Brigitta Firmenich

Der Weg

Sie war auf ihrem Weg.
Zu beiden Seiten standen Bäume. Der Himmel breitete sein schönstes Licht über ihr aus. Am Abhang zu einer Ebene hörte der Bewuchs zu beiden Seiten auf und sie blieb stehen. In einer Senke vor ihr breitete sich ein großer Garten aus. Es war ein so großartiger Anblick. Und doch passte der Garten hier nicht hin. Sie versuchte sich aus den Augenwinkeln heraus zu vergewissern, dass alles wirklich wäre, dass sie durch den lichten Wald gegangen war. Doch die Welt hinter ihr verschwand wie in einem Nebel, und es war ihr, als ob die Welt rechts und links und hinter ihr in diesem Moment nicht mehr zu existieren schien. Es war, als sei ein Kapitel ihres Lebens in diesem Moment zu Ende gegangen.

Daher richtete sie ihre ganze Aufmerksamkeit nun auf den Garten, der vor ihr lag. Es war mehr als ein Garten. In ihm schien sich die ganze Welt zu spiegeln. Seen und Flüsse, Hügel und Ebenen, Wälder und Wiesen, Straßen und Wege waren zu sehen. Würde sie ihren Weg weiter gehen, könnte sie geradewegs zu einem asiatisch aussehenden Haus am anderen Ende des Gartens kommen. Gerade, als sie so bewundernd da stand und sich noch überlegte, wie wunderschön das alles sei, trat ein Mann in einem Kimono aus dem Haus. Er blieb einem Moment oben stehen und sah zu ihr hin. Dann ging er die wenigen Stufen hinunter in den Garten. Wieder sah er zu ihr hin und verneigte sich. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, sah er sie ganz freundlich an. Es war ihr, als sei sie zu ihm heran gezoomt worden, oder er sei im Bruchteil einer Sekunde näher an sie heran getreten, oder der Garten sei gerade geschrumpft. Denn der Mann erschien ihr so nahe, dass sie ihm fragen konnte, was das für ein wunderschöner Garten sei. Der Mann antwortete:

„Das ist der Garten der Wahrheit. Du darfst ruhig herein kommen.“

Dabei machte er eine einladende Geste. Sie war unsicher und fragte deshalb:

„Auf welchem der Wege soll ich denn gehen, es gibt so viele?“

„Das liegt ganz bei dir. Du musst dich entscheiden.“

Und er erklärte ihr, dass man von dort, wo sie stehe, kaum mehr als zweidimensional sehe. Deshalb solle sie sich gut überlegen, welchen Weg sie einschlage. In Wirklichkeit sei vielleicht der anscheinend längere Weg am Rande des Gartens sogar der kürzere oder bequemere, während der direkte Weg geradeaus vielleicht viel mehr Mühe mache, weil sich Täler und Berge dort auftun könnten und man dadurch länger brauche, um an sein Ziel zu kommen.

„Aber nur Mut“, ermunterte er sie, und er breitete mit dem Lächeln eines Weisen seine Arme aus.
„Du wirst deinen richtigen Weg finden.“

Mit vor der Brust gekreuzten Armen verneigte er sich wieder, drehte sich um, stieg die Stufen hinauf und verschwand im Eingang.

Ihr war, als sei der Garten plötzlich wieder viel größer als gerade noch zuvor, das Haus viel weiter entfernt von ihr. Nach einem kurzen Moment des Nachdenkens, was ihr wohl passieren könnte, wenn sie den direkten Weg weiter gehen würde, entschloss sie sich, auf dem geraden Weg zum Haus weiter zu gehen, egal, wie viele Berge zu überwinden und Täler zu durchqueren waren.
Vorsichtig betrat sie den paradiesischen Garten.

In Gedanken hörte sie noch die Worte des Weisen, bevor sie zügig weiterging. Alles erschien leicht und die Bäume schienen sich ihr zuzuneigen, Vögel zwitscherten fröhlich, der Himmel schien sie zu umarmen.

Doch ihre Gedanken betraten andere Welten, in denen es nicht so hell war. Und bei jedem der dunklen Gedanken schienen die Täler, die sie durchquerte, tiefer und die Berge vor ihr höher zu werden. Das ging eine ganze Weile so. Doch dann wurde sie sich dessen bewusst und blieb überrascht stehen. Das war es, was der Weise ihr hatte sagen wollen. Und sie begriff, dass ihre Gedanken ihr Leben beeinflussten.
Sie nahm sich vor, gleichmütiger zu werden, Dinge einfach auf sich zukommen zu lassen und sich dann erst mit ihnen auseinander zu setzen. Diese Erkenntnis ließ sie ganz leicht werden. Ihr wurde warm vor Freude, etwas Wichtiges gelernt zu haben.
Mit einem dankbaren Blick nach oben ging sie weiter auf ihrem Weg.

 

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