Liebe Marlene!
Wie schön, daß Du so bald nach Deiner Ankunft in den Staaten
an mich gedacht hast. Ich platze zwar immer noch fast vor Neid, wenn ich
darüber nachdenke, wie sehr Dir das Glück mal wieder hold ist - wer hat schon
die Möglichkeit, sich dort ein Jahr lang auf Geschäftskosten umzusehen - aber
das soll unsere Freundschaft nicht trüben. Schließlich komme ich so zu ein paar
Neuigkeiten aus erster Hand und das sollte zumindest das Gesprächsniveau bei
unseren Bürokaffeerunden etwas heben.
Was sich hier Neues getan hat? Na, das kannst Du Dir doch
sicher vorstellen: Nämlich nichts.
Der Chef jammert genauso über Deinen Weggang, wie er es
bisher bei jeder Schwangeren getan hat. Und es wird auch diesmal dauern, bis
die nächste schwanger wird. Bei Annette habe ich da einen gewissen Verdacht...
.
Darauf, daß nochmal eine aus seiner Abteilung das große Los
zieht, so wie Du, kann er nicht warten. Wie die Gerüchteküche meldet, wird das
erst in ein paar Jahren sein. Wenn er auch zu einem Themenwechsel unfähig ist,
so möchte er anscheinend doch wenigstens den Namen der Vielbeklagten ändern.
Na, das alles kennst Du ja selbst zur Genüge. Sei froh, daß
Du mal etwas anderes siehst. - Was meinst Du übrigens damit, Du müßtest da
drüben ganz schön schuften? Du brauchst mir gar nichts vorzumachen! Ich weiß sehr
wohl, was mir alles entgeht: neue Klamotten, neue Wohnung, neue Menschen, ... .
Eine neue Liebe, wer weiß?
Apropos Liebe. Jakob war gestern hier. Du erinnerst Dich
doch an ihn? Er fand, es sei mal wieder an der Zeit, sich um mich zu kümmern.
Ausgerechnet er!
Ich dachte mir gleich, das sei nur die Einleitung zu einem
seiner üblichen Hirngespinste. Und tatsächlich, nachdem er zwei Tassen Kaffee
und mein - letztes!!! - Stück Apfelkuchen verdrückt hatte, kam er sofort zur
Sache.
Er erinnere sich an meinen Beitrag zur
Betriebsfaschingszeitung vor drei Jahren, meinte er und, ich hätte doch in
letzter Zeit sicher einiges zu Papier gebracht? Du lieber Himmel, ich hatte
selbst kaum noch an den Artikel gedacht. Bis heute ist mir vollkommen
unverständlich, wie ich mich damals habe breitschlagen lassen, ihn überhaupt
abzugeben. Zum Glück mußte ich nicht allzulange für jene Albernheit gerade
stehen, denn der olle Maier ging zwei Monate später in Rente und man begann
unverzüglich dieses brandneue Ereignis auf das Ausführlichste von allen Seiten
zu beleuchten.
Und wer hätte daran denken mögen, Jakob würde drei Jahre
lang in seinem Gedächtnis behalten, was ich ihm nur einmal zeigte, um ihn
wenigstens für ein paar Minuten in seinem Redefluß zu unterbrechen.
Jedenfalls meinte er, der Artikel sei sehr unterhaltsam
gewesen und da ich permanent ablehnen würde, mit ihm auszugehen, müßte mich
wohl etwas Sinnvolleres zu Hause festhalten und da sei ihm eben die Idee
gekommen, ich würde heimlich schreiben.
Ich bitte Dich, wer außer Jakob könnte „sinnvoll“ und
„schreiben“ in einem Atemzug verwenden. Ich ging jedoch nicht näher darauf ein,
sondern entgegnete nur, mir lägen Heimlichkeiten von Natur aus fern.
Aufdringlich, wie er nun einmal ist, überhörte er
absichtlich meinen Versuch, das Thema zu beenden. Er fragte nur seelenruhig, ob
er denn dann diese „nicht heimlichen Ergüsse“ einmal sehen dürfte.
Mir verschlug es die Sprache, denn er hatte doch glatt ins
Schwarze getroffen. Natürlich liegt bei ihm der Gedanke nahe, daß es ein reiner
Zufallstreffer war, aber ich gestehe, meine Reaktion war zu deutlich. Ich
wehrte energisch ab. Was ich so vor mich hinkritzle, sei doch wirklich nicht
für jedermann bestimmt.
Leider war ihm das völlig egal. Er hatte in einer Zeitung
von einem Wettbewerb gelesen. Die beste Geschichte unbekannter Autoren solle
prämiert werden. Welcher Gedanke lag näher, als mir davon zu erzählen, um mir
endlich die Gelegenheit geben zu können, mein Talent unter Beweis zu stellen.
Hahaha!!!
Rein höflichkeitshalber fragte ich nach dem Thema. Was ist
es wohl? Die Liebe. Toll, nicht wahr, mal etwas ganz Ausgefallenes. Und
überhaupt, was soll ausgerechnet mir dazu einfallen? Das wollte ich auch von
Jakob wissen. Doch der hatte sich alles schon genau überlegt.
Er fing an, der Reihe nach alle Möchtegern-Männer aus
unserem Bekanntenkreis aufzuzählen und mir irgendwelche Techtelmechtel mit
ihnen anzudichten. Und ehe ich ihn davon überzeugen hätte können, wie
lächerlich seine Vermutungen waren, kam er schon zu dem Schluß, diese
Erfahrungen würden wohl für ein paar Seiten schmalzigen Liebesstoff ausreichen.
Schmalzig - er muß komische Vorstellungen davon haben, was
Frauen erwarten.
Zuerst stritt ich natürlich alles heftig ab, aber langsam
kam mir der Gedanke, Jakob würde mich wieder mal auf den Arm nehmen. Ich sagte
darum nur noch, von allem was er mir unterstellen würde, hätte ich überhaupt
keine Ahnung.
Daraufhin meinte er lapidar: Wenn es so sei, und ich hätte
von der Liebe tatsächlich keine Ahnung, sollte ich mir vielleicht bald mal
jemanden suchen, um meine ersten Erfahrungen zu machen. Das würde mir nicht nur
eine Erfolgsstory einbringen, sondern davon abgesehen auch einen großen Gewinn
für meine gesamte persönliche Entwicklung.
Ich hätte ihn am liebsten rausgeschmissen. Aber in diesem
Augenblick hatte ich nur den einen Gedanken: Es wäre alles umsonst gewesen. Die
ganze Mühe und dieser Streß den ich gehabt hatte, alles ganz vergebens. Denn
natürlich hatte er erst mittags bei mir im Büro angerufen, um mir seinen Besuch
anzukündigen - völlig überraschend nach fast zwei Wochen absoluter Funkstille.
Ich wußte ja gar nicht, was ich anziehen sollte und beim Friseur war ich auch
schon ewig nicht mehr gewesen. Eine Sekunde hatte ich mit dem Gedanken
gespielt, ihn auf ein anderes Mal zu vertrösten, aber wer weiß, wieviel Zeit
dann vergangen wäre, ehe er sich wieder gemeldet hätte.
In aller Eile ließ ich also meine Haare in Ordnung bringen,
unterzog meine Wohnung der schnellsten Putz- und Aufräumaktion, die sie je
erlebt hat, durchstöberte meinen Kleiderschrank und fand tatsächlich ein
Kostüm, das er noch auf keinen Fall kennen konnte. Du weißt schon, das blaue,
das ich mir zur Hochzeit meines Bruders gekauft hatte.
Als es klingelte, war ich gerade damit fertig, mich zu
schminken, und spürte plötzlich, wie mir der Magen knurrte, denn mittags war
ich viel zu aufgeregt gewesen, um etwas zu essen und nach der Arbeit blieb bei
all der Hektik natürlich keine Zeit mehr dazu.
Vielleicht hältst Du mich jetzt für verrückt, Marlene. Du
fragst Dich sicher, wozu dieser Aufwand. Und im allgemeinen gebe ich Dir da
auch vollkommen recht. Du mußt nicht glauben, daß ich immer so aus dem Häuschen
gerate, nur weil irgend jemand bei mir vorbeischaut. Aber Du erinnerst Dich
doch sicher an den Donnerstagabend, an dem wir auf der Vernissage waren und ich
Dir Jakob vorstellte. Es ist Dir vielleicht auch aufgefallen, daß er mich,
bevor er sich von uns verabschiedete, kurz beiseite nahm. Er sagte: „Judith wir
müssen uns unbedingt wieder treffen. Ich melde mich bei Dir.“ Und wie er mich
dabei angesehen hat! Es schien mir sehr verheißungsvoll. Ist doch klar, daß ich
zwei Wochen lang, wie auf Kohlen saß.
Und dann kommt er, dieser unmögliche Mensch, läßt sich beim
Essen zusehen, während ich fast umkomme vor Hunger und faselt irgend etwas von
einem Wettbewerb. Und als ich denke, er kommt endlich zur Sache, da gibt er mir
den Rat ich solle mir „bald mal jemanden suchen“. Kein Wort über meine neue
Frisur und überhaupt. Dabei sah ich wirklich gut aus, gar nicht so gestreßt,
wie ich mich eigentlich immer noch fühlte.
„An mir kann es ja wohl nicht liegen.“ sagte ich daher
giftig und mir fiel auch noch ein, wie ich das bekräftigen könnte. Ich sagte
ihm nämlich, sogar Martin fände mich attraktiv.
Nun wollte er natürlich wissen, wer das sei und ich erzählte
ihm von unserem neuen Juniorchef. Schade, daß Du den nicht mehr kennengelernt
hast. Ein Bild von einem Mann, leider schon vergeben, aber das ging ja Jakob
nichts an!
„So, und der sagt, Du seiest attraktiv?“ fragte Jakob und
mir fiel auf, wie zweifelnd das klang. Als ob ich eine Schreckschraube wäre!
Ja, er fände mich sogar sehr attraktiv, entgegnete ich daher.
Es war nicht absolut gelogen, denn obwohl Martin zwar
verheiratet ist und in der Firma genug anderes zu tun hat, als weiblichen
Angestellten nachzusehen, konnte ich an seinem Blick doch schon mehrmals
erkennen, daß er meine Erscheinung ansprechend fand. Das ist doch wohl so gut,
als hätte er es ausgesprochen.
„Und von so jemandem, wie Deinem Martin hört man das natürlich
gern.“ meinte Jakob bissig. Er war doch schon wieder dabei, mir irgendein
Verhältnis anzuhängen. Und irgendwie hatte ich plötzlich die Nase restlos voll.
Abstreiten hätte sowieso nichts mehr geholfen, also gab ich ihm recht. Es täte
einer Frau wirklich gut, sagte ich, wenn ihr gelegentlich jemand erklärte, sie
sei hübsch, oder angenehm oder eben attraktiv und wenn das aus dem Mund eines
Mannes käme, der sich sehen lassen konnte, zählte das natürlich doppelt.
Jakob wollte wissen, was sich sehen lassen könne, Martin
selbst, oder seine Stellung oder sein Einkommen. Und ich sagte ihm
wahrheitsgemäß, daß in diesem Fall eben alles zusammenträfe.
Und weißt Du, was er dann tat, Marlene? Er stand auf und
meinte: „Ja dann, alles Gute, Judith.“ und ging einfach.
Du kannst Dir sicher vorstellen, daß ich erstmal fix und
fertig war. Ist das ein Verhalten, sich selber einzuladen und dann mitten im
Gespräch sang- und klanglos zu verschwinden?! Ich habe die ganze Nacht damit
zugebracht, über diesen seltsamen Besuch nachzugrübeln. Was wollte Jakob
eigentlich? Wollte er tatsächlich, daß ich etwas für diesen Wettbewerb
schreibe, damit er sich im Nachhinein brüsten kann, er hätte mich entdeckt? -
Wenn etwas draus würde, selbstverständlich nur. - Oder wollte er sich nur mit
mir unterhalten und es fiel ihm kein vernünftiges Thema ein? Beim besten
Willen, ich bin bis heute nicht draufgekommen.
Jedenfalls hatte er offensichtlich nicht die geringsten
Ambitionen das auszusprechen, was ich nach seinem Benehmen auf der Vernissage
gehofft, oder doch zumindest vermutet hatte.
Und das muß mir passieren! Marlene, Du kennst mich doch, ich
falle doch bestimmt so schnell auf jemanden herein. Und ich gebe mich im
allgemeinen auch keinen falschen Hoffnungen hin. Und dann erwischt es mich wie
einen Backfisch. Na ja, irgendwie werde ich schon darüber hinwegkommen. Es ist
eben das alte Lied. Die Guten sind entweder schon eingefangen worden, oder sie
betrachten einen nur als Kumpel, bei dem man schnell mal zwei Tassen Kaffe
trinkt und ein Stück Apfelkuchen ißt und sich dabei über belangloses Zeug
unterhält. Vielleicht hat Jakob sonst niemanden, bei dem er das machen kann.
Jetzt habe ich ziemlich viel Papier für eine unerfreuliche
Geschichte verplempert. Aber was soll’s, Du bist weit weg, da ist sie bei Dir
gut aufgehoben. Vielleicht, weißt Du auch jetzt endlich zu schätzen, was Dir
Dein Aufenthalt im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ bietet. Ich nehme
stark an, daß es in Deiner Umgebung ein paar wirkliche Männer gibt, die nicht
ins übliche Klischee fallen. Warum sollten ausgerechnet in dieser Hinsicht
Möglichkeiten beschränkt sein!
So bleibt mir nur wie Jakob zu sagen: Viel Glück, Marlene!
Denn ehrlich gesagt, ich würde mich nicht darauf verlassen, daß Richard mir ein
Jahr lang treu bliebe, auch wenn Ihr vorhabt einmal die Woche zu telefonieren
und er seinen Jahresurlaub bei Dir verbringen möchte.
Nein, nein, ich habe nichts gehört oder gesehen. Ich sage ja
nur, ich wäre mir nicht sicher.
Enjoy yourself!
In Freundschaft
Judith