Rita Bremm-Heffels

Marion

Was wohl aus ihr geworden ist?

Erinnert durch einen Lebenslauf aus dem Internet habe ich heute nach Jahrzehnten an sie gedacht.

In unserer streng katholischen, gutbürgerlichen Gegend im äußersten Westen war Marion von Anfang an eine Außenseiterin.
Vielleicht hätten wir Kinder es gar nicht gemerkt – doch die Reaktionen unserer Eltern und der, der Freunde ließen uns spüren, daß sie anders war. Die Blicke der Erwachsenen waren mißtrauisch wenn sie Marion ansahen.
Irgendwann bemerkten wir es auch. Ihre Haut war dunkler, ihre Haare wild gelockt und manchmal kaum zu bändigen.
Wie Marion selbst. Bei allen Spielen war sie die Wildeste, verwegen und mutig.
Während wir noch ängstlich unter dem Kirschbaum saßen, war Marion schon oben und steckte sich die ersten dunkelroten, süßen Früchte mit beiden Händen in den Mund.
Daß der Kirschsaft auf ihr Kleid tropfte - es war ihr egal.
Und als laut brüllend der Nachbar mit erhobener Faut angerannt kam, angstvoll um seine Ernte bangend, da sprang Marion mit einem Satz hinunter und rannte los.
Wir hinterher und bangten tagelang aus Angst vor der Polizei.
Marion lachte nur.“ Was ich in mir habe kann mir doch keiner mehr wegnehmen,“ sagte sie immer nach unseren „ Raubzügen „.

Sie lebte bei ihrer etwas seltsamen Oma. Die hatte nicht weit von dem Mietshaus in dem sie mit Marion lebte, an einem Bach ein kleines Stück Land auf dem sie Hühner hielt.
Aufgezogen und geschlachtet wurden sie aber in der Wohnung. Das brachte natürlich Ärger mit den anderen Mietern. Sie war eine alte, verhärmte und ungepflegte Frau, kein Umgang für ein kleines Mädchen. Nie war einer von uns bei ihr zu Hause. Das war tabu.
Es war lange Zeit für uns selbstverständlich das Marion‘s Eltern nie da waren.
Sie hatte offensichtlich keine.
Ab und zu erhielt sie Pakete und kurz darauf kam sie mit Sachen, Kleidern, Hosen oder Schuhen, die völlig fremd wirkten in unserer Kleinstadt.

„ Die sind aus Amerika „ , sagte uns Marion eines Tages. Damals war sie ungefähr 11 Jahre.
„ Von meiner Mutter „.

Wir schauten sie mit großen Augen an. Hatte sie uns angekohlt?
Eine Mutter, die nie da war. Und dann war sie in Amerika.
Das war für uns das Größte.
Doch mehr sprach Marion nicht über sie.
Aber unsere Neugier war geweckt.
Und so fragten wir zu Hause: „Wieso ist Marion’s Mutter in Amerika ?“
„ Ach die, „ war die verächtliche Antwort, „ die war so ein Ami-Flittchen.“
Und dann, als wäre das eine ansteckende Krankheit: „ Treibt euch nicht zu viel mit Marion herum.“
Wir waren genau so schlau wie vorher: Was war ein „Ami-Flittchen?“
Fragen über Fragen kamen uns in den Sinn.
Und wenn die Mutter in Amerika war, warum war Marion dann hier und nicht bei ihr?
Und wo war ihr Vater?


An einem Sommerabend in der Nische unter der Hemislay, unserem liebsten Platz,
saßen wir in der Abendsonne. Jeder erzählte von zu Hause.
Und da uns die Gelegenheit günstig erschien, stellten wir Marion die Frage die uns so brennend interessierte:
„Warum bist du nicht bei deinen Eltern?“

Marion schaute uns mit ihren dunklen Augen an und stockte. Ihre Mundwinkel begannen leicht zu zittern.
Zum ersten Mal fiel uns auf, daß da nicht nur Lust und Schalk blitzten. Dieser Blick war traurig.., und einsam.

„ Ich kenne Mama kaum,“ sagte sie leise. „ Als ich noch ganz klein war, hat sie einen Mann aus Amerika geheiratet. Und der wollte kein Negerkind. Darum hat sie mich bei der Oma gelassen.“

„ Und du kennst auch deinen richtigen Papa nicht?“ wollten wir wissen.
„ Nein“, sagte sie,“ der hat mich nie gesehen. Und ich ihn auch nicht.“

„ Aber du bist doch genauso wie wir auch. Warum wollten die dich denn nicht?“
fragte Janni etwas taktlos.
„ Bin ich nicht. Guckt euch meine Haut an, die ist dunkler aus eure.
Und es gibt Leute die sagen das ich schlechter bin.“

„ So ein Quatsch,“ sagte Janni. „ Was für blöde Leute“
Damit war für ihn das Thema beendet.

Nach diesem Abend hat uns Marion nie wieder so tief in ihre Seele blicken lassen.
Und mit der Zeit vergaßen wir das alles auch und wollten gar nicht mehr wissen.


*

Wir wurden älter, die Kinderspiele glitten langsam in die Vergangenheit.
Andere Dinge wurden wichtiger und nahmen den Platz von Felsen und Kirschbäumen ein.

Liebesgedichte im Poesiealbum, Schwärmereien für Alain Delon und - Elvis.

Doch während wir noch rein platonisch liebten, war Marion schon voll im „Liebesgeschäft“.
Dem Einfluß ihrer Oma war sie lange entglitten,.
Abends stöckelte sie geschminkt und zurechtgemacht aus dem Haus und wurde erst spät,
manchmal nachts, von irgendwelchen dubiosen Männern mit Autos nach Hause gebracht.

Unsere Seelenwege hatten sich getrennt. Wir hatten noch einen Fuß in der Kindheit, doch sie
hatte sich mit einem Griff ins Erwachsensein gezogen. In eine fremde Welt.
Nur manchmal hörten wir noch von ihr durch den Kleinstadt Tratsch.
„ Habt ihr die gesehen? Mit dem? Naja, was sollte da auch schon raus kommen,
bei der Abstammung.“

Sie hat an etlichen Ehen gerüttelt, in dem sie die Ehemänner mit ihrer samt braunen Haut und den Glutaugen vom katholischen Treue Pfad abbrachte. Und sie vernaschte, wie damals die Kirschen im Baum – mit vollen Händen.


*


Es waren vielleicht drei Jahre vergangen, als es sich eines Tages wie ein Lauffeuer verbreitete: Frau Kröll hat sich im Hühnerstall aufgehängt.
Und das in dieser ehrbaren Stadt.
Das Urteil stand fest: „ Marion hat sie so weit gebracht, mit ihrer Rumtreiberei.“

Nun wartete man voller Neugier auf die Beerdigung.
Sicher würde Marion‘s Mutter kommen. Aus Amerika.
Ob sie sie nun mitnehmen würde?
Ich glaube viele hofften das, besonders die braven Ehefrauen.

Und Marion‘s Mutter kam. Aufgedonnert, mit Mann und ihren“ ordentlichen „ Kindern. Helle Kinder.
Marion stand abseits – wie immer. Sie weinte.

Es war das letzte Mal das ich sie gesehen habe.
Ob sie doch noch nach Amerika ging?
Zu der Mutter die sie nicht gewollt hatte?
Oder in eine andere Stadt?
Ob sie geheiratet hat ?
Und ob sie glücklich geworden ist?

Ich weiß nichts mehr von dem braunen, lachenden Mädchen im Kirschbaum,
das doch nur eines gewollt hatte: Geliebt werden.

Es gibt für mich die Gestern-, Heute, und Morgentage.
An den Gesterntagen sehe oderlese ich etwas und
plötzlich springt eine der vielen Erinnerungs-Schubladen auf.
Gestern war so ein Tag und nachdem Einer der Schublade entstiegen war, drängten auch Andere hervor.
Rita Bremm-Heffels, Anmerkung zur Geschichte

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