Der Winter hatte schon seit einiger
Zeit Einzug gehalten. Jeden Tag kamen neue Schneeflocken auf die Erde
hinabgewirbelt und verliehen den Fenstern bezaubernde Muster. Die Kinder bauten
Schneemänner oder versuchten während einer hitzigen Schneeballschlacht einen
glorreichen Sieg einzufahren. Von überall her drang fröhliches Lachen. In den
Straßen wurden die schönsten Weihnachtslieder gespielt und ein jeder genoss die
besinnliche Zeit mit seiner Familie. Es war kurz vor Nikolaus und überall sah
man Menschenmassen durch die Läden hasten, um in letzter Minute noch ein paar
kleine Geschenke zu besorgen.
So kam es, dass auch im
Schuhgeschäft „Stiefel-Zauber“ reger Betrieb herrschte. Den Schuhmacher freute
dies ungemein, auch wenn eine kleine Träne auf seinem Herzen lag. Dieses
Weihnachten sollte das letzte sein. Danach würde er den Laden für immer
schließen müssen. Die großen Handelsketten hatten ihn in den Ruin getrieben.
Dennoch war er stolz genug, um noch einmal alles zu geben. „Wenn ich schon
schließen muss, dann nicht ohne noch ein kleines bisschen Magie in die Welt zu
setzten“, dachte er sich, bevor er den Laden für eröffnet erklärte.
In den letzten Wochen schuf er
etliche bezaubernde Paar Schuhe, welche nun im Nu über die Ladentheke gingen.
Seine letzte Anfertigung erfüllte ihn mit besonderer Erfurcht: Ein kleiner
rotbrauner Stiefel. Leider hatte er nicht mehr genügend Material, um ihm einen
Freund zu schenken. Dafür war in diesem Stiefel all seine Herzenswärme
verarbeitet. Die Nähte bestanden aus zarten Goldfäden, so dass man meinen
könnte, er hätte Elfenhaar verarbeitet. Auf die Vorderseite stickte er kleine
ultramarinblaue Äuglein, die scheu und neugierig in die Gegend lugten. Schwarze
Seidenschnürsenkel zogen sich geschmeidig durch passgenaue Metallösen, welche
bei unterschiedlichem Lichteinfall ein farbenfrohes Lied spielten. Sein Inneres
bestand aus weichem, hellblauen Flaum. An beiden Seiten waren des weiteren
kleine Zweige aufgedruckt, an denen jeweils eine kleine, silbern schimmernde
Kugel und eine Bienenwachskerze Unterschlupf fanden. Beim Anblick seiner
letzten Schöpfung entwich dem Schustermeister Brummbär ein kleiner Seufzer.
Langsam näherte sich der
Ladenschluss und „Niko-Laus“, wie der kleine Stiefel liebevoll genannt wurde
stand immer noch auf seinem Platz an der Ladentheke. Viele Kunden, vor allem
Kinder, fanden ihn einfach hinreisend. Unzählige hatten sich jedoch bereits für
ein Paar entschieden und wollten kein zusätzliches Geld für einen einzigen
Schuh ausgeben. „Das wäre nur Geldverschwendung.“, wurde den Kindern als
absolut entgültige Entscheidung immer wieder vorgetragen. Und so kam es, dass
achtundfünfzig Sekunden vor dem entgültigen Aus, der „Niko-Laus“ als letzter
übrig geblieben war. Traurig schaute der Meister ihn an. Da kam ein kleines
zerzaustes Mädchen in den Laden gestolpert und fragte, ob es sich kurz unterstellen
könne. Draußen rauschte ein heftig eisiger Wind und erst jetzt bemerkte der
„Stiefel-Zauber“ Besitzer, dass die Fensterläden ruhelos gegen die klaren
Fensterscheiben stießen. „Natürlich kannst du dich hier unterstellen. Komm
rein. Magst du eine heiße Schokolade haben?“, antwortete er mit einem Lächeln,
welches liebevoll seinen angegrauten Bart umspielte. Das Mädchen, es mochte
nicht älter als 9 Jahre alt sein, schaute überglücklich und ein heftiges Nicken
begleitete das Strahlen in ihren honiggoldenen Augen. Sie stellte sich als
Leonie vor und bedankte sich für die herzliche Einladung. Ihre Kleidung glich
der eines Bettlers: Der Umhang war an allen möglichen Stellen ausgefranst und
eingerissen. Man mochte kaum glauben, dass er überhaupt noch warm hielt. Aus
der Hand geben wollte sie ihn jedoch auf keinen Fall. Ihr Gesicht war ruß
verschmiert und die feuerroten Haare standen ab, als wenn sie einen
elektrischen Schlag abbekommen hätte.
Gemeinsam saßen da nun zwei
Menschen, in einem ansonsten wie ausgestorbenem kleinen Raum und wärmten sich
an frischer Schokolade. Leonie war nicht sehr gesprächig. Ihre Augen verrieten
eine unablässige Wachsamkeit gemischt mit ausgeglichener innerer Ruhe. Eine
besondere Anziehungskraft hatte der kleine „Niko-Laus“ auf sie und es viel ihr
schwer ihn nicht ständig wie gebannt zu fixieren. Dem Schustermeister entging
das natürlich nicht. Weiterhin bemerkte er auch das feuchte Glänzen in ihren
Augen.
Nachdem die Tassen geleert waren
und der Sturm an seiner ohrenbetäubenden Intensität verloren hatte,
verabschiedeten sich die zwei Menschen, welche sich an einem normalen Tag wohl
nie begegnet wären. Kurz bevor das Mädchen in die kühle Nacht verschwand, überreichte
Brummbär ihr noch den verbliebenen Stiefel: „Ich wünsche Dir ein frohes Weihnachtsfest!“.
Sprachlos nahm Leonie ihn entgegen. Sie brauchte keine Worte des Dankes auszusprechen.
Das sonnengleiche Lächeln, das zart ihr Gesicht umspielte war für Brummbär Dank
genug. Wie der Wind war sie dann auch schon verschwunden und wehmütig ging die
Ladentür des einst so magnetisch anziehenden „Stiefel-Zauber“ - Ladens zu.
Schützend steckte Leonie
„Niko-Laus“ unter ihren Mantel und sprintete die einsamen Straßen entlang. Mit
geschmeidigen Bewegungen schlüpfte sie unter einem rostigen Stacheldrahtzaun hindurch
und umrundete mit flinken Schritten einen überdimensionalen Müllberg. Nicht
weit davon entfernt befand sich ein mickriger Friedhof. Hier wurden die Leute
begraben, die sich die hohen Friedhofskosten nicht leisten konnten. Mit
vorsichtigen, achtungsvollen Bewegungen steuerte Leonie auf ein kleines
Doppelgrab zu. Es bestand aus einem 1,5 x 1,8 Meter kleinem Lehmhügel an dessen
Front ein Buchenholz-Kreuz schief nach links geneigt umzukippen drohte. Obwohl
alles trostlos und jetzt, im Winter, noch erbärmlicher aussah, versprühte dieser
Ort eine Art sanften Hauch von Sehnsucht und Geborgenheit. Mit großen Kullertränen
in den Augen legte sich Leonie auf ein altes Brett neben das Grab. „Hier liegen
meine Eltern begraben. Sie kamen bei einem großen Brand ums Leben. Der Mantel
ist das einzigste, was ich noch von ihnen habe.“ schluchzte Leonie. Man hätte
meinen können, auf den ultramarinblauen Augen des rotbraunen Stiefels
glitzernde Tränen erkennen zu können. Sachte gab das Mädchen dem Stiefel ein
Küsschen auf die Nasenspitze und stellte es behutsam in eine Windgeschütze
Nische aus Tannenzweigen. Nach wenigen Minuten war Leonie in einen ruhigen
Schlaf gefallen.
„Niko-Laus“ wünschte sich nichts
sehnlicher, als ihr zu helfen und eine wenig Glück in ihr Leben zu bringen. Auf
einmal erfasste ihn ein heller, warmer Strahl, der sich immer weiter
ausbreitete. Bald umschloss er den ganzen Friedhof und wenige Sekunden später
die ganze Welt. Genauso schnell wie er kam, war er auch schon wieder
verschwunden. Der kleine Stiefel jedoch fühlte, dass er diese Nacht für ein
ganz besonderes Wunder gesorgt hatte.
Als am nächsten Tag die Sonne matt
hinter dem Horizont aufging und den Beginn des neuen Tages ankündigte, wurde
Leonie von einem unbeschreiblichen magischen Duft geweckt. Wie von einer
unsichtbaren Leine gezogen, ging sie, wie in Trance, die leuchtend weißen Wege
entlang. Ihre Spuren waren die Ersten, die den noch unbefleckten Schnee unter
ihren Füßen zum Knistern brachten. Sie konnte es sich nicht erklären.
Irgendetwas nahm sie gefangen und eine unsichtbare Hand führte sie quer durch
die Stadt zu einem alten Haus. Hier war es, als hätte jemand die Zeit
angehalten: Das steinerne Gemäuer ruhte wie ein Fels in der Brandung. Drumherum
wuchsen aus allen Ecken zarte Winterblumen, welche dem eisigen Wetter trotzig
stand hielten. Der flockige Schnee glich weicher Watte, welche zaghaft mit Puderzucker
bestreut wurde. Leonie fühlte sich wie im Märchen. Mutigen Ganges lief sie die
Treppe zum Tor hinauf und klingelte schüchtern an der marmorverzierten Glocke.
Von innen hörte sie ein gleichmäßiges Schlurfen. Sie hatte keine Angst. Ein
überraschte Jauchzer entfloh ihrem Mund. Brummbär, der alte Schustermeister vom
Vortag, hatte soeben die hölzerne Eichentür geöffnet und blickte sie mit treuer
Miene an.
An der Straßenecke stand der kleine Stiefel „Niko-Laus“ und beobachtete
die wundersamen Geschehnisse. Ein entzückendes Glänzen umgab seine Augen. Er
hatte zwei einsame Menschen an einen Ort gebracht. Den Rest mussten sie nun
noch allein schaffen. Er war sich jedoch sicher, dass beide nie mehr allein die
besinnliche Weihnachtszeit verbringen würden. Mit einem kurzen Knall verschwand
er, um an einem anderen Ort vielleicht ein neues Weihnachtwunder zu
vollbringen.