I.
Mazul stand
vor dem Eingang der Höhle. Er war am Ziel. - Endlich! - Mazul hatte die sieben
eisigen Berge überwunden und die sieben dunklen Schluchten durchquert.
Unzähligen Gefahren war er begegnet und hatte sie oft nur durch Glück überstanden.
Nun würde es sich zeigen, ob sich der Weg gelohnt hatte. Müde und erschöpft
blieb er einen Augenblick stehen und atmete tief durch. Er vergegenwärtigte
sich noch einmal, wie er seine Bitte würde formulieren wollen, um den weisen
Zauberer günstig zu stimmen. Aber mußte der ihr nicht einfach entsprechen, wenn
er von Mazuls Schicksal erfahren hatte? Man sagte, der mächtige Alte sei gütig.
Mit festen
Schritten betrat Mazul das Halbdunkel und folgte dem schmalen Durchlaß ein
kurzes Stück in den Berg hinein. Der Raum, der sich vor ihm eröffnete, sah fast
so aus, wie das einzige Zimmer einer der Bauernkaten in seinem Dorf. Ein Tisch
stand darin, zwei Stühle, ein Herd und in der hintersten Ecke ein schmales
Bett. Nur kam das Licht hier nicht durch den Eingang, sondern durch mehrere
Löcher in den Wänden. Mazul fragte sich, ob es nicht gelegentlich hereinregnen
würde.
„Oh, das macht
nichts, Söhnchen. Man muß nach draußen sehen können.“ sagte da eine Stimme.
Mazul zuckte
zusammen. Er konnte den Sprecher nicht sofort ausmachen. Daß es die Stimme
eines Mannes war, hatte er sofort erkannt. Nicht die eines jungen, aber auch
keine, die vom Alter schon brüchig geworden war.
Nun löste sich
eine Gestalt aus dem dämmrigen Schein, den die Abendsonne noch durch diese seltsamen
Öffnungen warf.
„Großer
Zauberer.“ sagte Mazul ehrfürchtig und verneigte sich tief. Denn das mußte er
doch sein. Wie hätte er sonst seine Gedanken erraten können? Mazul wagte kaum,
den Kopf zu heben.
„Nun,
Söhnchen, groß bin ich nicht gerade.“ sagte der Alte, der nun direkt vor ihm
stand und seinen Kopf etwa auf gleicher Höhe wie er selbst trug, mit leisem
Schmunzeln. „Setz Dich an den Tisch. Du hattest sicher einen weiten Weg. Das
Essen ist gleich fertig.“
„Ich ... ich
komme mit einer Bitte.“ stotterte Mazul verwirrt der Gestalt nach, die sich zum
Ofen umgewandt hatte und eifrig in einem großen Topf zu rühren begann. Alles,
was er sich auf seinem Weg so genau zurecht gelegt hatte, war ihm durch das
seltsame Benehmen des Zauberers entfallen.
„Oh ja,
natürlich,“ bekam er zur Antwort. „Das tun sie alle. Ich kann mich nicht
erinnern, daß in all den Jahren, die ich hier lebe - und es sind eine ganze
Reihe, Söhnchen - irgend jemand gekommen wäre, um sich schlicht nach meinem
Befinden zu erkundigen, oder dergleichen. Ich will mir auch gerne anhören, was
Du für ein Bündel mit Dir herumschleppst. Aber im Moment bin ich hungrig und Du
sicher auch. Darum wollen wir erst essen.“
Eingeschüchtert
nahm Mazul Platz. Ein tiefer Holzteller wurde vor ihn hingestellt und mit
irgend etwas gefüllt, das er nicht kannte. Der Alte setzte sich neben ihn,
wünschte ihm eine gesegnete Mahlzeit, ganz so, wie sie es zu Hause auch
machten, und begann mit gutem Appetit zu essen. Und Mazul blieb nichts anderes
übrig, als seinen Löffel ebenfalls in das Undefinierbare zu stecken und seinen
knurrenden Magen damit zu füllen.
Nein, so hatte
er sich seine Ankunft nicht vorgestellt! Da hatte er die Mühen eines langen
Weges auf sich genommen, um einen erhabenen Zauberer aufzusuchen und saß nun
mit einem gewöhnlichen alten Mann an einem wackeligen Holztisch und aß Eintopf?
Aber wer weiß, vielleicht wollte dieser prüfen, ob Mazul ihm auch in einer so
schlichten Gestalt die nötige Ehre erwies? Und vielleicht hing ja gerade davon
sein Entgegenkommen ab?
Schweigend
stillte Mazul seinen tatsächlich großen Hunger und wartete dann, bis der
Zauberer das Geschirr zur Seite geräumt und sich wieder zu ihm gesetzt hatte.
Er fühlte sich genauestens betrachtet, was ihm sehr unangenehm war, aber er
hatte wohl keine andere Wahl, als sich diesen prüfenden Blick gefallen zu
lassen.
„Nun,
Söhnchen, was hast Du auf dem Herzen?“ fragte der Zauberer nach einer Weile und
brachte ihn damit vollkommen aus der Fassung. Die kunstvollen und
wohlüberlegten Formulierungen die er sich auf seinem langen Weg mühevoll
zurechtgelegt hatte, schienen angesichts dieser nüchternen Frage sinnlos.
Schließlich nahm er sich zusammen, soweit es eben in dieser Situation noch
ging, und entgegnete genauso direkt: „Ich möchte ein anderes Gesicht.“
„Warum?“
fragte ihn der Alte.
Der höfliche
Tonfall machte ihn zornig. War es ihm denn nicht anzusehen?
„Ich bin
häßlich! Ich habe es satt, häßlich zu sein!“
Und das war ja
auch der wirkliche Grund. Der, den man keinesfalls übersehen konnte, auch wenn
das Licht nun spärlich in die Höhle fiel und sein Gesicht im Halbschatten lag.
Wie oft hatte er sich das anhören müssen. „Du bist häßlich.“ „Geh’ weg, ich mag
Dich nicht ansehen.“ „Was willst Du denn hier? Jemanden der so aussieht, wollen
wir nicht.“ Manchmal waren es auch nur Blicke gewesen, abweisende, betretene,
verschlossene, oder gar solche, die sich an seinem Anblick mit heimlichem
Grauen weideten. Was war ihm nicht alles verwehrt gewesen durch sein Gesicht!
„Nicht jeder
kommt klug zur Welt und nicht jeder schön.“ entgegnete der Zauberer
gleichmütig. „Was macht das schon?“
Mazul vergaß,
daß er ja der Bittsteller war und daß sein Verhalten aus diesem Grunde hätte
demütig sein müssen. Wenn nicht schon deswegen, um den alten Weisen aus den Bergen,
dessen Macht jeder kannte, nicht zu reizen.
„Oh, ich
verstehe.“ rief er aus. „Ihr lebt hier ganz allein und daher kann es Euch egal
sein, ob Ihr anderen gefallt oder nicht. Außerdem könnt Ihr Euch natürlich jede
Gestalt geben, die Euch dienlich und angenehm erscheint. Aber ich lebe unter
Menschen, die mich quälen, nur weil ihnen mein Aussehen nicht gefällt und ich
habe darunter zu leiden. Täglich und in jeder Stunde verlacht man mich,
schließt mich aus, demütigt mich... Da sagt Ihr: ‘Was macht das schon.’ Es
verleidet einem das Leben; das macht es!“
Und nun nach
dieser aufgebrachten, hitzigen Rede bekam Mazul doch Angst. Sicher war es nicht
der richtige Tonfall gewesen mit jemandem zu sprechen, der das eigene Los
sowohl verbessern, als auch verschlimmern konnte. Er hatte geglaubt, das Maß
dessen, was ein Mensch ertragen konnte, schon aufgebürdet bekommen zu haben,
aber nun machten sich auf einmal schreckliche Vorstellungen in ihm breit. Was,
wenn er den Zauberer so verärgert hatte, daß dieser ihm weiteren Schaden
zufügte? Dann müßte er nicht allein unverrichteter Dinge, sondern auch noch
schwer bestraft heimkehren und die Seinen hätten einen Grund mehr sich seiner
zu schämen.
Der intensive
Blick seines Gegenübers ließ ihn erstarren. Ein kalter Druck schien sich selbst
auf seinen Atem zu legen. Schon glaubte er die Wirkung einer mächtigen
Verwünschung zu spüren. Er hatte gehört, der Ehrwürdige besäße die Macht, einen
Menschen mit bloßem Blick zu Stein zu verwandeln. Sicher war dies der Anfang.
Da hörte er
den Zauberer wie aus weiter Ferne gelassen sagen: „Nun, ich denke, Du mußtest
das einmal los werden. So ist das mit Lasten, man muß sie gelegentlich
abstellen. Laß mich nachdenken, ob ich Dir weiterhelfen kann.“
Verwirrt und
unendlich erleichtert schöpfte Mazul neue Hoffnung. Er hielt sich ganz still,
obwohl er sich nun voller Ungeduld fragte, was es da wohl zu überlegen gäbe. Er
hatte ja keine bestimmten Vorstellungen über sein neues Aussehen geäußert.
Angenehm und unauffällig sollte seine Erscheinung sein, so wie die jedes
anderen in seinem Dorf. Und während er sich nun sein verändertes Leben in den
schönsten Farben ausmalte, senkte sich die Nacht vollends über das Land und
tilgte die Spuren jeglichen Lichtes in der Höhle. Doch sein hoffnungsvoller Traum
wärmte ihn und zeigte ihm die Zukunft in strahlender Helligkeit. So konnte er
gar nicht sagen, wie lang er schweigend dagesessen hatte.
„Mein Sohn,
ich bin zu einem Schluß gekommen.“ hörte er die bekannte Stimme aus dem
Dunkeln, und auch diese erschien ihm nun freundlich und voller Wärme. „Es war
nicht einfach, das sind solche Dinge nie, aber ich denke, Dir kann geholfen
werden. Wir wollen uns also für heute zur Ruhe begeben und dem neuen Tag mit
freudiger Erwartung entgegenblicken.“
Erneut war
Mazul der Verzweiflung nahe. Er hatte sich kurz vor dem Ziel geglaubt und nun
das! Spielte der Alte mit ihm? War er vielleicht gar kein Zauberer? Doch bevor
er seine trüben Gedanken weiter verfolgen konnte, fühlte er sich plötzlich von
einer Müdigkeit ergriffen, die nicht nur von den Anstrengungen des Weges
herkommen konnte. Ehe er sich’s versah, lag er auf einer ganz gewöhnlichen
Pritsche und der Schlaf überwältigte ihn.
Es war ein
tiefer, traumloser Schlaf, der nicht nur seinem Körper viel von seiner Kraft
zurückgab. Als er schließlich davon erwachte, daß ihm die helle Morgensonne ins
Gesicht schien, konnte er dem, was sich nun für ihn ergeben sollte, tatsächlich
„mit freudiger Erwartung entgegen blicken“. Aber er wurde abermals enttäuscht
...
„Ich schenke
Dir, einen Tag des Vergessens.“ sagte der Zauberer, ohne sich noch einmal
bitten zu lassen. Und als Mazul wiederum aufbegehren wollte fügte er hinzu:
„Selbst wenn ich wollte, ich könnte Dir kein anderes Gesicht geben, denn ich
kann nichts, was tatsächlich ist, verändern. Ich kann nur das, was nicht ist,
wegnehmen, oder die Illusion dessen, was nicht ist, schaffen. Und in beiden
Fällen gehört dazu, mein Sohn, daß mein Geschenk angenommen wird. - Geh jetzt,
Dein Platz ist unter den Deinen. Wenn Du angekommen bist, magst Du den Zauber
annehmen oder ablehnen, es bleibt ganz Dir überlassen.“
Mazul verstand
nichts von dem, was er hörte. Doch der ständige Wechsel zwischen Hoffnung und
Enttäuschung hatten ihn zermürbt. Er wollte nicht mehr fragen, nicht mehr
bitten, nicht mehr für sein Anliegen kämpfen. Nun gut, er würde nach Hause
zurückkehren; wo sollte er auch sonst hin!
Ohne einen
Gruß oder auch nur einen einzigen Blick auf den Zauberer verließ er die Höhle
und wandte seine Schritte auf den Weg, auf dem er gekommen war. So entging ihm
der warme, gütige, zuversichtliche Blick, den ihm der alte Weise auf den Weg
mitgab.
Was war das
für ein Heimweg?! Seiner letzten Hoffnung beraubt, setzte Mazul einen Fuß vor
den anderen, ohne auf die Landschaft, ja ohne auch nur auf seine nächste
Umgebung zu achten. In seinem Inneren lag alles in Scherben und er hätte sich
gern, wie ein wundes Tier in der Wildnis verkrochen und dort weder dem Tod noch
dem Leben Widerstand geboten. Aber seine Schritte zogen ihn magisch in die
Richtung seines Dorfes, wo er im Angesicht der Schande und der Vergeblichkeit
seiner Bemühungen gar nicht ankommen wollte. In seiner Unaufmerksamkeit
bemerkte er nicht, wie die Bäume ihre Wurzeln ausstreckten, um ihm Halt zu
bieten, wenn er auszugleiten drohte. Wie der Bach sein Bett verließ, um seinen
Becher zu füllen, wenn er rastete. Wie der Tiger sich still im Hintergrund
hielt, ohne ihn anzufallen, auch wenn der Hunger ihn in seine Richtung
getrieben hatte. Wie selbst der Weg ihm alle Beschwerlichkeit vermeiden half,
indem er zuweilen einen ganz anderen Verlauf nahm, als in den Tagen, in denen
er noch voll Zuversicht in die andere Richtung gewandert war.
Völlig
unvermittelt lag da eines Nachmittages das Dorf vor Mazul und er blieb
unschlüssig stehen. In seinen Ohren hörte er schon das Getuschel der Nachbarn:
„Der Häßliche ist wieder da.“ „Ich habe mir gleich gedacht, daß er zurückkommt,
wie er ging.“ „Was werden die armen Eltern sagen. Besser er wäre unterwegs
umgekommen.“ Angesichts solcher Vorahnungen, klopfte ihm das Herz bis zum Hals
und er wagte sich keinen Schritt weiter. Er wußte nicht, wie lang er so mit
gesenktem Kopf saß, als ein Schatten vor ihn auf den Rasen fiel und als er
aufsah, stand da sein Vater. Er blickte zu ihm herunter, wie er es immer getan
hatte, denn eigentlich blickte er an ihm vorbei, mit zusammengezogenen Brauen
und finsterer Stirn.
„So, hast Du
Dich genug herumgetrieben.“ stellte er fest und seine Stimme erschien Mazul wie
Donnergrollen. „Ich habe Holz zusammengelesen. Hilf es mir nach Hause tragen.“
Das war also die Begrüßung und Mazul konnte nichts erwidern, nur das tun, was
ihm sein Vater aufgetragen hatte.
Der Gang durch
das Dorf war eine reine Qual für ihn. In Windeseile schien sich seine Heimkehr
herumgesprochen zu haben und nun stand alles, was nur irgendwie konnte, vor den
niedrigen Holzhäusern und beobachtete die zwei Männer, die, anscheinend ohne
von ihrer Umgebung Notiz zu nehmen, hintereinander gingen. Der Alte voraus, mit
zusammengezogenen Brauen und finsterer Stirn. Und der Junge hinterher, ein
schweres Bündel Holz auf dem Rücken, den Kopf gesenkt, so daß man sein Gesicht
nicht sehen konnte. Aber natürlich, wenn es nun ansehnlich gewesen wäre, hätte
er es dann etwa weiterhin versteckt?
Die Fetzen des
Geflüsters und die unverschämten Zurufe, die Mazul trafen, machten seine
Niederlage perfekt. Als er schließlich vor der kleinen Kate stand, in der nur
noch er, als eines von vielen Kindern, mit seinen Eltern wohnte und das Holz
abgelegt hatte, wünschte er sich, der Zauberer hätte ihn ob seiner
Ungebührlichkeiten getötet, oder er wäre der Gefahren des Weges erlegen. Das
wäre ein leichteres Los gewesen, als nun wieder hier zu leben.
Er sah seine
Mutter in der Tür stehen, sah die Beschämung in ihren Augen und wußte, sie
würde ihn mit Vorwürfen überschütten, fände sie nur die Worte dazu. Was hatte
er ihr wieder angetan! Sie war von je her der Meinung gewesen, er täte gut
daran, das Haus nicht zu verlassen, um sie und sich selbst nicht der Schande
auszusetzen. Und nun dies. Wieso hatte er nicht daran gedacht, sein Gesicht zu
verhüllen, bevor er seine Schritte in das Dorf lenkte. Und wieso hatte ihr Mann
nicht daran gedacht. Doch ein Blick auf diesen sagte ihr sehr schnell, daß es
im Moment besser war, den Mund zu halten. Er würde ihr sicher kein Verständnis
entgegen bringen und ihm wären all die Leute egal. Sie wollte ihm keine
Gelegenheit geben, sie in den Augen der Nachbarn noch mehr herunterzusetzen,
darum schlug sie nun die Augen nieder und verschwand still und bekümmert im
Haus, wo sie ihrer Arbeit nachging, als wäre nichts geschehen.
Auch der Vater
verlor kein weiteres Wort mehr, sondern begann mit kraftvollen Handbewegungen
im Küchengarten das Unkraut auszureißen. Mazul warf das Holz neben den
Hackstock, lief an seiner Mutter vorbei in seine eigene kleine Kammer, warf
sich dort auf das Bett und lag lange unbeweglich, gedanken- und tränenlos. Mehr
als jemals zuvor fühlte er sich gelähmt durch das Verhalten seiner Mitmenschen.
Es blieb nichts für ihn zu tun, er war und blieb abhängig und hilflos.
Als
schließlich die Nacht ihre dunklen Schwingen über das Land breitete, schien es
ihm, als würde diese tote Stille von ihm selbst ausgehen. Diese Stille, das
wußte er auf einmal, war der Tod. Und das Leben in ihm erkannte sein geheimes Sehnen
danach und begann, sich unvermittelt in ihm zu regen und energisch sein Recht
zu fordern. Wenn er doch nur, wenigstens für kurze Zeit, all das Unerfreuliche
und Quälende würde vergessen können ...