Florence Siwak
Auch zum Selbstmord braucht man Ruhe
Zum dritten Mal schon legte Johanna die Tabletten, die ihr
rüberhelfen sollten - in eine bessere Zukunft, in Reih und Glied vor
sich auf den Tisch.
Sie glättete das perfekt gebügelte Tischtuch und begann Stirn runzelnd erneut laut zu zählen.
Sie
hatte sich diese einseitige Art der Unterhaltung angewöhnt; sie hörte
sonst ihre Stimme oft tagelang nicht. Die wenigen Möglichkeiten zum
Austausch einiger belangloser Bemerkungen schränkten sich auf kurze
Begegnungen mit zwei oder drei Nachbarn und einem Besuch bei Frau
Hötger, einer Bekannten im Nebenhaus.
Als Höhepunkte betrachtete sie die Gelegenheiten, bei denen ihr die 10-jährige Jenny Würz bei ihren Einkäufen behilflich war.
Mit ihrem direkten Nachbarn, einem alten Herrn, war der Kontakt so ziemlich eingeschlafen.
Wenn
sie bei ihm klingelte, dauerte es so lange, bis er zur Tür kam, dass
sie nicht mehr stehen konnte und zurück in ihre Wohnung musste.
"Gerade mal 60 und schon ein Wrack" seufzte sie.
Rheuma, Asthma und vieles mehr hatten Spuren an ihrem schmächtigen Körper hinterlassen.
Die Krankheiten und ebenso die Medikmente.
"Andere
Frauen" sinnierte sie weiter, "werden von ihren Männern und Kindern
geschädigt. Ich brauche dazu gar keinen anderen; mache ich ganz
alleine."
Sie zählte weiter und kam auf insgesamt 14 Tabletten.
"6 Diazeparm, 5..."
"Das sollte reichen".
Sie rieb sich die Knie und stemmte sich vom Stuhl hoch, um nun doch die Balkontür zu schließen.
Der
Lärm aus der unteren Wohnung war heute besonders heftig. Und das
einzige jüngere Paar in dem alten Haus wohnte direkt über ihr und ließ
sie diese Tatsache kaum mal vergessen.
"Wie
soll man sich auf so etwas Elementares konzentrieren wie seinen eigenen
Tod, wenn ein Banause wie Würz da unten mit seinem kleinen Mädchen
schreit und die da oben sich die Seele aus dem Leib ..."
Das letzte, das schlimme Wort sprach sie nicht aus.
Ihre Mutter hatte sie so erzogen, dass sie nicht einmal Männerunterhosen neben ihr Nachthemd auf die Leine gehängt hätte.
Noch einmal kontrollierte Johanna die Räume ihrer kleinen blitzsauberen Wohnung, bevor sie sich auf ihre letzte Reise machte.
"Küche? Alles abgewaschen. Herd ist sauber. Die Backröhre? Auch in Ordnung!"
Sie
ging ins Bad und prüfte die Toilettenschüssel. Sogar den Wasserstein
hatte sie am Vorabend noch entfernt und auch ihre gesamte Wäsche
gewaschen, um sie am Morgen bügeln zu können.
"Man will sich ja nichts nachsagen lassen" ächzte sie, als sie sich bückte, um den Wäschekorb auszuwischen.
Dann legte sie ihr bestes Kleid heraus und ihre neue Garnitur Unterwäsche; champagnerfarben mit Spitze.
"Man soll sich ja einmachen. Peinlich, aber nicht zu ändern."
Sie ließ ihren Blick durch das Schlafzimmer mit dem schmalen Bett schweifen, das sie frisch bezogen hatte.
"Nein, ich mache es doch auf der Couch. Die taugt sowieso nicht mehr viel und um die neue Matratze wäre es schade."
Ordentlich breitete sie eine Wolldecke auf der Couch aus.
Dann
ging sie langsam zur Wohnungstür und entriegelte sie, damit die
Feuerwehr sie nicht eintreten musste. Frau Hötger hatte einen
Wohnungsschlüssel. Aber wie sollte sie das mitteilen? Sie schüttelte
den Kopf.
"Soll nicht mein Problem sein."
Das
Überleben bis hierher war ihr schwer genug gefallen. Der tägliche
mühsame Kampf um die Kleinigkeiten, die sich vor ihr aufgebaut hatten
wie unbezwingbare Berge.
Johanna atmete tief durch. Bald wäre es ja vorbei.
Dann
fiel ihr ein, dass ja Jenny sie vielleicht finden würde, wenn sie in
einigen Tagen vorbei käme. Das durfte natürlich nicht sein.
"Wenn ich heute einen Brief an Frau Hötger schreibe, bekommt sie ihn übermorgen; dann kann sie ja die Feuerwehr benachrichtigen.
Ja - so mache ich es!"
Entschlossen
schrieb sie ein paar Zeilen an ihre alte Bekannte, verschloss und
frankierte den Umschlag und legte ihn neben ihre kleinen Freunde, die
Tabletten.
"Muss ich also doch noch mal raus."
Unruhig lauschte sie auf die Geräusche, die von unten zu ihr herauf drangen.
Was machte der Kerl da unten bloß? So laut war es bisher noch nie gewesen.
Sie
wusste, dass er das Kind schlug. Nicht zu fest, gerade so, dass das
Jugendamt und die Schule nichts Auffälliges feststellen konnten. Und
die Kleine? Die war seit dem Tod der Mutter vor einem Jahr immer
stiller und schmaler geworden.
Johanna wusste, dass die sehr
viel ältere Schwester der Mutter Jenny zu sich nehmen würde, aber das
Jugendamt hatt in Person der Fürsorgerin die Achseln gezuckt und so
waren ihr die Hände gebunden.
Sie hatte auch für einen kranken Mann zu sorgen und wäre vielleicht gar nicht so begeistert über Familienzuwachs.
Aber jedenfalls würde sie das tun, was sie ihre Christenpflicht nannte, hatte sie ihr - Johanna - einmal anvertraut, als sie sich über Jennys Zukunft unterhalten hatten.
Na ja - erst mal musste der Brief weg.
Sie
zog ihren Manten über und nahm vorsichtig die 4 Treppen mit den hohen
ausgetretenen Stufen in Angriff. Vor der Wohnungstür der Familie Würz
machte sie kurz Halt und lauschte.
Jenny weinte bitterlich; ihr Vater lallte vor sich hin.
Johanna
konnte nicht alles verstehen, aber sie hörte, dass er wieder vorhatte,
den Wirt zwei Straßen weiter ein Stück reicher zu machen, aber für
Jennys Klassenreise kein Geld da war.
Das hieß, er würde in Kürze die Wohnung verlassen.
Sie hatte genug gehört.
Ganz
kurz zögerte sie und ging dann zurück nach oben in ihre Wohnung, legte
den Brief auf den Tisch und brühte sich eine letzte Tasse Kaffee.
"Wieder Abwasch - aber so kann ich nicht gehen" murmelte sie.
Ein Gedanke war ihr gekommen. Ein Gedanke, der sie nicht wieder los ließ.
"Warum nicht jemand mitnehmen?" fragte sie sich.
Jemanden, der kein Recht hat, noch mehr Schaden anzurichten.
Jemanden wie den Würz von unten!
Der Gedanke war geboren und musste begutachtet werden.
"Wie soll ich das anstellen" fragte sie sich, während sie in ihrer Tasse rührte und die Tabletten in immer neue Muster legt.
Endlich - sie hörte gerade Wohnungstür unten ins Schloss fallen - nahm ihr Plan Form an.
Sie humpelte so schnell sie konnte auf den Balkon und rief Jenny, die das Haus gerade verlassen hatte, hinterher.
"Jenny, komm doch bitte mal rauf zu mir. Sei so gut, ja?"
Gutwillig
und freundlich, wie es die Art des zierlichen blonden Mädchens war, kam
Jenny ihrem Wunsch nach und bald darauf saßen beide am Küchentisch.
Johanna
hatte es gerade noch geschafft, eine Zeitung über ihre Tabletten zu
werfen und bemühte sich nun, das Kind für einige Zeit aus dem Haus zu
schaffen.
"Schätzchen, ich hole doch immer
für Frau Hötger ihre Medikamente aus der Apotheke, schaffe das aber
heute nicht mehr. Wärst Du wohl so nett...?"
"Sicher, ich flitze gleich los. Soll ich sie bei ihr vorbeibringen?"
"Nein,
gib sie nachher ruhig mit. Und - hier sind zwei Euro extra. Geh einen
Hamburger essen; den magst Du doch so gern. Und - Du musst Dich nicht
beeilen."
Jennys Augen leuchteten auf. Und ob sie Hamburger mochte!
Sie sprang die Treppen hinunter und Johanna machte sie ans Werk.
"So, das Kind ist für eine halbe Stunde aus dem Weg."
Eilig kramte sie in der Speisekammer. Endlich fand sie das Objekt ihrer Begierde.
Eine
Flasche Magenbitter, den ihr Frau Hötger irgendwann mal mit den Worten
geschenkt hatte "Ihr Untermann badet darin; seine Lieblingsmarke.
Vielleicht helfen die 1000 Kräuter ja wirklich."
Sie sollten Johanna jetzt helfen.
Sie
blickte auf den unteren Balkon und sah, dass Jennys Vater gerade seine
Schuhe polierte. Auf solche Dinge legte er Wert. Seine Tochter durfte
keine blauen Flecken aufweisen und seine Schuhe keine stumpfen
schmutzigen Stellen. Er trug schon sein Jacket für "draußen", würde
also bald das Haus verlassen.
Es war schon dämmerig, was trotz der relativen Trunkenheit des Mannes Johanna sehr Recht war.
Sie humpelte zur Tür und die zwei Treppen hinab bis zur Wohnungstür.
"Gut,
dass die Hausbeleuchtung kaputt ist" murmelte sie, als sie die Flasche
auf die zweite Stufe der Treppe stellte, die nach unten führte.
"Vielleicht
denkt er ja, ein Saufkumpan will sich einen Spaß erlauben. Auf jeden
Rall wird er neugierig werden. Und jetzt halt bloß die Klappe, Johanna"
schimpfte sie.
Durch die Türritze sah sie, dass Licht im Korridor brannte; sie würde ihn also gut sehen können.
Sie
klingelte und presste sich in die Nische neben der Wohnungstür. Ihr
Herz klopfte. Hastig griff sie in ihre Blusentasche nach ihrem
Asthmaspray. Panik sprang sie an, als sie bemerkte, dass sie es oben
vergessen hatte, aber sie zwang sich, tief durchzuatmen.
Als
Würz die Tür ungestüm aufriss, zuckte sie zusammen. Licht fiel auf den
Treppenabsatz und beleuchtete die verlockende Flasche.
Neugierig torkelte er zur Treppe, bückte sich tief und griff danach.
J e t z t - dachte Johanna, kniff die Augen zu, fasste Mut, ging in die Knie und kroch hinter ihn.
Sein breites Gesäß, über dem sich die Hose spannte, ragte über ihr auf.
Sie stieß mit dem Kopf zu!
Zuerst schwankte er nur. Entsetzt dachte sie, er würde sich fangen und rückwärts auf sie fallen.
Aber
dann stürzte er doch nach vorne. Die Flasche hielt er umklammert. Er
überschlug sich; sie hörte ein unangenehmes Knacken, dann Stille, kurz
unterbrochen von einem leisen Wimmern.
Schnell
- ja wirklich schnell - erhob sie sich, zog seine Wohnungstür ins
Schloss und eilte nach oben, wo sie herzklopfend auf die Couch sank,
die sie jetzt eigentlich schon in eine bessere Welt tragen sollte.
Und
wenn er auch nur verletzt ist; er wird Jenny erst mal nichts antun
können. Morgen werde ich ihre Tante anrufen. Nein - heute, verbesserte
sie sich. Für mich gibt es ja kein Morgen mehr.
Das
mit dem Kopfstoß war eine gute Idee, dachte sie etwas selbstgefällig.
Sie hatte genug Krimis gesehen und gelesen, um zu wissen, dass man
Stoßspuren am Rücken feststellen konnte.
"Aber wer kommt schon auf die Idee, an seinem Hintern nach Spuren von meinem Kopf zu suchen?" lachte sie laut heraus.
Angestrengt lauschte sie auf Geräusche aus dem Treppenhaus.
"Wir aber langsam Zeit, dass ihn jemand findet, sonst ist Jenny noch diejenige..."
Die
jungen Leute von oben hatten ihr mal in einem Anfall von Nächstenliebe
ihre Telefonnummer gegeben. "Für Notfälle" hatten sie bemerkt.
Das war ein Notfall und vielleicht würden sie sich ja aus ihren erotischen Verschlingungen lösen und ans Telefon gehen.
So
war es. Der Mann meldete sich etwas atemlos, war aber schließlich doch
bereit, in seine Hosen zu schlüpfen und nachzusehen, was das für ein
Lärm gewesen war.
Nach zwei Minuten klingelte er Sturm an Johannas Tür.
"Würz ist tot" bemerkte er lakonisch.
"Nicht schade drum," ergänzte seine Frau, die im Morgenrock hinter ihm stand.
"Was nun?"
Johanna überlegte nur kurz.
"Jenny
besorgt gerade was für mich. Sie wird jeden Moment zurück sein. Das
können wir ihr nicht antun. Rufen Sie bitte die Feuerwehr; ich gehe ihr
entgegen und lenke sie so lange ab, bis er ...weg..."
"Bis er weggeschafft ist" fiel der junge Mann ein.
Erst
als Johanna mit Jenny einen Burger aß - zum ersten Mal übrigens - fiel
ihr auf, dass sie ihre Nachmittags-Schmerztablette nicht genommen und
schon wieder ihr Spray vergessen hatte.
Egal
- so schlimm war es heute gar nicht. Und das Kind war wichtiger. Jenny
hatte die Mitteilung vom Tod ihres Vaters mit großen erschrockenen
Augen aber ohne Kommentar hingenommen.
"Tante Monika und Onkel Horst sind zur Kur, da kann ich Morgen nicht hin" kaute sie vor sich hin.
Sie blickte Johanna so vertrauensvoll an, dass diese einen Entschluss fasste.
"Du bleibst erst mal ein paar Tage bei mir. Dann sehen wir weiter."
Als
sie das Haus betraten, war nichts mehr zu sehen. Im Briefkasten steckte
eine Benachrichtigung; sie würde eine Zeugenaussage machen müssen.
Johanna warf die Vorladung in ihrer Wohnung in den Papierkorb; holte sie aber gleich wieder heraus.
Fast hätte sie vergessen, dass sie ihren Tod noch etwas hinausschieben wollte.
"Vielleicht"
murmelte sie vor sich hin, als sie die Tabletten wegräumte (schließlich
war jetzt ein Kind im Haus) und ihren Abschiedsbrief zerfetzte,
"vielleicht sind ja Tante und Onkel damit einverstanden, dass sie erst
einmal hier weiter zur Schule geht und nur bei ihnen schläft oder sie
am Wochenende besucht.
Ein Wechsel in der vierten Klasse ist gar nicht gut."
Diesen Gedanken spann sie genüsslich weiter, während sie sich zur Nacht vorbereitete.
Frau
Hötger wollte schon lange in ein Altenheim gehen. Ihre Wohnung war
größer und lag im Parterre. Sie könnte für Jenny ein eigenes Zimmer
einrichten.
In dieser Nacht braucht Johanna
kein Schlafmittel. Ein Blick auf das sanfte, entspannte Gesicht Jennys
genügte, um ihr Ruhe zu geben.
Sie hatte schon einige Stunden geschlafen, als sie plötzlich hoch schreckte.
Über
Frau Hötger, der Herr Rübensam, der rum lief und jeden beschimpfte, der
die Türen mit Kot beschmierte und Müll in die Briefkästen steckte, wäre
natürlich eine wirkliche Last, wenn sie dort einziehen würde - falls
sie die Wohnung bekäme, was sie aber nicht bezweifelte.
Eine wirkliche Last wäre er - ein echtes Problem!
"Aber" lächelte sie schlaftrunken und drehte sich noch einmal auf die andere Seite.
"Für jedes Problem gibt es eine Lösung!"
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.11.2005.
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