Uwe Härtel

Die Begegnung


Tom seufzte. Irgendwie war heute nicht sein Tag. Dabei hatte er in der vergangenen Nacht hervorragend geschlafen und sich nach einem reichhaltigen Frühstück bereits in den frühen Morgenstunden auf den Weg zu seinem Lieblingsplatz im Stadtpark gemacht. Er war in bester Laune gewesen und voller Tatendrang. Doch nun?
Missmutig betrachtete er den digitalen Notizblock, der in seinem Schoß lag. Zwar hatte das erstellte Dokument bereits einen Umfang von knapp 10 Seiten, jedoch war der größte Teil des Textes bei näherer kritischer Betrachtung unbrauchbar.
 
Tomas Stendal war Schriftsteller. Vor circa 20 Jahren hatte er seine Ausbildung zum Kommunikationselektroniker faktisch über Nacht abgebrochen, um sich fortan ausschließlich jener Leidenschaft zu widmen, die ihn bereits seit der frühesten Jugend prägte: dem Schreiben. Selbstverständlich zeigten Toms Vater und Mutter damals nicht das geringste Verständnis für die Flausen, die sich ihr einziger Sohn in den Kopf gesetzt hatte – aber der im Sternzeichen Steinbock geborene Tom war von Natur aus unglaublich stur und stemmte sich mit ganzer Kraft gegen alle Versuche seiner Eltern, ihn wieder „auf den richtigen Weg“ zu bringen. Alsbald weitete sich der Disput auf seine gesamte Familie aus und führte schließlich zu einer 5 Jahre andauernden Phase der totalen Ausgrenzung. Erst nach dem Erscheinen seines ersten tatsächlich erfolgreichen utopischen Romans „Planet der Wunder“ gelang die Versöhnung, wobei Tom nur gegenüber seinen Eltern das Kriegsbeil begrub und die kriecherischen Bemühungen der restlichen Verwandtschaft geflissentlich ignorierte.
Nach den harten Anfangsjahren, in denen Tom, trotz selbstauferlegter eiserner Sparprogramme, geradezu chronisch bankrott war, hatte er sich zu guter Letzt in den Rang eines Bestsellerautors empor geschrieben. Seine Bücher verbreiteten sich in rasender Geschwindigkeit über den gesamten Globus und mittlerweile konnte er von seiner Arbeit sehr gut leben. Insbesondere die aus insgesamt 4 Teilen bestehende Romanreihe über die verzwickten Fälle des Privatdetektivs „Rick Leason“ hatte Tom weltberühmt gemacht. Er war auf der höchsten Stufe, die ein Schriftsteller in seiner Karriere erreichen konnte angelangt und er wusste genau, das er sich diese Ebene nur mit einer Handvoll Schriftsteller teilte – diese Gewissheit erfüllte ihn mit berechtigtem Stolz. Gleichwohl war Tom bescheiden genug, dieses Gefühl nicht in jener grenzenlosen Arroganz auszuleben, wie es einige seiner Kollegen taten.
 
Der überragende Erfolg der „Rick Leason“ Serie lag inzwischen 6 Jahre zurück. Wenn Tom unverhohlen über seine letzten Werke nachdachte, musste er sich eingestehen, das ihm diese immer weniger gefielen. Zweifellos waren auch die Projekte nach „Rick Leason“ sehr erfolgreich gewesen, nach wie vor verkauften sich seine Bücher Millionenfach wie von selbst und warfen einen mehr als ausreichenden Gewinn ab. Er persönlich jedoch war aus irgendeinem, für ihn selbst undefinierbaren, Grund nicht mehr wirklich zufrieden. Ehrgeiz und Motivation waren im Überfluss vorhanden, aber irgend etwas unbeschreibliches fehlte da, tief verborgen in seinem Inneren.
 
Tom saß auf seiner Bank im Stadtpark. Dieser Platz an der Anhöhe war zu seinem Arbeitsort geworden, sein Büro an der frischen Luft, ein Stammsitz, dem ihm nach all den Jahren kaum noch jemand streitig machte. Hier konnte er seinen Gedanken freien Lauf lassen und in seiner Phantasie entstanden, wie von Zauberhand, die komplexesten Welten, so das es im Prinzip nur noch um eine reine Fleißarbeit handelte, alles niederzuschreiben und zu veröffentlichen.
Doch heute kam er nur recht beschwerlich – eigentlich beinahe gar nicht – voran. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Seine Gedanken ließen sich nicht ordnen. Er stellte sich seine Vorstellungskraft stets als einen Fluss vor, der sich normalerweise mit relativ hoher Strömungsgeschwindigkeit als starker Wasserfall zu Tal stürzte. Seinen Schreibblock verwendete Tom quasi als Stausee, in dem er auf geschickte Weise den Strom seiner Gedanken auffing und speicherte...
Nein! Heute handelte es sich definitiv eher um ein armseliges Rinnsal, das noch zusätzlich mehr und mehr durch große Steine blockiert wurde, die ein gemeiner unbekannter Zeitgenosse vom anderem Ufer aus hineinwarf.
Tom blätterte eine Seite zurück und durchkreuzte unwirsch drei weitere Zeilen seines Skriptes, die daraufhin aus dem Text verschwanden, wobei gleichzeitig das Papierkorb-Symbol in der unteren linken Ecke des Displays anschwoll. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, den gerade gelöschten Textabschnitt vorher noch einmal zu lesen, denn er war davon überzeugt, das es sich um totalen Schund handelte.
Tom reckte sich und blinzelte in das Sonnenlicht. Aus irgendeinem Grund kam es ihm fahl und kraftlos vor, es fühlte sich regelrecht kalt an. In der Tat fröstelte er kurz, obwohl an diesem klaren Sommertag Temperaturen um die 25 Grad Celsius herrschten.
‚Ich werde mich doch nicht etwa erkälten?’ dachte er.
Das würde zumindest diese dumpfe mentale Blockade erklären...
Er seufzte noch einmal.
 
Der Fremde näherte sich ihm von links. Interessanterweise konnte Tom seine Gegenwart spüren, noch bevor er die Person auf dem gewundenen Parkweg herankommen sah. Natürlich flanierten täglich unzählige Menschen hier an ihm vorrüber. Einige grüßten ihn, mancher erkundigte sich sogar höflich nach einem Autogramm. Doch dieser Typ, der gerade direkt auf seine Bank zuhielt, wollte etwas ganz Bestimmtes von ihm, das wusste Tom sofort.
‚Na toll!’ dachte er, wobei sich seine Laune sofort verschlechterte. Vermutlich einer dieser typischen Vertreter, der ihm irgendetwas aufschwatzen wollte. In jüngster Zeit hatte ihn diese, zuweilen höchst nervigen, Mitmenschen zum Glück in Frieden gelassen, aber heute war es anscheinend mal wieder soweit... Gleich würde sich der Kerl in selbstsicherer „Ich-kann-sogar-aus-Scheiße-Geld-machen!“-Pose vor ihm aufbauen, sein falsches Lächeln aufsetzen und ihn mit „Hallo Herr Stendal, was für ein Glück, Sie hier anzutreffen! Ich habe da ein phantastisches Angebot für Sie...“ oder ähnlichen Worten ansprechen.
Tom blickte auf.
Der Mann, der vor ihm stand, war etwa 1.85 Meter groß, von normaler Statur, hatte kurzes schwarzes Haar und einen 3-Tage-Bart. Seine Kleidung war sehr auffällig, er trug ein lindgrünes Hemd, die oberen 3 Knöpfe absichtlich offen lassend, eine weite und leuchtend rote Jeanshose sowie weiße Turnschuhe, die mindestens 2 Nummern zu groß waren.
Das schrille Outfit tat Tom regelrecht in den Augen weh. Er wusste, das diese abenteuerlichen Farbkombinationen den neuesten Trend der Jugend darstellten, der jedoch für diesen Herrn in den grob geschätzten Mittdreißiger Jahren völlig unangebracht war!
„Was ist?!“ fragte Tom mürrisch.
Der Fremde musterte ihn einen Augenblick und atmete hörbar ein und aus.
„Es war nicht leicht, Sie zu finden, Herr Stendal!“ sagte er. Seine Stimme hatte einen angenehmen tiefen Klang. In seinen Worten schwang so etwas, wie eine gewisse Erleichterung.
Tom schüttelte kurz verständnislos den Kopf.
„Was wollen Sie?!“
Der Fremde trat noch einen halben Schritt näher heran.
„Ich möchte Ihnen... etwas schenken!“ sagte er, wobei er sich scheinbar jedes seiner Worte genau überlegte. „Etwas sehr wertvolles!“ fügte er hinzu.
„Nein danke! Kein Interesse!“
Tom machte eine knappe abwehrende Handbewegung. Er glaubte, nun mit ziemlicher Sicherheit zu wissen, um wen es sich bei diesem Herrn handelte – natürlich war das ein Anhänger jener seltsamen „Kirche des neuen Lichts“. Die Gefolgsleute dieser Sektenartigen Glaubensgemeinschaft waren bereits seit einigen Monaten in der gesamten Stadt unterwegs. Auf ihrer steten Suche nach neuen Mitgliedern begannen sie ihre Überzeugungsarbeit immer mit genau dem Satz, den der Fremde gerade ausgesprochen hatte: ‚Ich möchte Ihnen etwas sehr wertvolles schenken...’
‚Jajaja!’ dachte Tom genervt, ‚Die Zeit der Dunkelheit ist vorüber! Der Hüter des Lichtes erscheint... und so weiter und so fort... bla bla bla!!’
Eine Nanosekunde später fiel ihm ein, das sein Urteil an einem entscheidenden Aspekt scheiterte: Die Propagandisten der Sekte würden niemals in einem derartig absonderlichem Outfit herumlaufen – zumeist sah man sie in schlichte grau-grünen Gewänder gekleidet, auf denen in Herznähe das Symbol eines, von einer strahlenden Korona umgebenen, Auges prangte.
Tom überlegte hin und her und er schaute den Mann noch einmal an. Er argwöhnte, ihn irgendwo und irgendwann schon einmal getroffen zu haben. Eigentlich war das nicht übermäßig ungewöhnlich, denn die Stadt, in der er lebte, war schließlich keine Multi-Millionen-Metropole, sondern ein Kaff mit ungefähr 30.000 Einwohnern. Und dennoch... Wenn der Typ offenkundig kein Anhänger dieser dämlichen Kirche war – wer war er dann?!
‚Dieses Gesicht...’ grübelte Tom.
Er beschloss, seine vage Erinnerung in Worte zu kleiden.
„Irgendwie kommen Sie mir bekannt vor...“
Der Mann wirkte erneut sichtlich erleichtert.
„Oh gut, gut...“ hörte Tom ihn murmeln, „Dann besteht also noch Hoffnung!“
 
Einige Sekunden später machte der Fremde einen weiteren Schritt und setzte sich mit größter Selbstverständlichkeit auf die Bank neben Tom. Mit leicht gesenktem  Kopf, die Unterarme auf seine Schenkel gestützt, erweckte er den deutlich erkennbaren  Eindruck, nicht zu wissen, wie es denn nun weitergehen solle.
Tom war ein wenig pikiert. Sicher, dies war ein öffentlicher Park - aber seit Jahren hatte es niemand gewagt, sich mit einer solchen Unverfrorenheit auf ‚seine’ Bank zu flegeln! Die meisten Menschen hier wussten und respektierten, das es sich hierbei gewissermaßen um seinen privaten Bereich handelte, in dem er sich voll entfalten und in Ruhe denken und wirken konnte. Außerdem gab es ja in der näheren Umgebung weitaus mehr als genügend andere Sitzgelegenheiten mit ebenso reizvollem Ausblick auf den historischen Stadtkern.
Er ärgerte sich wirklich über den uneingeladenen Besucher. Seine Schreibblockade war an sich schlimm genug, aber nun noch in Gegenwart dieses Störenfrieds – dessen Absichten ihm überdies noch immer völlig schleierhaft waren – würde er überhaupt nicht mehr arbeiten können!
„Was schreiben Sie da?“ erkundigte sich der Fremde unvermittelt.
„Ich arbeite an einem Buch!“ erwiderte Tom gereizt. „Zumindest würde ich gerne...!“
Der Mann lies sich nicht im geringsten provozieren.
„Und? Haben Sie schon einen Namen für Ihr neues Werk??“
Nun war es aus: Tom hatte seine ohnehin geschwächte Konzentrationsfähigkeit definitiv verloren.
„Hören Sie!“ sagte er laut, „Ich weiß sehr wohl, das wir uns in einem öffentlichen Park befinden und ich über keinerlei Vorrecht auf ausgerechnet diese Bank hier verfüge – aber wenn Sie mir nicht sofort sagen, was Sie von mir wollen, gehe ich und Sie dürfen sich einen anderen Dummen suchen, der sich etwas aufschwatzen lässt!!“
Der Fremde nickte bestätigend.
„Sie haben Recht! Ich wollte Sie nicht im unklaren lassen. Aber bitte verstehen Sie...“ Er hob die Hände. „Die mir übertragene Aufgabe ist äußerst schwierig und ich weiß nicht so recht, wo ich ansetzen soll...“
„Was denn für eine Aufgabe? Und was hat Ihr Auftrag mit mir zu tun?“ fragte Tom verwirrt. „Bitte, wenn Sie irgendeine dieser neuen Sekten vertreten... Ich finde das alles ganz super, ich respektiere wirklich beinahe jede Form der Religion, aber...“
Der Mann neben ihm machte eine beschwichtigende Geste.
„Nein nein nein!“ beeilte er sich zu versichern. Tom schien es, als ringe der Mann einen Moment lang mit sich selbst.
‚Nun mach schon! Heraus mit der Sprache!’ dachte Tom.
„Okay!“ sagte der Fremde entschlossen, „Sie sind hinreichend dafür bekannt, das Sie es überhaupt nicht mögen, wenn jemand lange um den heißen Brei herumredet. Daher gestatten Sie, das ich mich Ihnen kurzerhand vorstelle: Ich bin Rick Leason!“
 
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stand Tom auf, packte den Schreibblock in seinen kleinen Rucksack und ging zügig den Weg entlang, in Richtung Parkausgang. Für ihn bedurfte die Sache keiner weiteren Erklärung. Warum sich dieser Spinner als seine berühmteste Romanfigur ausgab, konnte sich Tom absolut nicht erklären und es war ihm auch egal! Er würde nach Hause gehen, sich einen schönen heißen Kaffee machen (ihm fröstelte immer noch) und ein wenig die Seele baumeln lassen, sich den Rest des Tages frei nehmen, einfach eine Pause gönnen.
„Bitte! Laufen Sie nicht weg!“ rief ihm der Fremde hinterher.
Tom drehte sich halb herum und sah im Augenwinkel, wie der Kerl ihm – wenn auch recht zögerlich und mit Abstand – folgte.
‚Vollidioten!’ dachte Tom, ‚Sie sind überall! Ich sollte umziehen...’
„Verschwinde“ brüllte er. Er stutzte kurz, da seine Stimme einen ungewöhnlich hellen Widerhall im Park erzeugte. In der selben Sekunde entdeckte er einen der Wachschutzmitarbeiter, die in ihrer blauen Uniform im Park patrouillierten. Tom winkte ihn zu sich heran.
„Guten Tag Herr Stendal! Gibt es ein Problem?“
Der Aufseher lächelte Tom freundlich an, natürlich kannte er den Autor und fühlte sich beinahe geschmeichelt, das jener berühmte Stammgast seines Reviers eventuell seine Hilfe benötigte.
„Ja es gibt allerdings ein kleines Problem!“ rief Tom und deutete auf den Fremden hinter sich. „Dieser bunte Typ da belästigt und verfolgt mich!“
Der Parkwächter wandte sich dem Mann zu, der mittlerweile bis auf etwa 5 Meter herangekommen war, grüßte ihn knapp und beobachtete dessen Reaktion.
„Sicher nur ein Missverständnis...“
Tom blickte ihn zweifelnd an.
„Können Sie seine Personalien überprüfen?“ bat er.
„Na ja, wissen Sie, ich bin kein Polizist. Solange er Sie nicht angreift oder Parkeigentum beschädigt, sind meine Möglichkeiten leider eingeschränkt...“
„Keine Bange!“ sagte der Fremde, während er das letzte Stück auf Tom und den Aufseher zukam, „Ich zeige Ihnen meinen Ausweis freiwillig!“
Sichtlich über dessen kooperatives Verhalten erfreut, nahm der Parkwächter den dargebotenen Personalausweis entgegen und warf einen prüfenden Blick darauf.
„Hm...?!“ machte er erstaunt, „Bemerkenswert! Rick Robert Leason, geboren am 01. März 2003 in San Francisco!“
Er gab den Ausweis zurück und wandte sich wieder an Tom.
„Na so was!“ rief er erheitert, „Er heißt genau so, wie dieser Privatdetektiv aus Ihren Büchern!“
„Was Sie nicht sagen...“ stammelte Tom mit gewissem Entsetzen. Nicht nur die Herkunft und der Geburtstag stimmte exakt mit den persönlichen Daten seiner Romanfigur überein - sogar der zweite Vorname, der nur ein einziges Mal in der gesamten Buchreihe kurz Erwähnung fand! Seine eigene Fiktion stand leibhaftig vor ihm! Tom spürte, wie allmählich die Farbe aus seinem Gesicht entwich.
Der Parkwächter hingegen schien nur die Namensgleichheit bemerkt zu haben.
„Was für ein krasser Zufall!“ meinte er Kopfschüttelnd und schickte sich an, seinen Patrouillengang fortzusetzen. Für ihn war die Sache damit geklärt und erledigt. Halb im davongehen wandte er sich noch einmal an Tom: „Ich denke, Sie benötigen mich nicht mehr oder?! Ich glaube, der Mann stellt keine Gefahr für Sie dar...“
Tom winkte schwach ab, während seine Gedanken überschlugen.
 „Nein, ich komme schon klar! Vielen Dank...“ hörte er sich teilnahmslos sagen.
Kurz darauf wurde ihm mulmig zumute. Der Fremde – Rick Leason – sah dies und stützte ihn rasch. „Bitte! Setzen wir uns einen Moment! Sie sehen nicht gut aus!“
Er führte Tom zu einer etwa 3 Meter entfernten anderen Parkbank, in deren Nähe ein hübscher Springbrunnen aus weißem Marmor sprudelte.
 
Mit gezieltem Griff förderte der Privatdetektiv Toms Wasserflasche aus dessen Rucksack hervor und hieß ihn, einen Schluck zu trinken. Tom tat dies zwar, verspürte jedoch kaum Besserung seines Befindens. Der Schreck war ihm gehörig in die Glieder gefahren!
Sein Gehirn unternahm einen verzweifelten letzten Versuch, eine rationale Erklärung für diese absolut unmögliche Situation zu entwickeln.
„Es tut mir wirklich leid, das Ihre Identität offenbar auf eine derart erstaunliche Weise mit der meines Romanhelden übereinstimmt, aber ich möchte Ihnen versichern, das es sich nur um einen wahrlich einmaligen Zufall handeln kann!!“
Rick wollte etwas sagen, doch Tom war noch nicht fertig.
„Des weiteren habe ich in den Vorworten all meiner Bücher stets auf eventuelle zufällige Übereinstimmungen mit realen Personen hingewiesen – vollkommen korrekt, so wie es das Gesetz vorschreibt! Meine Werke sind rechtlich abgesichert! Ich gebe Ihnen gerne die Karte meines Anwalts, der Ihnen das bestätigen kann...“
Rick berührte vorsichtig Toms Oberarm.
„Herr Stendal! Tomas! Beruhigen Sie sich, bitte! Ich hege keinerlei böswillige Absichten gegen Sie – im Gegenteil, ich bin hier, um Ihnen zu helfen!“
Tom atmete schwer. Die Berührung des Mannes, der weder existieren konnte noch durfte, fühlte sich überaus echt an.
Wer sind Sie?!“ fragte er gleichermaßen fordernd und beunruhigt.
„Ich bin Rick Leason! Sie haben mich erschaffen, Tom!“
 
Eine Zeit lang saßen sie schweigend auf der Bank.
‚Okay...dachte Tom bei sich, ‚Im Grunde genommen gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich falle gerade auf einen absolut perfekt inszenierten Schwindel herein oder aber ich bin schlicht und ergreifend völlig verrückt geworden!’
Hastig suchten seine Augen die Umgebung nach versteckten Kameras ab, um möglichst die erste Theorie zu beweisen. Aha! Verbarg sich da, auf der anderen Wegseite, hinter diesem gedrungenen Busch nicht eine menschliche Silhouette? Tom erwartete, das im nächsten Augenblick ein Fernsehmoderator aufspringen und sich, vor lauter lachen kaum auf den Beinen halten könnend, zu ihm hinüber schleppen würde: „Na hallo hallo, Herr Stendal! Willkommen bei ‚Deutschland lacht’ – da haben wir Sie ja schön drangekriegt, hahahaha!“
Nichts dergleichen geschah.
In der Ferne nahm Tom Hundegebell wahr.
Er sah zu seiner Romanfigur, die geduldig neben ihm saß und stöhnte auf.
„Bin ich verrückt geworden? Durchgeknallt?“
Die Frage war mehr an ihn selbst gerichtet.
Er meinte, sich an Gespräche mit anderen Autoren zu erinnern. Es war schon lange her, auf irgendeinem langweiligen Empfang beim Bürgermeister. Ihm wurde von Schriftstellern erzählt, die sich auf Grund ihres gleichsam fanatischen Ehrgeizes dermaßen überarbeitet hatten, das sie im Extremfall halluzinierten und sich von ihren eigenen geistigen Schöpfungen verfolgt sahen... War diese Erinnerung real? Litt er an einer dieser besonders ausgeprägten Formen des Burn-Out-Syndroms? Vielleicht gar eine Neurose, deren er sich gerade bewusst wurde??!
„Nein“ sagte Rick Leason, „Sie sind nicht verrückt, Tomas!“
„Was dann? Träume ich?“
Rick sah ihn forschend an. „Glauben Sie denn, das dies hier ein Traum ist?“
„Eigentlich nicht.“ sagte Tom nachdenklich, „Aber alles erscheint mir so absurd! Ich meine, es ist einfach vollkommen undenkbar! Ich habe mir Rick Leason ausgedacht! Sie leben nicht wirklich, es kann Sie nicht der realen Welt geben! Sie sind ein Geschöpf meiner Phantasie! Sie existieren doch nur in meinem Kopf!!??“
„Und in den Köpfen Ihrer unzähligen Leser!“ ergänzte Rick.
Entnervt schüttelte Tom den Kopf. Er musste sehr krank sein, geistig schwerst geschädigt. Umso mehr erstaunte es ihn, das er diesen Umstand so klar erkannte.
Tom machte eine schwache resignierende Geste.
„Na gut! Egal! Was soll’s... Rick Leason, hm?!“
Sein Romanheld nickte bedächtig. In der Tat musste sich Tom eingestehen, das dieser Rick ziemlich genau seiner damaligen Vorstellung dieser Figur entsprach. Bis natürlich auf...
„Wieso laufen Sie eigentlich in diesem krankhaft bunten Klamotten herum? Meine Romanfigur würde sich niemals derart abstrakt kleiden!!“
Rick sah an sich herunter und zuckte die Schultern.
„Also mir gefällt es! Ist doch gerade der letzte Schrei oder?!“
Tom lachte auf.
„Ja, allerdings eher in der Modewelt der Teenager...“
„Würden Ich Ihnen in braunem Trenchcoat und mit Schlapphut auf dem Kopf besser gefallen?“
Tom seufzte.
„Ehrlich gesagt, ist mir das vollkommen schnuppe! Sie sind nur eine Einbildung, wenn auch eine sehr lebhafte! Ich habe ganz offensichtlich den Verstand verloren! Vielleicht habe ich auch irgendwelche Drogen genommen! Ja genau! Ich...“
Abrupt beugte sich Rick hinüber und schaute seinem Autor direkt ins Gesicht.  Hatte sich gerade die Farbe seiner Augen von grau zu braun verändert?! Tom zuckte zusammen.
„Sie wissen, das dass nicht stimmt!“
Er lehnte sich wieder ein Stück zurück.
„Tomas, Sie sind doch ein hochintelligenter Mensch! Sie müssen doch schon seit einiger Zeit merken, das viele Dinge hier nicht so sind, wie sie eigentlich sein sollten!
„Danke für das Kompliment!“ sagte Tom schroff.
Rick zog die Brauen hoch, als er merkte, das sein Gegenüber nicht weiter auf das zuletzt Gesagte einging.
„Also gut! Ich werde es Ihnen zeigen! Aber es wird Ihnen nicht gefallen... Kommen Sie mit, wir machen einen kleinen Spaziergang!“
Der Detektiv stand auf und lief langsam den leicht ansteigenden Pfad entlang.
„Kommen Sie! Es geht Ihnen doch wieder etwas besser oder?!“
„Ja, schon...“ stellte Tom fest. Nun, wo er mit Sicherheit wusste, das er den Verstand verloren hatte, fühlte er sich wirklich besser.
 
„Wo ist das, was Sie mir zeigen wollen, Mister Leason?“ fragte Tom. Er sprach den Namen des anderen absichtlich mit einer provokanten Tonlage aus. ‚Ach wie herrlich ist es doch, zu wissen, das man irre ist!’ dachte er spöttisch.
„Oh, es ist nicht weit! Gleich hinter dem Hügel, auf der anderen Seite des Parks!“
Gemächlich spazierten der Schriftsteller und seine Fleisch gewordene Romanfigur nebeneinander einher.
„Mal angenommen,“ sinnierte Tom, „ich würde einfach meinen Notizblock nehmen und eine kleine Geschichte schreiben, in der Rick Leason stirbt! Was würde dann passieren?!“
„Das weiß ich nicht.“ gestand Rick freimütig.
Tom fand sichtlichen Gefallen an dieser paradoxen Idee.
„Sie selbst sagten doch vorhin, das Ich Sie erschaffen hätte – was ja auch richtig ist. Folglich müsste ich doch auch über die Fähigkeit verfügen, Ihr Schicksal ganz nach meinem Belieben zu lenken, Sie gar zu töten - hier und jetzt, auf der Stelle?!“
Rick schien nicht im sonderlich beeindruckt, geschweige denn verängstigt zu sein.
„Das würde Ihren Lesern und Fans aber gar nicht gefallen!“
Tom verdrehte die Augen.
„Oh natürlich! Die verehrte Leserschaft!“ rief er ironisch, „Meine Fans würden mir sicher nie verzeihen! Wie konnte ich nur so herzlos und unsensibel sein!“
Sie passierten eine weiße Holzbrücke, die über einen lebhaft dahinplätschernden Bach führte. Der Weg dahinter stieg noch etwas stärker an, aber Tom verspürte keine übermäßige Anstrengung während des Laufens. Er kannte den Park in- und auswendig. Gleich nach einer Rechtskurve würden sie einen weiteren Aussichtspunkt erreichen. Allerdings wurde das Panorama an dieser Stelle durch ein recht hässliches Industriegebiet getrübt, daher bevorzugte Tom seit jeher die gegenüberliegende Seite des Parks.
Entschlossen zückte Tom seinen Notizblock und schaltete ihn ein. ‚Der letzte Fall des Meisterdetektivs’ schrieb er hastig auf eine leere Seite.
Er grinste heimtückisch.
„Soll ich es mal versuchen? Na? Bekommen Sie Angst?“
Leason sah ihn an, in seinem Blick erkannte Tom eine gewisse Besorgnis, jedoch keine Spur von Furcht.
„Vielleicht können Sie mich tatsächlich auslöschen, wenn Sie eine entsprechende Geschichte verfassen! Aber ich meine, Sie würden sich damit in erster Linie selbst Schaden zufügen!“
Tom ließ seinen Schreibblock sinken. Sein Grienen verschwand schlagartig.
‚Er hat Recht! Diese Ausgeburt meiner kranken Phantasie ist ein Teil von mir! Wenn ich ihn ermorde, verletze ich mich nur selbst! Andererseits: Wer garantiert mir denn, das eben die Beseitigung dieser Figur nicht einen Ausweg aus dieser schrecklichen Wahnvorstellung darstellt?! Womöglich sogar den einzigen Ausweg...’
 
Rick Leason blieb stehen. „Wir sind da!“
„Hurra!“ machte Tom zerknirscht.
Der Detektiv deutete mit ausgestreckter Hand auf den Horizont.
„Was sehen Sie?“
Tom ließ seinen Blick über die südliche Stadt schweifen. An dieser Stelle des Parks hatte er schon Tausend mal gestanden und auch jetzt gab es nichts neues zu entdecken. Die Fabriken, dahinter ein Wohngebiet, der Friedhof am Ortsende, dann folgten ausgedehnte Felder. Einige Kilometer entfernt brauten sich am, ansonsten makellos azurblauem, Himmel dunkle Wolken zusammen.
„Hm, sieht nach einem Gewitter aus...“
„Bitte schauen Sie genauer hin!“ verlangte Leason.
Tom kniff die Augen zusammen, um die Wolkenformationen in der Ferne besser zu erkennen. Als er sah, was sich tatsächlich am Himmel abspielte, erschauderte er bis ins Mark. Das, was sich da mit zunehmender Geschwindigkeit ausbreitete, war kein gewöhnliches Sommergewitter. Diese Wolken waren nicht nur dunkel sondern Pechschwarz! Weiter an Umfang gewinnend waberte eine unheilvolle Masse der Finsternis über der Stadt. Es schien, als wollten diese Formationen, einem schwarzen Loch gleichend, alles lebendige um sich herum verzehren!
Zum ersten Mal bekam es Tom nun wirklich mit der Angst zu tun. Seine Panik nahm zu, als er kurz  darauf bemerkte, wie dieses unbegreifliche Nichts am Firmament begann, ihn förmlich auszusaugen! Es labte sich an seiner Seele, an seinem Leben!
„Verdammt!! Was ist das?!“ rief Tom fassungslos.
Rick blickte ihn konzentriert an.
„Ich denke, Sie wissen, was das ist! Das ist das Ende. Der endgültige Exitus Ihrer Welt! Die ewige Nacht!“
Tom schluckte schwer. Er hatte es sofort geahnt.
„Der Tod...“ flüsterte er.
Es gelang ihm nicht, seinen Blick von dem grauenvollem Treiben abzuwenden.
„Ich sterbe!“ stellte er fest, „Und Sie, Rick Leason sind mein Begleiter in den Tod, weil Sie ein Teil von mir sind...“
Es war kein Zufall, das der Ursprung der schwarzen Masse über dem Friedhof lag.
„Ich sterbe...“ wiederholte Tom, „So ist das also...“
Er fühlte, wie eine lähmende Müdigkeit in seinen Geist hineinkroch. Die Endgültigkeit zerrte an ihm. Mehr und mehr ließ er sie gewähren...
 
Rick drängte Tom weiter den Weg entlang.
„Es gibt zwei Möglichkeiten für Sie Tom, zwei Wege!“ sagte er.
Tom unternahm einen eher zaghaften Versuch, sich zu wehren.
„Lass mich in Ruhe! Hau ab! Es ist doch sowieso zu spät!“
Doch Leasonhörte nicht auf, ihn zu schieben. Er strebte weiter die Anhöhe hinauf.
„Ganz und gar nicht! Ich werde Ihnen noch die andere Seite zeigen, meinen Weg!“
Tom sträubte sich nicht mehr. ‚Was kann ich noch großartig verlieren?’ schoss es ihm durch den Kopf, ‚Mal abgesehen von meinem Leben! Ha ha!’
Sachte, beinahe unmerklich, ließ das furchterregende Gefühl des Sterbens nach.
„Gut! Gehen Sie vor! Zeigen Sie es mir!“
Der Detektiv schritt voran.
„Bleiben Sie dicht hinter mir!“ rief er, „Schauen Sie sich keinesfalls um! Reden Sie mit mir! Halten Sie Ihren Geist wach! Stellen Sie Fragen!“
„Okay“ keuchte Tom, der auf einmal die Anstrengung des Aufstiegs deutlich wahrnahm, „Erste Frage: Wo wollen wir hin?!“
„Auf den Gipfel!“ sagte Rick, ohne stehen zubleiben, „Sie müssen die Sonne sehen!“
 
Im gleichen Moment, als Tom endlich den Blick von der bedrohlichen Masse abgewendet hatte, wich auch die Mattigkeit von ihm. Dennoch wusste er, das sich die schwarze Ewigkeit weiter unaufhaltsam ausbreiten und ihn alsbald einholen würde, wenn dieser Rick Leason ihm nicht schleunigst eine Alternative präsentierte.
„Ist das Ihre Mission?“ fragte Tom, „Die Aufgabe, von der Sie sprachen?“
„Ja.“ bestätigte Rick, „Wie ich bereits sagte, bin ich hier, um Ihnen zu helfen!“
Tom schwenkte die Arme.
„Dann ist also... diese ganze Welt hier nicht real?!“
„Für Sie schon! Das genau ist ja das Problem!“
Tom lauschte in den Park hinein, hörte das zwitschern der Vögel und das vergnügte Geschrei der Kinder, die auf dem nahen Spielplatz herumtobten. Er spürte, wie ein leichter Wind durch seine Haare strich. Willkürlich zupfte er ein mittelgroßes Blatt von einem Strauch am Wegesrand, zerrieb es ein wenig zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachtete es ungläubig. Wenn die Realität tatsächlich nur eine Illusion sein sollte, war diese jedenfalls von beispielloser Perfektion!
„Wo bin ich dann? Was ist das hier alles, wenn es kein Traum ist?!“
Rick hielt inne. Sie waren auf dem Gipfel des Hügels angekommen. Hier stand ein etwa 15 Meter hohes Denkmal des Stadtgründers.
„Uff!“ machte Tom, leicht außer Atem und betrachtete das bronzene Schild am Sockel der Statue, obwohl es ihm fraglos längst bekannt war.
‘Hermann Sandler. 1844 – 1912’
Rick Leason drehte sich zu ihm.
„Es ist kein Traum! Es ist etwas ungleich tiefliegenderes!“
„Erklären Sie es mir endlich!“ forderte Tom, auf alles gefasst. „Wo bin ich?!“
„Sie leben in einer Scheinwelt, Tom! Ich weiß leider nicht, was genau Ihnen zuvor widerfahren ist, aber sie befinden sich in einem tiefem Zustand des Komas!“
Tom stockte der Atem. Gleichzeitig fühlte er mit allen Sinnen, wie sich die Welt um ihn herum auf unbeschreibliche Weise veränderte. Die Umgebung begann zu zerfließen, sich aufzulösen!
„Sie liegen in einem Krankenhaus, im Alpha-Hospital.“ fuhr Rick ungerührt fort, „Möglicherweise erlitten Sie einen Unfall oder einen Infarkt. Wie gesagt, ich kann Ihnen die genauen Umstände nicht erläutern, da sie mir nicht bekannt sind. Auf jeden Fall liegen Sie in Koma! Sie haben Ihr Bewusstsein außerordentlich tief in sich selbst zurückgezogen und überdies sozusagen ein dickes Schloss vor die Tür zur Ihrer Welt gehängt! Es war wirklich verdammt schwer, hier einzudringen...“
Tom starrte auf das Denkmal des Stadtvaters. Die steinerne Person verwandelte sich, nahm eine neue Form an!
‚Tomas Stendal.’ las er, ‚2007 - ?’
„Interessant!“ bemerkte Rick.
„Wer oder Was bist Du?!“ fragte Tom atemlos.
„Einfach ausgedrückt, bin ich das Ergebnis einer cerebralen Infiltration. Die Ärzte hier sind in der Lage, bestimmte Bereiche des Gehirns zu aktivieren und dem zurückgezogenen komatösen Bewusstsein eine Art weckenden Impuls zu vermitteln!“
Tom blickte weiterhin auf das Denkmal. Der Gründer der Stadt, seiner inneren Stadt.
„Man hat mir eine Injektion in den Kopf gejagt?“
Der andere nickte „Was sie bewirkt, liegt einzig und allein an Ihnen!“
„Hm... Und warum ausgerechnet Rick Leason?!“ fragte Tom.
„Wieso nicht? Beziehungsweise wer käme denn sonst in Frage? Sie sind weder verheiratet noch haben Sie Kinder. Die Anzahl ihrer Freunde, denen Sie wirklich vertrauen können, ist ebenfalls recht gering. Die Aufgabe des Impulses bestand darin, eine prägnante Persönlichkeit Ihres Lebens zu modellieren – ob nun erdacht oder real, das spielte in dem Moment keine entscheidende Rolle!“
Er deutete zur fahlen Scheibe der Sonne hinauf.
„Sehen Sie! Das ist der andere Weg! Die zweite Möglichkeit!“
„Ich werde mir die Netzhaut verbrennen, wenn ich direkt in die Sonne gucke!“ knurrte Tom. In der Tat blendete ihn das Licht, aber es schmerzte nicht wirklich. Irgendwie ging etwas verlockendes von diesem Schein aus. Tom fühlte eine seltsame Form neuer Energie, die Ihn nun von Kopf bis Fuß durchströmte. Aber die Sonne war schwach und das schwarze Nichts der Ewigkeit hatte unterdessen bereits rund zwei Drittel der Himmelsfläche vereinnahmt.
Einen Moment lang fühlte er intensiv den Kampf der beiden gegensätzlichen Mächte, der sich in ihm abspielte. Die Finsternis zerrte mit Gewalt an ihm und verbreitete nichts als pure Angst - die Sonne zog ihn sanft in die entgegengesetzte Richtung und lockte mit Versprechungen. Welche Seite wohl gewinnen würde? Tom fror wieder, die Kraft der Sonne schien nicht auszureichen.
„Wie gelange ich dahin?!“ fragte Tom.
„Das ist recht einfach, ich werde es Ihnen gleich sagen. Aber zunächst müssen Sie unbedingt noch etwas sehen!“
Rick kramte in der Gesäßtasche seiner Hose und holte schließlich einen kleinen Handspiegel heraus.
„Sie müssen sich selbst erkennen! Sonst funktioniert es nicht!“
Zögernd nahm Tom den Spiegel und blickte hinein.
Er sah sein Antlitz, wie er es seit jeher kannte.
‚Toller Zauberspiegel’ dachte er und wollte die Hand gerade ernüchtert sinken lassen. Doch plötzlich veränderte sich das Spiegelbild, zunächst mutierte es auf groteske Weise zu Rick Leason, der ihn mit seinen braunen Augen ruhig und fest anblickte. Dann zerflossen die Gesichtszüge erneut und manifestierten sich wieder zu Tom zurück – doch halt! Der Tomas Stendal, der ihm nun mit erstaunten Augen aus dem Spiegel entgegenblickte, war um einiges gealtert, hatte schütteres graues Haar und diverse Falten im Gesicht!
„Scheiße!“ murmelte Tom und fragte dann an Rick gewandt: „Wie lange bin ich schon hier? In dieser Scheinwelt?“
„Schon sehr lange... Viel zu lange!“ entgegnete der Detektiv.
Über ihnen grollte ein lauter Donnerschlag. Das Gewitter hatte den Park erreicht.
Leason blickte zum Himmel hinauf.
„Es ist soweit! Sie müssen jetzt aufwachen, Tomas!“
Tom fühlte, wie das gesamte Universum unter seinen Füßen zerbröckelte.
„Aufwachen...?!“ hörte er seine eigene Stimme aus weiter Ferne.
„Ja! Ich hebe sie ein Stück hinauf, damit Sie die Sonne erreichen können!“ sagte Rick. „Sie nehmen den Weg, den ich gekommen bin! Es ist wirklich ganz leicht! Sie müssen nichts weiter tun, nur loslassen! Sie benötigen diese Welt hier nicht mehr! Lassen Sie sich einfach ins Licht ziehen...“
Tom schwebte der Sonne entgegen. Das unangenehme zerren des Todes verebbte vollends. Plötzlich fühlte er sich unendlich glücklich und frei.
„Auf Wiedersehen Rick Leason! Vielleicht schreibe ich ja noch ein fünftes Buch über Dich, mit Dir...“
Seine Stimme hallte, als riefe er in einen großen Saal hinein.
„Sie müssen aufwachen, Tom...“ wiederholte Rick unbeirrt.
Es donnerte erneut, noch heftiger als zuvor. Das Grollen wandelte sich zu einer unfassbar weit entfernten, Abgrundtiefen Stimme. „Herr Stendal?! ... Tomas!“
‚Hallo!’ grüßte Tom, ‚Bist du Gott?’
„Wir haben ihn, Professor!“ dröhnte die ferne Stimme, langsam in der Frequenz ansteigend, „Der Funken hat gezündet! Er kommt zu sich!“
Um Tom herum blitzte es heftig. Er sah nach unten. Die Welt war komplett verschwunden. Nur seine Statue war noch da und Rick Leason stand davor.
Er winkte ihm zu.
„Loslassen Tom!“ rief er hinauf, „Wachen Sie auf...“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.12.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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