Florence Siwak
Ordnung ist das halbe Leben - oder auch das ganze
Toni war ein Luftikus - sagten die ihm Wohlgesonnenen.
Ein
Hanswurst, ein Spinner, ein Loser - meinten kopfschüttelnd seine
Kritiker. Und davon gab es viele. Aber keiner konnte ihm
Gewalttätigkeit nachsagen; jedenfalls nicht bis heute.
Denn
als er das Gartentor öffnete und sich im Dunkeln zu der Eingangstür des
geräumigen Einfamilienhauses tastete, trennten ihn nur wenige Stunden
von der Tatsache ein Mörder zu sein.
Johannes
hatte lange gebraucht, ihn davon zu überzeugen, dass der Mord an Anna
die einzige Lösung für alle ihre Probleme sein würde.
'Du siehst doch ein, Toni, dass Anna uns die Luft zum Atmen nimmt?'
hatte Johannes gestern erst zu ihm gesagt.
'Ich
kann sie nicht einfach verlassen; das Geschäft gehört ihr; wo soll ich
hin? Ich habe täglich 12 Stunden für den Laden geschuftet. Darauf
verzichte ich nicht!'
Aber ausschlaggebend war Gina gewesen, Tonis jüngere Schwester.
'Ich
möchte Gina doch heiraten; es soll ihr gut gehen. Sie hat ein besseres,
ehrliches Leben verdient, Toni. Und Du? Hast Du nicht auch Deine Träume?'
Und ob er die hatte.
Aber Mord?
Hier mal ein Griff in die Kasse, dort mal ein bisschen an der Steuer vorbei. Das machte jeder.
Aber Mord?
Er
zauderte, obwohl er schon an dem Abend, als der Plan geboren wurde,
hätte wissen müssen, dass er seinem Freund nicht würde widerstehen
können.
'Drei Leben für eines'.
Johannes war sehr überzeugend.
'Und was für ein Leben. Glaubst Du, sie hätte noch Freude daran?
Anna rennt von einem Arzt zum anderen, schließt sich tagelang ein; jammert nur noch.
Und jetzt noch der Ärger mit der Steuer...Mein Gott, Toni. So kann es noch jahrelang weitergehen.
Unsere besten Jahre.
Die Jahre, die Gina zustehen. Toni - Du musst es tun. Ich kann es nicht, das siehst Du doch ein?'
Natürlich
sah er das ein. Deshalb stand er jetzt im Flur, wie hypnosiert auf den
Lichtstrahl starrend, der ihm den Weg zur Küche wies, wie er wusste.
'Wirf
den Hausschlüssel auf jeden Fall sofort weg. Es muss aussehen, als ob
sie den Einbrecher selbst eingelassen hat. Und bring keine Waffe mit.
Nimm ein Messer aus der Küche. Die scharfen stecken in einem Block; der
ist nicht zu übersehen. Dann geh' ins Wohnzimmer.
Sie ist ein Gewohnheitstier; sieht sich um acht immer die Nachrichten an.
Lass sie aufstehen, erstich sie nicht im Sitzen. Sonst glaubt keiner an einen Kampf.'
Wieder
und wieder hatte ihm Johannes das eingepaukt. Er hatte ihm auch genau
beschrieben, wo die Wertsachen lagen und ihm die hauchdünnen Handschuhe
gegeben, die er draußen vor dem Haus angezogen hatte. Nur war er
nicht darauf vorbereitet, dass Anna keineswegs vor dem Fernseher saß.
Er stieß die Küchentür auf und starrte auf die Frau, die dort auf dem gefliesten Boden kniete.
Es
roch frisch und sauber. 'Putzmittel mit Zitronenduft' registrierte er.
Dieser Geruch weckte Erinnerungen in ihm; ebenso wie die kniende Frau,
die wie gebannt zu ihm aufblickte.
Er sah sich wieder als Zehnjährigen in der großen, luftigen Küche. ZUHAUSE.
Seine Mutter rutschte auf den Knien über den Küchenboden und versuchte, etwas Glanz auf die trüben spröden Fliesen zu zaubern.
'Mama,
steh auf, Du sollst nicht knien' hatte er ihr zugeschrien und wütend an
einem ihrer nackten, kräftigen Arme gezerrt. Vergeblich natürlich.
"Stehen
Sie auf!" Toni zog sie mit einem einzigen Ruck in die Höhe. Erst jetzt
bemerkte er, wie zart und zerbrechlich sie war in ihrem langen,
ärmellosen Nachthemd.
Sie war auch jünger, als er sie sich nach Johannes' Schilderungen vorgestellt hatte.
"Was machen Sie hier - wie sind Sie reingekommen?"
Sie brachte nur ein heiseres Flüstern zustande. Kraftlos versuchte sie, an seiner kompakten Gestalt vorbei zu kommen.
"Halt, bleiben Sie hier."
Seine
Gedanken jagten sich. Es wäre jetzt so einfach. Die Messer auf der
Arbeitsplatte glänzten verführerisch. Ein Schritt würde genügen, dann
ein Griff mit der Rechten und -
nein - jetzt noch nicht. Er würde ihr und sich noch ein paar Minuten lassen.
Seine linke Hand umklammerte ihren dünnen nackten Arm, auf dem ein leichter Schweißfilm lag.
"Wollen Sie einbrechen?" "Das heißt" verbesserte sie sich, "s i n d Sie eingebrochen?"
"Ich
habe einen Schlüssel" antwortete Toni wahrheitsgemäß. Er konnte gar
nicht anders, als ehrlich zu antworten. So war es auch schon vor 30
Jahren gewesen. Seine Mutter war die einzige, die er nie belügen konnte.
"Woher haben Sie den Schlüssel und was wollen Sie hier? Nehmen Sie alles, aber gehen Sie - bitte!"
Panik sprach aus ihrer Stimme, ihrem Körper.
"Warum
rutschen Sie hier auf den Knien rum - um diese Zeit" fragte er sie
streng, ohne auf ihre Fragen einzugehen. "Das sollten Sie nicht!"
"Ich habe Milch verkippt und..."
"Sie können Schmutz nicht ertragen" ergänzte er ganz selbstverständlich.
"Ja
- das heißt nein. Ich war ein paar Tage krank und konnte nichts machen.
Die Putzfrau kommt erst morgen wieder. Da dachte ich, wenn ich schon
mal dabei bin ... Jetzt nehmen Sie sich schon, was Sie wollen und gehen
Sie endlich" bäumte sie sich plötzlich auf.
Er
schüttelte sie. Ganz leicht nur, aber die feinen braunen Haare fielen
ihr in die Stirn, die sich über großen grauen Augen und geraden,
schwarzen Brauen wölbte.
Über ihre Schulter hinweg starrte er auf den massiven Messerblock, der zum Greifen nahe war.
Erschreckt folgten ihre Augen seinem Blick.
"Sie wollen nichts stehlen. Sie wollen mich ... töten!"
Sie weinte lautlos und ihre Tränen hinterließen schleimige Spuren auf ihrer hellen Haut.
Toni
bemerkte, daß ihm Schweißtropfen über die Wangen rannen, die Falten
entlang, in die Mundwinkel, wo sie einen unterträglichen Juckreiz
ausübten. Er ließ die Frau los und wischte sich mit seiner großen,
groben Hand über das Gesicht.
Plötzlich jeden Halts beraubt, fiel Anna zu Boden und blieb dort stumm und regungslos hocken.
Er starrte auf sie hinab, unfähig, seine Aufgabe zu erfüllen.
"Ist es Hans?" Ihre Stimme klang ruhig, fast gefühllos.
"Hans?"
Er musste sich einen Moment besinnen. Nie hatte er diesen massigen, lauten und lebensfrohen Burschen 'Hans' genannt.
'Hans' - dieser Name machte ihn kleiner, ließ ihn auf ein normales Maß schrumpfen.
"Ja, es ist Hans - Johannes" verbesserte er sich.
"Warum - was haben Sie mit ihm zu tun? Was habe ich ihm getan? Und was habe ich Ihnen getan?
Ist es wegen der Versicherung? - Das Geschäft! Es ist wegen der Firma? Er kann doch alles haben - alles!"
Verzweifelte knetete er seine Hände.
"Das können Sie nicht verstehen. Ich muss es tun."
Schwerfällig erhob sie sich.
"Doch, ich verstehe. Wenn Johannes es wünscht, müssen Sie es tun."
Langsam wandte sie sich ihm zu.
"Werden Sie mir weh tun oder ... geht es schnell?"
Toni
hatte sich inzwischen an den Küchentisch gesetzt. Das Fenster war
geöffnet und ein feiner Luftzug kühlte den Schweiß auf seinem Körper.
Er hätte stundenlang so sitzen mögen. Tatenlos, die Arme auf dem
glatten Buchenholz ruhend.
Anna legte ihm tröstend eine Hand auf den Kopf.
"Haben Sie keine Angst...Ich würde Sie gern anreden. Wie heißen Sie?"
Um
keinen Preis hätte er ihr seinen Namen genannt. Er stand auf, straffte
sich, bereit, seinen Auftrag zu erfüllen, als sie heftig seinen Arm
ergriff.
"Warten Sie, einen Moment noch. Wer wird mich finden - morgen früh. Was haben Sie geplant?"
Ihre Augen schweiften ziellos durch die Küche; hierhin, dorthin.
"Mein
Gott, wie es hier aussieht. Ich habe noch so viel zu tun. Bitte lassen
Sie mich noch ein paar Sachen in Ordnung bringen. Ich laufe nicht weg.
Wohin auch?"
Hoffnungslos ließ sie ihre schmächtigen Schultern sinken.
"Ich wollte doch heute noch meine Wäsche waschen - meine Unterwäsche" flüsterte sie.
"Und ein paar Rechnungen überweisen..."
Er konnte sie kaum verstehen; starrte sie nur fassungslos an.
"Ist das Ihre einzige Sorge?" brach es aus ihm heraus.
"Ob es hier ordentlich aussieht und Ihre Wäsche tip top in Ordnung ist?
Und ob Ihre Lieferanten Sie in guter Erinnerung behalten?"
"O ja - für mich ist das wichtig."
Würdevoll strich sie ihr feuchtes Haar aus der Stirn.
"Ich
war krank, das wissen Sie doch. Soll später ein Fremder meine
verschwitzten Nachthemden und die zerknüllten Bettlaken sortieren und
mit spitzen Fingern in den Müll werfen?"
Sie schüttelte sich angeekelt.
"Ich habe ordentlich gelebt und ich möchte so gehen wie ich gelebt habe!
Bitte, geben Sie mir etwas Zeit. Das kann Ihnen doch nichts ausmachen..."
Natürlich machte es ihm etwas aus - und wie.
Sieh Deinem Gegner nicht in die Augen, bevor Du ihn tötest.
Deinem Gegner!!
War diese Frau sein Gegner?
Nein! Wenigstens Respekt hatte sie verdient.
"Tun Sie, was zu tun ist. Aber tun Sie es schnell!"
Er war jetzt ganz ruhig. Er hatte sich entschieden.
Es war fast Mitternacht, als Toni die Eingangstür vorsichtig hinter sich zuzog.
Wieder ging er den Weg im Dunkeln.
In
einer Hand trug er eine Plastiktüte mit Müll. Er wollte nicht
riskieren, entdeckt zu werden, deshalb presste er sie in den Papierkorb
an der nächsten Laterne.
'So' wischte er sich die Hände an den Cordhosen ab. Alles war geregelt.
Er hatte Anna ihren Wunsch erfüllt.
Die
Wohnung war makellos. Ihre Wäsche lag frisch gewaschen und getrocknet
sauber aufgeschichtet in den Schränken zwischen duftenden
Lavendelkissen.
Die Zimmer waren gelüftet; das Bett frisch bezogen.
In der Tasche hatte er einen Briefumschlag für die Bank mit einigen Überweisungen, die er noch einstecken wollte.
Er blickte auf seine Uhr.
Hans wartete im Lagerhaus, von dem aus die weniger legalen Geschäfte abgewickelt wurden.
Wahrscheinlich würde er noch an den Steuerunterlagen herum frisieren.
Toni
wusste, so alles zu finden war und auch, wo das Werkzeug lag, das er
brauchte, um Hans mit einem Schlag ins Jenseits zu befördern.
Es würde keine Zeugen geben, dafür aber genug potenzielle Täter.
Während
er mit weit ausholenden Schritten, ein Liedchen summend dem Treffen mit
Hans entgegen ging, malte er sich seine Zukunft aus.
Eine neue, aufgeräumte, ordentliche Zukunft.
Gina würde nicht lange trauern. Er und Anna würden ihr Trost und Beistand sein.
Und - wer weiß - in ein paar Jahren würde er sich nach einem passenden Ehemann für sie umsehen.
Anna war auch dieser Ansicht.
Nichts musste übereilt werden.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.12.2005.
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