Maike Odejewski

Das Glück der Engel

Als Anna durch das vereiste Fenster blickte, sah sie Tausende Schneeflocken in der kalten Winternacht im Schein des Mondes tanzen. Heut war der erste Dezember und es war schon tagelang bitter kalt. Wie jedes Jahr vor der Weihnachtszeit war Anna bei ihrer Großmutter hoch oben auf einem großen Berg, wo es schien als würde der Himmel die Erde berühren.
 
 
„Schau nur Großmutter“, schrie Anna vor Verzückung, „Es scheint als würden die Flocken draußen tanzen. Meinst du, dass der Weihnachtsmann den Weg hier oben herauf finden wird, wenn es so weiter schneien wird?“ Die Großmutter setzte sich zu dem kleinen Kind auf die Bank direkt unter dem Fenster. „Erinnerst du dich an den letzten Winter Anna? Damals war der Wind noch eisiger und der Schnee noch dichter und er hat dich trotzdem gefunden!“ Anna gab ihrer Großmutter einen dicken Schmatz auf ihren Mund und sprang mit einem freudigen Lächeln in einem großen Satz von der Bank. „Großmutter?“ wie ein kleiner Bengel lächelte Anna ihre heißgeliebte Oma an. Diese wusste sofort was Anna wollte. Sie legte noch zwei Stücken Holz in den Ofen und schob eine Pfanne mit Äpfeln in die Öffnung. Dann nahm die Großmutter die Milch aus dem Kühlschrank und stellte den Milchtopf auf den Herd. Schon bald darauf zog ein herrlicher Apfelduft durch das Zimmer. Während die Großmutter die heiße Milch mit einem Löffel Honig in zwei Becher goss, hatte Anna bereits ihr Kissen und ihre Decke aus dem Bett geholt. Ihre Großmutter nahm einen Teller aus dem Schrank und die Äpfel aus dem Ofen. Beide setzten sich auf die Holzbank. Anna kuschelte sich in ihre Decke, nahm den Apfelteller und lehnte sich an ihre Großmutter. „Erzählst du sie mir noch ein Mal?“ fragte Anna. „Ach, Anna du hast sie schon so oft gehört,“ antwortete die Großmutter, konnte jedoch den flehenden Augen ihrer Anna nicht widerstehen. Sie strich Annas Decke glatt, lehnte sich zurück und begann zu erzählen....
 
 
Es war eine eiskalte Winternacht in einem Jahr dessen Zahl heute niemand mehr weiß.
 
 
 
Josephine war so stolz, heute hatte sie ihre ersten Flügel bekommen. Jedes Menschenkind denkt Engel kommen mit Flügel auf die Welt – aber das ist nicht richtig. Engel bekommen ihre Flügel erst wenn sie auf einem Bein stehen können und mit geschlossenen Augen mit dem Zeigefinger auf ihre Nasenspitze tippen können. Und heute war Josephines Tag. Gleich heute, wenn es dunkel wird, wird sie ihren ersten Flug über die verschneiten Landschaften wagen, denn Engel dürfen sich den Menschen nicht zeigen und deswegen dürfen sie nur nachts fliegen.
 
 
 
Als die Dämmerung an diesem Abend einbrach, stand die kleine Josephine am Rande ihrer Wolke und bewegte ihre Flügel. Noch war es schwer für den kleinen Engel beide Flügel zu schlagen. Als der Mond oben am Himmel stand, schloss Josephine ihre Augen und legte sich in den Wind. Wie von Gotteshand geführt, schwebte sie über die Felder, Seen und Wälder. Ihre kleinen Händchen und ihr Näschen waren vor Kälte schon blau gefroren, aber der kleine Engel konnte nicht genug bekommen von der unendlichen weiten Welt. Da sah sie zwei helle Lichter weit unten. Um genauer sehen zu können, machte Josephine sich auf den Weg zur Erde. Sie erblickte kleine Häuser, die von Schnee bedeckt waren. In den Fenstern standen brennende Kerzen und aus den Schornsteinen stieg Rauch auf.
 
 
 
Als Josephine landete knirschte der Schnee unter ihren Füßen. Leise schlich sie an ein durch Kerzenlicht erhelltes Fenster, stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte in das Haus hinein. Drinnen sah sie eine alte Frau in einem Schaukelstuhl neben einem Kamin in dem ein Feuer brannte. Der kleine Engel erschrak als sie die tiefe Traurigkeit in den Augen dieser Frau sah. Hoch oben über den Wolken waren alle glücklich und zufrieden. Josephine hatte von ihrem Vater aber immer wieder gehört, dass die Menschenkinder nicht immer Glück haben in ihrem Leben und nicht immer glücklich sind. Aber die Blicke dieser alten Frau schmerzten in ihrem Herzen. Als Josephine sich weiter in dem Zimmer umsah, entdeckte sie ein kleines Bettchen in dem ein Kind schlief. Die alte Frau seufzte und sagte zu dem schlafenden Kind: „ Du hast so viel verloren, deine Mutter und deinen Vater. Bald ist Weihnachten und ich kann dir nichts bieten. Keinen Baum mit leuchtenden Kerzen, kein Essen und schon gar keine Geschenke. Alles was uns geblieben ist, siehst du hier.“ Der Engel sah wie ihr eine Träne über die Wangen lief. Josephine hatte so viele Fragen, Fragen die nur ihr Vater beantworten konnte. Also  begab sich mit schwerem Herzen auf den Rückflug.
 
 
 
Bei ihrem Vater angekommen setzte sie sich auf seinen Schoß und sah ihn mit traurigen Augen an. „Was ist passiert Engelchen?“ fragte er. Sie erzählte ihm was sie beobachtet hatte. Als sie ihre Erzählung beendet hatte, nahm ihr Vater sie ganz fest in den Arm. Er wusste, dass seine Josephine noch sehr klein war, trotzdem erzählte er ihr was er von der alten Frau und dem kleinen Kind wusste. Es war ein Junge, Felix. Er lebte bei seiner Großmutter, weil seine Eltern in diesem Sommer verstorben waren. Seine Großmutter war sehr arm und hatte kaum genug Geld zum Leben, aber sie gab Felix etwas was viel wichtiger war – unendlich viel Liebe.
 
 
 
Josephine sprang von seinem Schoß.  „Vater wir müssen etwas tun, wir müssen ihnen helfen!“  „Aber Kind, du weißt das dürfen wir nicht, wir können die Weltgeschichte nicht verändern.“ „Aber wir müssen! Ich habe ihre Traurigkeit gespürt.“ Josephines Vater schüttelte den Kopf lächelte sie aber an. Er kannte sein kleines Mädchen und konnte ihr nie einen Wunsch abschlagen. Sie strahlte ihn an und gab ihm einen Kuss.
 
 
 
Nur wenige Zeit später saßen zehn Engel um einen Tisch, in der Mitte die kleine Josephine. Es wurde geplant, gebastelt und gemalt. Alle hatten eine Menge Spaß dabei. Dennoch hatten sie kaum noch Zeit, in wenigen Stunden wird der Weihnachtsmorgen sein und bis dahin musste alles fertig sein. Bald waren Plätzchen gebacken, Strohsterne erschienen in einem himmlischen Licht und natürlich waren alle Geschenke zauberhaft verpackt worden. Gemeinsam machte sich die Engelschar auf den Weg zur Erde.
 
 
 
Wieder knirschte der Schnee unter ihren Füßen, als sie landeten. Auf Zehenspitzen gingen sie leise in das kleine Haus. Im Kamin glimmte noch die Glut. Auch die Großmutter war bereits schlafen gegangen. Wie besprochen machte sie jeder Engel an seine Arbeit. Der Baum wurde aufgestellt und mit den Kerzen und goldenen Sternen geschmückt. Zwei Engel waren in der Küche und bereiteten das Weihnachtsmahl vor – einen großen Braten mit Knödel und Rotkohl. Sie verzierten die Plätzchen und tauchten das Marzipan in Schokolade. Der Weihnachtsduft zog durch den Raum, hinaus zur Schornstein und hüllte das ganze schlafende Dorf in einen weihnachtlichen Schleier. Die verpackten Geschenke wurden unter den geschmückten Baum gelegt und ein Engel zündete das Feuer im Kamin an. Liebevoll schmückten sie den ganzen Raum. Draußen dämmerte es bereits als die Engel das Haus verließen und sich auf den Rückweg machten.
 
 
 
Nur Josephine und ihr Vater blieben noch ein Weilchen auf der Erde. Sie wollte sehen was passiert. Vor lauter Erschöpfung schlief sie aber in den Armen ihres Vaters ein. Sie war schon so lange wach gewesen und hatte so hart gearbeitet. Als der kleine Felix aber seine Augen das erste Mal aufschlug weckte der Vater seinen kleinen Engel. Gemeinsam schauten sie durch das kleine Fenster. „Großmutter! Großmutter! Schau!“ rief Felix als er bei herausspringen aus seinem Bett benahe über einen Teddy stolperte, den ein Engel dorthin gelegt hatte, um über den Schlaf des kleinen Jungen zu wachen. Die Großmutter traute ihren Augen kaum, als sie den im Weihnachtsglanz erstrahlten Raum sah. Gemeinsam mit ihrem Enkel setzte sie sich unter den Weihnachtsbaum und freute sich des Lebens. Josephine strahlte als sie ihr Werk betrachtete und gab ihrem Vater einen Kuss. „Danke!“ sagte sie mit einem breiten Lächeln. Beide machten sich auf den Weg zurück in den Himmel.
 
 
 
Am Abend kniete die Großmutter am Fenster und dankte dem Himmel für alles was an diesem Tag geschehen war. Seit langem waren sie nicht so glücklich gewesen. Als sie ihre Hände faltete entdeckte sie eine goldene Haarsträhne auf dem Fensterbrett. Sie konnte nur von einem Engel sein dachte sie bei sich.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.12.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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