Stephanie Hermann

Süßstoff

Süßstoff

Tagelang hatte es schon nicht mehr geregnet. Aber es sah schon seit Tagen so aus, als würde es jeden Moment regnen. Die Luft war kalt. Zu kalt für den bevorstehenden August.
Er schüttete ein Päckchen Zucker mit Werbeaufdruck in den Pappbecher mit heißen Kaffee.
Rührte mit einem Holzstäbchen um und setzte sich auf eine Bank.
Stiller als gewöhnlich flossen die Passantenströme an ihm vorbei.
Er nahm einen Schluck und verbrannte sich.
Dann beobachtete er die Menschen die vor den Schaufenstern stehen blieben.
Er genoss ihre Spiegelbilder, die es ihm ermöglichten sie gleichzeitig von hinten und vorne sehen zu können.
Dank seiner neuen Brille, die seine schmalen Augen schwarz umrahmte, konnte er ihre
Gesichtszüge in den blank geputzten Scheiben erkennen.
Dann bemerkte er einen Fleck auf seiner linken Schuhspitze und ärgerte sich darüber.
Er trank erneut aus dem Pappbecher. Der Schmerz auf seiner Zunge hatte nachgelassen.
Er liebte es im Verborgenen zu beobachten. Manchmal kam es ihm so vor, als wäre er der einzige Mensch auf dieser Welt, der beobachtete.
Des Öfteren hatte er sich schon gewünscht, er würde selbst auch beobachtet werden.
Er fragte sich hin und wieder, ob er interessant genug auf andere wirkte, so dass sie ihn ansahen und überlegten, was sich unter seiner Oberfläche, bestehend aus Armanianzug und Aktentasche verbergen könnte.
Auf dem Heimweg kaufte er noch ein, zwei Sachen im Supermarkt. An der Kasse sah er wie eine junge, durchschnittlich hübsche Frau den Mann an ihrer Seite küsste. Es ärgerte ihn.
Als er zu Hause war, setzte er sich als erstes auf sein Sofa, atmete den Geruch des kühlen, schwarzen Ledersofas ein und versuchte sich an seinen letzten Kuss zu erinnern.
Er war unbedeutend. So wie die Frau, die ihn ihm gegeben hatte.
Zwei trockene Lippen, die sich auf seine gedrängt hatten. So flüchtig wie die Beziehung, die er versucht hatte mit ihr zu führen.
Nach etlichen Monaten, in denen er viel Zeit damit verbracht hatte ihre schwarzen Haare von den Badezimmerfliesen zu sammeln und sich für seine Rituale, die Beate verächtlich mit Straßenbahnschienen verglich, zu rechtfertigen, hatte er resigniert.
Er musste es ihr nicht sagen. Sie kam einfach nicht mehr. Er suchte noch eine Zeitlang nach ihrem Gesichtswasser im Getränkefach seines Kühlschranks.
Gewohnheit kann schnell entstehen.
Sie erhebt sich aus dem Chaos des Alltags.
Plötzlich steht man vor der immer gleichen Menütafel im immer gleichen Restaurant oder geht nach jedem Absperren der Fahrertür noch einmal zum Auto zurück um sicher zu gehen oder liest die Zeitung von hinten nach vorne oder trägt Vaseline auf die verhornten Fußsohlen vor dem zu Bett gehen auf. Plötzlich wird man für diese kleinen Angewohnheiten geliebt, weil sie einen angeblich so unverwechselbar machen.
So zerstörerisch die Eintönigkeit in seinen zahllosen Gewohnheiten für viele Menschen sein mochte, er verlangte nach ihr wie manche Restaurantbesucher nach der Scheibe Zitrone in ihrem Mineralwasser.
Er würde sich niemals seinen Feierabendkaffee in einem anderen Coffee- Shop holen. Er hätte nicht einschlafen können ohne vorher noch etwas von Vivaldi zu hören.
Er hatte Tränen in den Augen gehabt, als Enzo seine Stammpizzeria schloss, um zurück nach Sizilien zu gehen.
Seitdem geht er immer zum Chinesen um die Ecke. Es schmeckt ihm nicht, aber er weiß die Vertrautheit, die ihm der Alte hinter der Theke zukommen lässt, zu schätzen.
Er gierte nach der nächsten gewohnten Situation, füllte seinen Alltag mit immer wieder neuen Dingen, wechselte die einen durch andere aus, die er dann stets zur Gewohnheit werden ließ.
Der Rahmen seines Wochenablaufs schützte ihn, barg ihn wie eine harte, undurchdringliche Muschelschale.
Die Qualität seiner gelebten Tage maß er an der Zahl der unvorhergesehenen Ereignisse. Umso weniger Ungeplantes passierte, umso besser.
Sonntag war der sicherste Tag. Am Sonntag lag die Gestaltung über vierundzwanzig Stunden allein in seinem Ermessen.

Mara kam ungeplant, ungefragt, unerwartet. Mara war so unerwünscht wie Regen nachdem man sein Auto gewaschen hatte.
Er hatte kein Auto. Autos sind unzuverlässig. Der Straßenverkehr gehört zu den unvorhersehbarsten Dinge, die unsere Gesellschaft zu bieten hat.
Maras hervorstechendste Eigenschaften begannen beinahe alle mit „un-“.
Von unpünktlich über unordentlich bis hin zu undiszipliniert.
Sie gehörte an einem seiner Sonntage mit Pappbecher auf der Bank zu den Menschen, die er beobachtete.
Mara hatte seine Augen in ihrem Rücken gespürt, fehl interpretiert und sich verliebt.
Sie konnte sich schon immer sehr schnell verlieben.
Einmal hatte sie sich in eine Stimme am Telefon verliebt, als sie noch bei der Auskunft gearbeitet hatte.
Als sich der Anrufer nach etlichen gemeinsamen Restaurantbesucher allerdings als Choleriker entpuppte- schreienderweise fand sie seine Stimme plötzlich nicht mehr anziehend- hatte sie sich routiniert aus der Affäre gezogen.

Mara war plötzlich da gewesen, wie einsetzender Platzregen. Laut, fordernd und schrecklich verliebt.
Mara liebte ihn und seine Gewohnheiten. Sie versuchte peu à peu in seinem Alltag Platz für sich zu schaffen. Manchmal gelang es ihr. Manchmal kam es ihr so vor als könnte er sein Konzept für sie umstellen, ändern. Die meiste Zeit aber fühlte sie sich wie ein Päckchen Zucker auf der Untertasse eines Mannes, der Süßstoff bestellt hatte.
Sie lebten leidenschaftslos nebeneinander her. Mara war nach wenigen Tagen mit zwei Koffern und dreitausend Handtaschen und doppelt soviel Schuhen bei ihm eingezogen. Als Geschenk brachte sie eine Flasche Martini Bianco. Als er Mara öffnete, hatte er für einen Moment das Gefühl, er hätte vergessen, dass bei ihm heute noch eine Party steigen sollte.
Als er ihr Gepäck sah, fühlte er wie sich seine Nackenhaare aufstellten.
Mara arrangierte sich mit der Situation. Es gelang ihr sich in seine Gewohnheiten einzufügen. Wenn er um vier heim kam, sprach sie bis fünf nicht mit ihm. Sie gab ihm die Zeitung, setzte Tee auf .Maras Sachen wurden in einige Schubladen und Fächer mit Türen davor untergebracht. Es schien sie nicht zu stören, dass man ihre Anwesenheit an keinem Detail der Wohnung erkennen konnte. Alles war wie zuvor. Es waren seine Bücher, seine Bilder, seine Kosmetikutensilien auf der Badablage vor dem Spiegel.
Aber die Tatsache, dass er für sie Platz gemacht hatte, bereitete ihr das nötige gute Gefühl in der Magengegend, das man braucht, um sich in einer neuen Umgebung wohl zu fühlen.

Mara war leiser geworden. Pünktlich, ordentlich und diszipliniert.
Sie hatte gelernt ihre Termine, Besorgungen und Verabredungen mit den seinen so abzugleichen, dass er sein bisheriges Leben weiterführen konnte. Anfangs verlangte es ihr ganzes organisatorisches Talent. Schließlich verwandelte sich ihr spontanes Leben in einen siebenseitigen Terminkalender und alle waren glücklich.
Mara empfand den Moment in dem sie von der Arbeit heim kam, auf seine lindgrün getünchte Haustür zusteuerte und den Schlüssel ins Schloss steckte als angenehm und beruhigend Mara mochte den Geruch nach grünem Tee und Vanillekerzen, der ihr beim Öffnen der Tür entgegen drang.. Sie fühlte sich geborgen, als Teil seiner Gewohnheiten. Sie wusste sie war sicher bei ihm, solange sie sich innerhalb der Schienen befand.
Mitten in der Nacht wachte sie oft plötzlich neben ihm auf und wog die Vorteile mit den Nachteilen ab. Bevor sie mit der Liste fertig war, schlief sie meist wieder tief und fest ein. Vermutlich war es sehr anstrengend für sie genügend Vorteile zu finden, die ihre Liebe zu ihm rechtfertigten und den Aufwand, den sie betrieb, um an seinem Leben teilhaben zu können. Sie war sich von Anfang an im Klaren darüber gewesen, dass er sie eher bitten würde zu gehen, als auf sein heißes Bad, sonntags um drei zu verzichten.
Wenn es besonders still war in seiner Wohnung, war es ihr manchmal so, als hörte sie Stimmen, die ihr zuflüsterten, dass sie ihn liebte, er ihre Liebe lediglich duldete. Er tolerierte Mara, wie er die Tatsache tolerierte, dass sein Bus hin und wieder Verspätung hatte.
Maras großes Glück war, dass er sich schnell an sie gewöhnt hatte.
Nach nur vier Wochen gehörte ihr morgendliches „Ich liebe dich“ zu seiner Tasse Kaffee und er schien zufrieden.
Er mochte ihre blonden Haare, die weitaus unauffällig auf den weißen Fliesen schienen, als die schwarzen der letzten Frau, die bei ihm gewohnt hatte.
Mara hatte sich für ihn ein neues Ritual einfallen lassen. Statt Vivaldi zu hören, hörte er jetzt immer Maras Stimme zu, die ihm vor dem Einschlafen noch aus einem ihrer Bücher vorlas.
Abgesehen davon wusste er es im Stillen zu schätzen, dass sich seine neue Freundin nicht gegen seine Abläufe aufbäumte. Mara hasste Streit oder Diskussionen und so kam es nie dazu. Sie schienen es beide zu genießen, stundenlang in der Fußgängerzone, schweigend nebeneinander auf der einen Bank zu sitzen und zu beobachten. Mara dachte, dass sowieso viel zu viel auf dieser Welt geredet wird. Sie deutete es als ein Geschenk des Himmels, dass sie beide so zwanglos ohne Worte nebeneinander sitzen konnten, ohne reden zu müssen.
Eben sowenig wie er irgendjemand von ihrer Verbindung erzählt hatte, hatte Mara auch noch mit keiner ihrer Freundinnen darüber gesprochen. Es kam ihr merkwürdig vor, wenn sie mit ihnen jeden Dienstag in einem Cafè saß, während er von sieben bis neun im Fitnessstudio war, nie über ihre Beziehung zu reden. Sie hatte keinerlei Bedürfnis, ihn zu erwähnen.
Vielleicht handelte es sich dabei um die Furcht davor, ihre Freundinnen könnten sie fragen, was es war, dass sie ihn lieben ließ.
Mara hatte sich zusätzlich zu ihrem neuen, durchorganisierten Alltag zwei neue Gewohnheiten zugelegt. Die eine war, dass sie gelernt hatte zu verdrängen. Unangenehme Dinge oder Fragen hatten keinen Platz mehr in ihrem neuen Tagesablauf. Sie hatte sich Strategien zurecht gelegt für die Momente, in denen sie spürte, dass die Zweifel und Ängste demnächst an Gewicht gewinnen könnten. Sie joggte dann um den Häuserblock oder bereitete für ihn Lasagne zu, die er so liebte.
Die zweite war, dass sie ihren Kaffee jetzt mit Süßstoff trank.
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Schreiben ist für mich eine Leidenschaft, die ich mit Sicherheit nicht beherrsche- aber wenn es mir nur hin und wieder gelingen sollte, einen anderen Menschen mit meinen Gedanken zu berühren, wäre ich sehr glücklich.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.12.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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