Alejandro Cortez-Golenia

Ausnahmsweise

                                                                      

 
 
Es wird, glaube ich, gut tun das alles nieder zu schreiben. Ich bin mir nicht sicher, aber man hört viel, dass es, die eigenen Erlebnisse auf zu schreiben, befreiend wirken soll. Ich weiß nicht ob ich daran glauben soll. Oder besser gesagt, ob es in meinem Fall hilft.
Wie auch immer, ich werde mir zumindest die Zeit nehmen. Das bin ich euch schuldig.
Wahrscheinlich wird das der längste, von mir selbst verfasste Text seit meiner Highschool- Zeit.  Ich meine, ich kann nicht mit Worten umgehen. Das konnte ich nie. Selbst in der eben erwähnten Schulzeit waren meine Essays mehr als mangelhaft. Ich habe dir, Kirsten, nie Liebesbriefe geschrieben, vielleicht wenn es hoch kommt, Liebes-Notizen auf selbstklebenden Heftzettelchen. Diese waren aber nie länger als zwei Sätze, oder?
Ich war nie ein begabter Schreiber, darum habe ich alles getan um mich darum zu drücken. Weswegen ich auch nie auf einem College war. Bin deswegen auch nur ein kleiner Gebrauchwagenverkäufer geworden, womit ich eigentlich immer zufrieden war. Ich konnte meine Familie ernähren, das war das wichtigste. Verflucht sei das alles, wäre ich etwas anderes geworden, es wäre nie soweit gekommen. Ich bereue....
Aber diesmal will ich eine Ausnahme machen. Mit dem Schreiben, meine ich. Obwohl... Ausnahmen töten. Ausnahmen sind eigentlich nichts gutes. Ich habe es den Kindern nicht oft genug gesagt, das bereue ich auch.
Verdammt, ich bereue so schrecklich viele Dinge. Gerade in diesem Moment. Angefangen bei Kleinigkeiten, zum Beispiel, dass ich es nicht geschafft habe die Birke im Garten zu beschneiden. Oder, dass ich doch nie die Harley besaß, die ich mir in meiner wilden Zeit versprochen habe. Oder, dass ich gewissen Leuten nie meine Meinung gesagt habe. Paul Connor, zum Beispiel. Er ist ein kleiner, arroganter, Spießer, der immer noch denkt, dass jeder sein Toupet für Echthaar hält.
Oder wirklich wichtige Dinge, was euch betrifft, zum Beispiel. Kirsten, ich habe dir selten... nein, das ist wieder eine bequeme Lüge von mir. Ich habe dir nie gesagt, zumindest nicht mehr nach den ersten Jahren unserer Ehe, wie viel du mir bedeutest. Ich hätte dir öfters sagen sollen, dass ich dich liebe. Nach wie vor, jeden Tag vielleicht sogar einbisschen mehr.
Und die Kinder. Ich bereue, dass ich Ethans Baseballspiele verpasst habe. Ich wusste doch wie besessen er von diesem Sport warst. Joana, dieses Weihnachten hätte sie den Welpen bekommen, den sie immer haben wollte. Ich war sogar schon beim Züchter und habe ihr einen ausgesucht. Ich weiß Kirsten, du willst keine Hunde in unserem Haus, aber sie liebt Hündchen doch so sehr. Ich hätte mehr an ihrer Erziehung beteiligt sein sollen. Aber ich dachte, das hat Zeit.
Wie dumm ich doch war.
Immer wenn mich die Arbeit gerufen hat, bin ich gesprungen. Ich habe Ausnahmen gemacht. Ausnahmen töten. In dem Fall meine Beziehung zu meinen Kindern. Sie töten. Das weiß ich jetzt.
Es tut mir leid, dass es so weit kommen musste. Ich habe es nicht gewollt. Oh Gott, ich sehe sie immer noch. Jedes Mal wenn ich die Augen schließe sehe ich sie vor mir. Ihr hübsches Gesicht, sie erinnerte mich an diese Frau von Joanas Postern in ihrem Zimmer. Ihre blonden Haare fielen ihr ins Gesicht und sie war die meiste Zeit damit beschäftigt diese hinter die Ohren zu klemmen. Das wirkte fast schon witzig, als wenn sie einen Zwang hätte diese Bewegung ständig ausführen zu müssen.
Und diesen einen Typen, den sehe ich auch noch genau vor mir. Groß, sportliche Statur, die meisten Mädchen würden ihn als gut aussehend bezeichnen. Aber dieser Bürstenschnitt... Und seine Tätowierung am Arm. Ein Tiger auf dem Oberarm, dessen Kratzspuren sich runter bis zu dem Ellenbogen zogen. Mir gefiel das, es sah gut aus. Natürlich wäre es nichts für mich, aber es stand ihm. Ich sehe ihn jede Nacht wie er mir mit leuchtenden Augen erzählt, dass sie einen Auftritt in Chicago haben. Ihren ersten großen Auftritt als Band.
Punkrock, wie ich erfahren habe, nun wirklich nicht meine Musik, aber sie waren so jung...
An die anderen Jungs erinnere ich mich nur schemenhaft. Den einen riefen sie ´Spooner´, er trug eine Brille mit Gläsern so dick wie Brenngläser. Gott, wie kann das sein? Ich habe sie umgebracht und kann mich nicht mal mehr an ihre Gesichter erinnern?
Um Himmels Willen, sie waren so jung. Alle von ihnen. Ich konnte die Freude in ihren Augen sehen, als ich ihnen den Zuschlag gab. Ich stellte mir vor, dass Ethan genau so aussehen würde, wenn er sein erstes Auto bekommen würde. Sie sprangen überglücklich um den Wagen herum, die schöne Blonde umarmte mich sogar vor Freude.
Ich höre mich noch sagen, dass sie den Wagen nächste Woche haben können, da er noch Mal routinemäßig untersucht werden muss. Und ihre Gesichter erstarrten. Angefleht haben sie mich ihnen das Auto sofort zu geben, sie hätten die Summe cash dabei. Ich weigerte mich. Sie flehten inbrünstiger, der Auftritt sei am Donnerstag und sie müssten heute los fahren um rechtzeitig anzukommen.
Aber der Wagen musste zur Inspektion. Jeder Wagen muss das, bevor er endgültig verkauft wird. Es ist Routine, aber wenn es unnötig wäre, würde man das nicht tun. Es muss einen Grund haben, wieso man die tat, oder?
Nein, sagten sie, die erste Inspektion bescheinigte, dass alles in Ordnung sei, sagten sie. Sie bräuchten den Kombi sofort, sagten sie. Und die Blonde sah mich mit ihren stahlblauen Augen an. Sie bat mich darum den Wagen frei zu geben, es sei doch ihr erster Auftritt als ernst zu nehmende Band, bettelte sie.
Ich hätte bei meiner Meinung bleiben sollen. Stattdessen machte ich eine Ausnahme und gab ihnen den Wagen. Ohne zusätzliche Inspektion. Ich erinnere mich: „Ausnahmsweise“ habe ich gesagt und gelacht. Ein kleines Wörtchen, es kam so einfach heraus. Ausnahmsweise.
Sie waren glücklich, sie alle. Und ich auch. Ihre Freude machte mich glücklich.
Dementsprechend traf es mich unbeschreiblich als ich am nächsten Morgen die Meldung in der Zeitung las. „Fünf Jugendliche starben noch am Unfallort als die Bremsen des Kombi versagten“ hieß die Überschrift. Frontal gegen einen Baum gefahren, nachdem er sich einige Mal überschlagen hatte, blieb er brennend auf der Fahrbahn liegen.
Fünf junge Leben, ausgelöscht. Sie hatten soviel vor.
Ich halte den besagten Zeitungsausschnitt gerade in meiner Hand. Ich habe ihn seither aufgehoben. Gott weiß wieso, aber ich hatte ihn stets unter der Kiste mit den Quittungen für die Steuererklärung.
Es kam nicht mal zu einer Verhandlung vor Gericht gegen mich, der Junge mit dem Bürstenschnitt unterschrieb die Einverständniserklärung, und ich war somit frei von jeder Schuld. Zumindest vor der Justiz. Aber hätte man mich auch nur einmal gefragt, ich hätte mich ohne zu zögern als schuldig erklärt. Ja, euer Ehren, ich habe sie umgebracht. Alle Fünf. Ich wäre ins Gefängnis gewandert, aber hätte mir das Linderung beschert?
Jede Nacht wache ich schweißgebadet auf. Kirsten, du hast es wahrscheinlich die ganzen Jahre nicht gemerkt. Wie ich mich so manche Nacht, wenn die Träume besonders schrecklich waren, ins Bad geschlichen habe um mich dort still und heimlich zu übergeben. Das war auch gut so, ich hätte nicht gewollt, dass du das miterleben musst. Du hättest mir nicht helfen können. Genauso wenig hat niemand anderes etwas gemerkt. Ich ging zur Arbeit, kam nach Hause, habe gegessen, etwas mit den Kindern unternommen und abends bin ich ins Bett gegangen. Tag für Tag für Tag. All die Zeit... Keiner hat etwas gemerkt.
Das soll kein Vorwurf sein, um Gottes Willen, versteht mich nicht falsch. Nein, ich wollte es euch nicht merken lassen. Was hätte das genützt? Es hätte mir doch sowieso keiner mehr helfen können. Keiner konnte das.
Vorstellungen von brennenden Jugendlichen haben sich in mein Hirn gebrannt, hätte ich doch nie den Wagen weg gegeben. Jede verfluchte Nacht sehe ich sie in diesem Gott verdammten Kombi sterben. Und ich höre sie. Das erfrischende, etwas fipsige Lachen des hübschen Mädchen wird zu einem durch Mark und Bein dringenden Schmerzensschrei, der selbst nach dem Aufwachen noch in meinen Ohren hallt. Sie verbrennt vor meinen Augen und ich sehe nur zu.
Von Nacht zu Nacht spinnt sich mein Hirn neue, erschreckende und grausamere Details hinzu... Geräusche von brechenden Knochen, Bilder von verkohlenden Gesichtspartikel, die sich in Fetzen von den lebenden Köpfen abblättern, während sie mich um Hilfe anflehen und in Todespanik gegen die Fenster schlagen... Selbst Gerüche nehme ich neuerdings war, den Gestank von Benzin und verbrannten Fleisch. Und sie werden immer realer.
Selbst am Tage übermannen mich diese Alpträume, ich habe das Gefühl sie machen mich wahnsinnig. Ich kann kaum noch klar denken, diese Schuldgefühle bereiten mir Qualen, die sich nur die wenigsten Menschen vorstellen können. Und bei den Gedanken an die Qualen, die die Kids oder ihre Familien durchlitten haben müssen, die ich ihnen angetan habe, werden meine eignen Leiden noch extremer. Es ist eine nicht enden wollende Folter ohne Hoffnung auf Linderung!
Kirsten, es tut mir alles so leid. Ich habe euch noch so viel zu sagen... Und ich muss mich entschuldigen. Bei dir, dass ich nicht mal ein halb so guter Ehemann war wie ich es immer sein wollte. Bei Ethan und Joana, ich wünschte ich hätte mir mehr Zeit für euch genommen, ich liebe euch. Und natürlich bei den Eltern der verstorbenen Jugendlichen. Es wird sie nicht zurück bringen, oh Herr, was würde ich dafür geben keine Ausnahme gemacht zu haben. Keine Mutter oder Vater sollte miterleben müssen wie das eigene Kind stirbt.
 
Nun ist also alles nieder geschrieben. Hat doch etwas länger gedauert als ich erwartet hatte. Es ist schon völlig dunkel draußen. Ich hatte gehofft noch während des Sonnenuntergangs fertig zu werden.
Das Schreiben selbst war weniger anstrengend als erwartet. Vielleicht weil ich einfach nur Gedanken aufgeschrieben habe und keine literarische Bestleistung abgegeben musste.
Befreit har es mich, wie bezweifelt, kein bisschen. Im Gegenteil, es hat mir nur wieder einmal vor Augen geführt welch fatalen Fehler ich begannen habe, mit dessen grausamen Konsequenzen ich nun leben muss. Oder halt nicht.
Ich werde jetzt die Polizei verständigen. Keiner von meiner Familie soll das vorfinden müssen.
Wenn ihr das hier ließt, seid euch sicher, dass ich euch liebe. Und dass es mir so schrecklich leid tut... alles. Wenn man es nur rückgängig machen könnte...
Die Waffe in meiner Hand, die habe ich auf dem Dachboden gefunden. Kirsten stell dir vor, die hat dein Vater besessen. Dein Waffenhassender Vater. Sie war eine Ausnahme, zum Schutz seiner Familie.
 
Ausnahmen töten.
 
 
Verzeiht mir
 - Warren -
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.12.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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