Eva Baldauf

Das Weihnachtswunder vom Stiefel „Niko-Laus“


Der Winter hatte schon seit einiger Zeit Einzug gehalten. Jeden Tag kamen neue Schneeflocken auf die Erde hinabgewirbelt und verliehen den Fenstern bezaubernde Muster. Die Kinder bauten Schneemänner oder versuchten während einer hitzigen Schneeballschlacht einen glorreichen Sieg einzufahren. Von überall her drang fröhliches Lachen. In den Straßen wurden die schönsten Weihnachtslieder gespielt und ein jeder genoss die besinnliche Zeit mit seiner Familie. Es war kurz vor Nikolaus und überall sah man Menschenmassen durch die Läden hasten, um in letzter Minute noch ein paar kleine Geschenke zu besorgen.
 
So kam es, dass auch im Schuhgeschäft „Stiefel-Zauber“ reger Betrieb herrschte. Den Schuhmacher freute dies ungemein, auch wenn eine kleine Träne auf seinem Herzen lag. Dieses Weihnachten sollte das letzte sein. Danach würde er den Laden für immer schließen müssen. Die großen Handelsketten hatten ihn in den Ruin getrieben. Dennoch war er stolz genug, um noch einmal alles zu geben. „Wenn ich schon schließen muss, dann nicht ohne noch ein kleines bisschen Magie in die Welt zu setzten“, dachte er sich, bevor er den Laden für eröffnet erklärte.
In den letzten Wochen schuf er etliche bezaubernde Paar Schuhe, welche nun im Nu über die Ladentheke gingen. Seine letzte Anfertigung erfüllte ihn mit besonderer Erfurcht: Ein kleiner rotbrauner Stiefel. Leider hatte er nicht mehr genügend Material, um ihm einen Freund zu schenken. Dafür war in diesem Stiefel all seine Herzenswärme verarbeitet. Die Nähte bestanden aus zarten Goldfäden, so dass man meinen könnte, er hätte Elfenhaar verarbeitet. Auf die Vorderseite stickte er kleine ultramarinblaue Äuglein, die scheu und neugierig in die Gegend lugten. Schwarze Seidenschnürsenkel zogen sich geschmeidig durch passgenaue Metallösen, welche bei unterschiedlichem Lichteinfall ein farbenfrohes Lied spielten. Sein Inneres bestand aus weichem, hellblauen Flaum. An beiden Seiten waren des weiteren kleine Zweige aufgedruckt, an denen jeweils eine kleine, silbern schimmernde Kugel und eine Bienenwachskerze Unterschlupf fanden. Beim Anblick seiner letzten Schöpfung entwich dem Schustermeister Brummbär ein kleiner Seufzer.
Langsam näherte sich der Ladenschluss und „Niko-Laus“, wie der kleine Stiefel liebevoll genannt wurde stand immer noch auf seinem Platz an der Ladentheke. Viele Kunden, vor allem Kinder, fanden ihn einfach hinreisend. Unzählige hatten sich jedoch bereits für ein Paar entschieden und wollten kein zusätzliches Geld für einen einzigen Schuh ausgeben. „Das wäre nur Geldverschwendung.“, wurde den Kindern als absolut entgültige Entscheidung immer wieder vorgetragen. Und so kam es, dass achtundfünfzig Sekunden vor dem entgültigen Aus, der „Niko-Laus“ als letzter übrig geblieben war. Traurig schaute der Meister ihn an. Da kam ein kleines zerzaustes Mädchen in den Laden gestolpert und fragte, ob es sich kurz unterstellen könne. Draußen rauschte ein heftig eisiger Wind und erst jetzt bemerkte der „Stiefel-Zauber“ Besitzer, dass die Fensterläden ruhelos gegen die klaren Fensterscheiben stießen. „Natürlich kannst du dich hier unterstellen. Komm rein. Magst du eine heiße Schokolade haben?“, antwortete er mit einem Lächeln, welches liebevoll seinen angegrauten Bart umspielte. Das Mädchen, es mochte nicht älter als 9 Jahre alt sein, schaute überglücklich und ein heftiges Nicken begleitete das Strahlen in ihren honiggoldenen Augen. Sie stellte sich als Leonie vor und bedankte sich für die herzliche Einladung. Ihre Kleidung glich der eines Bettlers: Der Umhang war an allen möglichen Stellen ausgefranst und eingerissen. Man mochte kaum glauben, dass er überhaupt noch warm hielt. Aus der Hand geben wollte sie ihn jedoch auf keinen Fall. Ihr Gesicht war ruß verschmiert und die feuerroten Haare standen ab, als wenn sie einen elektrischen Schlag abbekommen hätte.
Gemeinsam saßen da nun zwei Menschen, in einem ansonsten wie ausgestorbenem kleinen Raum und wärmten sich an frischer Schokolade. Leonie war nicht sehr gesprächig. Ihre Augen verrieten eine unablässige Wachsamkeit gemischt mit ausgeglichener innerer Ruhe. Eine besondere Anziehungskraft hatte der kleine „Niko-Laus“ auf sie und es viel ihr schwer ihn nicht ständig wie gebannt zu fixieren. Dem Schustermeister entging das natürlich nicht. Weiterhin bemerkte er auch das feuchte Glänzen in ihren Augen.
Nachdem die Tassen geleert waren und der Sturm an seiner ohrenbetäubenden Intensität verloren hatte, verabschiedeten sich die zwei Menschen, welche sich an einem normalen Tag wohl nie begegnet wären. Kurz bevor das Mädchen in die kühle Nacht verschwand, überreichte Brummbär ihr noch den verbliebenen Stiefel: „Ich wünsche Dir ein frohes Weihnachtsfest!“. Sprachlos nahm Leonie ihn entgegen. Sie brauchte keine Worte des Dankes auszusprechen. Das sonnengleiche Lächeln, das zart ihr Gesicht umspielte war für Brummbär Dank genug. Wie der Wind war sie dann auch schon verschwunden und wehmütig ging die Ladentür des einst so magnetisch anziehenden „Stiefel-Zauber“ - Ladens zu.
 
Schützend steckte Leonie „Niko-Laus“ unter ihren Mantel und sprintete die einsamen Straßen entlang. Mit geschmeidigen Bewegungen schlüpfte sie unter einem rostigen Stacheldrahtzaun hindurch und umrundete mit flinken Schritten einen überdimensionalen Müllberg. Nicht weit davon entfernt befand sich ein mickriger Friedhof. Hier wurden die Leute begraben, die sich die hohen Friedhofskosten nicht leisten konnten. Mit vorsichtigen, achtungsvollen Bewegungen steuerte Leonie auf ein kleines Doppelgrab zu. Es bestand aus einem 1,5 x 1,8 Meter kleinem Lehmhügel an dessen Front ein Buchenholz-Kreuz schief nach links geneigt umzukippen drohte. Obwohl alles trostlos und jetzt, im Winter, noch erbärmlicher aussah, versprühte dieser Ort eine Art sanften Hauch von Sehnsucht und Geborgenheit. Mit großen Kullertränen in den Augen legte sich Leonie auf ein altes Brett neben das Grab. „Hier liegen meine Eltern begraben. Sie kamen bei einem großen Brand ums Leben. Der Mantel ist das einzigste, was ich noch von ihnen habe.“ schluchzte Leonie. Man hätte meinen können, auf den ultramarinblauen Augen des rotbraunen Stiefels glitzernde Tränen erkennen zu können. Sachte gab das Mädchen dem Stiefel ein Küsschen auf die Nasenspitze und stellte es behutsam in eine Windgeschütze Nische aus Tannenzweigen. Nach wenigen Minuten war Leonie in einen ruhigen Schlaf gefallen.
„Niko-Laus“ wünschte sich nichts sehnlicher, als ihr zu helfen und eine wenig Glück in ihr Leben zu bringen. Auf einmal erfasste ihn ein heller, warmer Strahl, der sich immer weiter ausbreitete. Bald umschloss er den ganzen Friedhof und wenige Sekunden später die ganze Welt. Genauso schnell wie er kam, war er auch schon wieder verschwunden. Der kleine Stiefel jedoch fühlte, dass er diese Nacht für ein ganz besonderes Wunder gesorgt hatte.
 
Als am nächsten Tag die Sonne matt hinter dem Horizont aufging und den Beginn des neuen Tages ankündigte, wurde Leonie von einem unbeschreiblichen magischen Duft geweckt. Wie von einer unsichtbaren Leine gezogen, ging sie, wie in Trance, die leuchtend weißen Wege entlang. Ihre Spuren waren die Ersten, die den noch unbefleckten Schnee unter ihren Füßen zum Knistern brachten. Sie konnte es sich nicht erklären. Irgendetwas nahm sie gefangen und eine unsichtbare Hand führte sie quer durch die Stadt zu einem alten Haus. Hier war es, als hätte jemand die Zeit angehalten: Das steinerne Gemäuer ruhte wie ein Fels in der Brandung. Drumherum wuchsen aus allen Ecken zarte Winterblumen, welche dem eisigen Wetter trotzig stand hielten. Der flockige Schnee glich weicher Watte, welche zaghaft mit Puderzucker bestreut wurde. Leonie fühlte sich wie im Märchen. Mutigen Ganges lief sie die Treppe zum Tor hinauf und klingelte schüchtern an der marmorverzierten Glocke. Von innen hörte sie ein gleichmäßiges Schlurfen. Sie hatte keine Angst. Ein überraschte Jauchzer entfloh ihrem Mund. Brummbär, der alte Schustermeister vom Vortag, hatte soeben die hölzerne Eichentür geöffnet und blickte sie mit treuer Miene an.
 
An der Straßenecke stand der kleine Stiefel „Niko-Laus“ und beobachtete die wundersamen Geschehnisse. Ein entzückendes Glänzen umgab seine Augen. Er hatte zwei einsame Menschen an einen Ort gebracht. Den Rest mussten sie nun noch allein schaffen. Er war sich jedoch sicher, dass beide nie mehr allein die besinnliche Weihnachtszeit verbringen würden. Mit einem kurzen Knall verschwand er, um an einem anderen Ort vielleicht ein neues Weihnachtwunder zu vollbringen. 

Ich wünsche allen eine frohe und besinnliche Weihnachtszeit!Eva Baldauf, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.12.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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