal unten im Dorf am
Regen bei einem Freund übernachtete. Der Freund lebte genau in dem Haus, das
nun Tims Opa gehörte.
Eines Mittags sahen nun die
Kundschafter von Egbert und Alfons, daß eine große Holzkiste mit schweren
Metallbeschlägen von der Burg zu diesem Haus getragen wurde. Sie hörten auch,
daß Hartmut später selbst hinunterkommen wollte. Dies berichteten sie ihren
Herren.
Egbert und Alfons machten einen
Plan. Sie wollten Hartmut nachts dort in diesem Haus töten. Zunächst wollte
ihnen das nicht gelingen, denn das Haus war fest verschlossen. Dann aber kam
ihnen ein Zufall zur Hilfe. Hartmut machte sich am frühen Morgen, noch bei
Dunkelheit auf den Heimweg. Auf seinem Ritt durch den Wald brachten sie ihn
durch einen Schuß zu Fall und schlugen ihm den Kopf ab.
Die Leute, die später nach ihm
suchten, fanden nur seinen Leib, der Kopf blieb verschwunden. Und verschwunden
blieb auch die schwere Holzkiste.
Hier kam die Stelle, die Tim ganz
besonders gruselig fand und auf die er schon die ganze Zeit vorher gewartet
hatte.
„In der Kiste soll sich ein
Schatz befunden haben.“ sagte der Opa. „Denn unser Hartmut hat wohl gewußt, daß
man ihm ans Leben wollte. So hat er seine Reichtümer zunächst zu seinem Freund
gebracht und wollte später damit fliehen. Was ihm wohl eingefallen sein mag,
daß er noch einmal in die Burg zurück geritten ist?“
Dann wurde Opas Stimme leise und
geheimnisvoll. „Einige Zeit danach und durch viele Jahrhunderte hindurch, sah
man ihn noch zwei oder dreimal im Jahr durch das Dorf gehen. In der
Morgendämmerung. Auf der Suche nach seinem Schatz. Er kam den Hügel herunter,
ging den Weg an der Kirche vorbei auf unser Haus zu und klopfte heftig ans Tor.
Niemand machte ihm auf. Alle
verkrochen sich unter ihren Bettdecken. Schlimm genug, daß er als Geist kam.
Schlimmer noch: ... er kam ohne Kopf!“
Tim starrte den Opa mit offenem
Mund an. Und jedesmal fragte er: „Hast Du ihn auch einmal gesehen?“
„Nein.“ sagte Opa Kurt. „Das sind
alles Märchen aus vergangenen Tagen. Kein Mensch heutzutage glaubt noch an so
etwas. Selbst als ich klein war, wußten wir, daß Geistergeschichten zu nichts
anderem gut sind, als andere damit zu erschrecken.“
„Aber wenn er doch noch einmal
kommt?“ fragte Tim.
„Dann frage ich ihn, was er
eigentlich will.“ sagte der Opa stirnrunzelnd. Er tat dabei so, als sei er
furchtbar mutig. Tim wußte nicht, ob er ihm das glauben sollte.
„So, für Dich ist es Zeit, ins
Bett zu gehen.“ schnitt Opa seine Gedanken ab.
Und natürlich mußte er auch
diesmal mit Tim nach oben gehen und warten, bis Tim eingeschlafen war.
„Wo hat der Ritter geschlafen?“
fragte Tim, schon halb im Traum.
„Das hier war schon immer das
Gästezimmer.“ hörte er Opa noch sagen. „Es stand wohl damals ein anderes Bett
darin. Aber in diesem Zimmer, in dem Du jetzt schläfst, schliefen von Anfang an
die besonderen Freunde des Hausherren.“
Tim lächelte zufrieden.
Er schlief tief und traumlos.
Doch am nächsten Morgen erwachte er, noch ehe die Sonne aufgegangen war.
„Das muß die Stunde sein, in der
Hartmut aufgebrochen ist.“ dachte Tim. „Mal sehen, wie das war.“ Er zog sich
leise an, huschte die Treppe hinunter und öffnete die Haustüre. Doch wie
erschrak er, als vor ihm eine riesige, breite Gestalt stand. Die Faust, die
sich ihm entgegenstreckte, hatte gerade an die Tür schlagen wollen. Tim duckte
sich, damit sie ihn nicht träfe. Dann sah er schlotternd vor Angst nach oben.
Tatsächlich, da war er. Das heißt, da war er nicht – der Kopf.
Die Faust merkte, daß da keine
Tür war, wo sonst immer eine gestanden hatte. Der Ritter ging einen Schritt
nach vorne und stieß dabei an Tim. Tim hatte immer gedacht, ein Geist müsse
sich eisig anfühlen, oder einfach nach nichts. Aber dies hier war viel
schrecklicher. Es war, als hätte er einen echten Menschen vor sich.
Ehe Tim aufstehen und fortlaufen
konnte, hatte die Faust sich zur Hand geöffnet und nach ihm getastet. Die Hand
legte sich auf seine Schulter. Die zweite Hand kam nach und zog ihn hoch. Ganz
behutsam.
Dann schoben ihn beide Hände
weiter in den Hausflur hinein. Tim konnte nicht aufhören zu zittern. Es war ihm
schrecklich zumute. Wie hatte Opa gesagt? Er würde den Ritter einfach fragen, was
der hier wolle.
Tim nahm allen Mut zusammen.
„Laß mich los!“ sagte er trotzig.
„Dein Schatz ist nicht mehr hier.“
Aber womit hätte der Ritter das
hören können? Er hatte ja weder Kopf noch Ohren.
Tim wurde in Richtung Keller
geschoben. Als er das bemerkte, kam er auf einen anderen Gedanken. Vielleicht
wußte der Ritter, wo der Schatz versteckt war. Vielleicht brauchte er ihn,
damit er ihn finden konnte.
Tim ging bereitwillig vor dem
Ritter her. Er paßte sogar auf, daß der auf der Kellertreppe nicht stolperte.
Er holte den Schlüssel vom Haken und sperrte das Schloß auf. Er knipste das
Licht an. Sie gingen durch einen Raum, durch einen zweiten. Schließlich kamen
sie in den, den Opa die Rumpelkammer nannte, weil dort das Gerümpel vieler
Jahrhunderte, das niemand mehr brauchte, einfach hineingeworfen worden war.
Der Ritter ohne Kopf ließ Tim
stehen und begann, sich durch den Raum zu tasten. Er stellte Bretter und Geräte
zur Seite, öffnete Truhen und schloß sie wieder. Tim sah ihm verständnislos zu.
Es mußte etwas Kleines sein, das er suchte. Eine große Schatzkiste konnte doch
nicht in einer Truhe versteckt sein.
Schließlich, ziemlich weit hinten
im Raum, als der Ritter schon über und über mit Staub bedeckt war, bückte er
sich und hob etwas Rundes hoch. Zunächst dachte Tim, es sei ein Fußball. Aber
warum sollte man einen Fußball in ein Tuch eingewickelt haben?
Der Ritter wickelte den
Gegenstand aus. Tim schrie auf und sah schnell weg. Ein Totenkopf hatte ihn
direkt angesehen. Er wäre am liebsten davongelaufen.
„Ah,“ machte da eine donnernde
Stimme neben ihm. „Das tut gut!“ Dann fragte die Stimme weiter: „Wo ist nun
mein kleiner hilfreicher Freund?“
Das war so nett gesagt, daß Tim
unwillkürlich doch wieder auf den Ritter sah. Den Ritter mit Kopf diesmal. Und
der Kopf hatte Fleisch auf den Knochen, Haut darüber, schwarze Haare, einen
struppigen Bart und Augen mit einem so stechenden Blick, daß Tim meinte, er
würde durch ihn hindurchgehen und an die Wand nageln.
„Hier bist du.“ sagte der Ritter
zufrieden. Er ließ sich einfach neben Tim auf die Holzkiste fallen. „Es war
höchste Zeit, daß sich mal jemand meiner angenommen hat. Ich habe genug davon,
kopflos durch die Gegend zu laufen. Wo wart Ihr Schlafmützen nur alle?“
„Sie waren schon da.“ meinte Tim.
„Aber Angst hatten sie eben.“
„Ja, Angst,“ sagte der Ritter,
„die hat man schon mal. Da kann ich mich erinnern. Aber das man darüber
vergessen kann, einem anderen beizustehen? Nein, nein. Es muß viel Zeit
vergangen sein. Viel muß sich geändert haben.“
„Immerhin habe ich dir geholfen.
Auch, wenn jetzt eine andere Zeit ist.“ bemerkte Tim ein wenig ärgerlich. Er
dachte, er hätte sich doch sehr mutig verhalten.
Der Ritter lachte sein dröhnendes
Lachen und schlug ihm dabei auf die Schulter, daß Tim erschrocken
zusammenzuckte.
„Da hast du recht, kleiner
Freund, da hast du ganz recht.“
„Hör mal.“ sagte Tim. „Soll ich
dir nicht noch helfen, deinen Schatz zu suchen?“
„Welchen Schatz?“ wollte der
Ritter verblüfft wissen.
„Nun, die Kiste, die du deinem
Freund gebracht hast.“
Da lachte der Ritter noch lauter,
so laut, daß Tim sich die Ohren zuhielt.
„Das erzählt man sich also.“
meinte Hartmut schließlich, als er sich beruhigt hatte. „Meinen Kopf wollte ich
wieder haben, verstehst du! Kopflos taugt man hier nichts und in der anderen
Welt auch nicht.
Die Kiste? Da war wohl ein Schatz
drin. Bücher, die ich meinem Freund zum Geschenk machte. Sie war nicht sehr
groß.“ Er sah sich um. „Da hinten steht sie. Willst du hineinsehen?“
Tim hatte in der Schule gelernt,
daß Bücher in früheren Zeiten etwas unerhört Kostbares gewesen waren. Als der
Ritter gelebt hatte, wurden sie noch Buchstabe für Buchstabe abgeschrieben. Tim ging zu der Kiste und öffnete
sie. Aber sie war leer.
„Dann wolltest du nicht fliehen?“
fragte er den Ritter.
„Vor wem denn? Vor Egbert und
Alfons vielleicht?“ Hartmut lachte verächtlich.
„Was wolltest du dann so früh auf
der Burg?“
„Nun, ich war wach und hatte
keine Lust liegen zu bleiben. Ist das so ungewöhnlich?“
Tim schüttelte den Kopf. Es war
ihm ja heute genauso gegangen.
„Jetzt wirst du wohl nicht mehr
wiederkommen?“
„Jetzt habe ich endlich Ruhe.“
bestätigte der Ritter. „Ich danke dir, ... Wie heißt du eigentlich?“
„Tim.“ sagte Tim und es klang ein
kleines bißchen traurig.
„Ich danke dir, Tim.“
„Tim!“ rief da eine Stimme von
der Kellertreppe aus. „Tim! Was machst du da unten. Komm hier rauf. Das
Frühstück ist fertig.“
„Opa Kurt.“ erklärte Tim leise.
Er sah den Ritter immer noch traurig an. „Er glaubt nicht daran, daß es dich
gibt.“
Der Ritter grinste ihm
verschwörerisch zu.
„Komm.“ sagte er.
Und dann gingen die beiden, den
Weg durch die Kellerräume, den sie gekommen waren, wieder zurück.
Der Opa glaubte seinen Augen
nicht zu trauen, als er hinter Tim noch jemanden die Kellertreppe heraufkommen
sah. Einen großen Mann, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Jedes Wort blieb ihm im Hals
stecken.
„Gratulation, Meister Kurt.“
sagte der Mann mit dröhnender Stimme. „Du hast einen wackeren Enkel. Gib’ gut
auf ihn acht!“
Ja, und dann, war der Mann auf
einmal verschwunden.
„Was war das?“ fragte der Opa
heiser, als er seine Sprache wiederfand.
„Tja, Opa.“ sagte Tim. „Das war
der Ritter Hartmut. Und heute abend erzähle ich dir eine gruselige Geschichte.
Und wenn ich dich danach ins Bett bringen muß, dann mache ich das glatt!“