Markus Schale

Stille Nacht, blutige Nacht 2

Jimmy schreckte ruckartig aus dem Schlaf hoch und saß aufrecht in seinem Bett. Ein lautes Geräusch hatte ihn aus seinen Träumen gerissen und noch während sein Verstand langsam zu arbeiten begann, konnte er das ferne Poltern aus dem Erdgeschoss des Hauses erneut vernehmen. Gähnend rieb er sich die Augen. Seine Neugier war geweckt. Schließlich war es die Nacht nach Heiligabend und die Ursache eines Geräusches aus dem Wohnzimmer konnte ebenso gut in Zusammenhang mit seinen Präsenten stehen. Geschwind schlüpfte er in seine Häschen – Pantoffeln und lugte aus den Jalousien hinaus. Prächtig weißer Schnee bedeckte auf wundervolle Art und Weise die Landschaft, welche vom satten Schein des Vollmondes opulent ausgeleuchtet und reflektiert wurde. Die Eiskristalle glitzerten wie kostbare Edelsteine. Sein Blick streifte flüchtig das sternenklare nächtliche Firmament. Mit seinen fünf Jahren glaubte er noch tief und fest an den Geschenke bringenden Weihnachtsmann, der am Weihnachtsabend durch die Kamine stieg. Begleitet von leicht knarrenden Geräuschen öffnete er behutsam die Tür und spähte mit großen Augen in den dunklen Flur. Die Schlafzimmertüren seiner Schwester und seiner Eltern waren verschlossen. Scheinbar wurden sie durch die Geräusche nicht geweckt. Jimmys Herz begann in freudiger Erwartung des Antreffens des leibhaftigen Weihnachtsmannes ein wenig schneller zu schlagen. Er lief einige Schritte bis zur Balustrade, von der aus man bereits einen Blick auf die geräumige Eingangshalle des Hauses werfen konnte, welche ins Wohnzimmer überging. Der Weihnachtsbaum, dessen elektrische Kerzen auch des Nachts brannten, war zwar von der Balustrade aus nicht mehr einzusehen, dafür konnte man seinen Schatten an der Wand erkennen. Plötzlich konnte Jimmy einen anderen Schatten sehen, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Die Glöckchen an den Weihnachtskugeln, die den Baum beschmückten, bimmelten. Begeistert stieg Jimmy auf die Treppenstufen und hielt sich bei seinem Abstieg die ganze Zeit am Treppengeländer fest. Er befürchtete, seine Schritte hätten unter Umständen die Aufmerksamkeit des Weihnachtsmannes auf sich lenken können, weshalb er mit größtmöglicher Behutsamkeit die Stufen hinab stieg. Schließlich wollte er ihn nicht bei seiner Arbeit stören, sondern lediglich beobachten. Bei jedem Knarren des hölzernen Materials verzog er kurz das Gesicht. Endlich war er im Erdgeschoss angekommen. Wieder ein vorbeihuschender Schatten. Bedächtig tapste er in Richtung des Nachbarzimmers, in dem sich der Weihnachtsbaum befand. Er warf einen kurzen Blick aus dem großen, rechteckigen Wohnzimmerfenster, das zur Straße hin gerichtet war. Die Strahlen des Vollmondes leuchteten das Zimmer aus. An der Ecke des Zimmers, in welchem der Weihnachtsbaum stand, hielt er kurz inne. Mit dem Rücken zur Wand schlich er weiter und lugte sorgsam um die Ecke. Tatsächlich, da kauerte er. Das rote Kostüm spannte sich über seinen breiten Rücken, der Jimmy zugewendet war. Flauschige weiße Wolle säumte die Ränder des Kostüms. Welche Geschenke er wohl gerade unter den Baum legte? Der Weihnachtsmann vollzog rasche, abrupte Bewegungen. Jimmy konnte seinen faszinierten Blick nicht abwenden. Zum ersten Mal seit so langer Zeit wurde er Teil eines Privilegs, das sonst Erwachsenen vorbehalten war: er durfte dem Weihnachtsmann bei seiner Geschenkablage beiwohnen. Um einen besseren Blickwinkel zu bekommen stellte Jimmy sich direkt in den Türrahmen, um zu vermeiden, weiterhin unbequem um die Ecke spähen zu müssen. Das Licht des Vollmondes, das durch das rechteckige Wohnzimmerfenster fiel, lag nun in seinem Rücken und warf einen langen Schatten seines kleinen Körpers, der sich direkt rechterhand des Weihnachtsmannes erstreckte und auch teilweise über den Weihnachtsbaum fiel. Der Weihnachtsmann verharrte plötzlich. Der Santa stieg langsam aus der Hocke hoch und blieb stehen. Jimmy blickte mit funkelnden Augen zu ihm hoch. Der Weihnachtsmann war so groß wie die Tanne welche etwa zwei Meter maß. Seine breiten Schultern erinnerten mehr an einen Footballspieler, als an den Weihnachtsmann. Der Körperbau war generell sportlicher, als Jimmy den Weihnachtsmann eingeschätzt hatte, kein Bauchansatz war erkennbar. Jimmy sah an den Bewegungen des breiten Kreuzes, wie der Weihnachtsmann gelassen ein und ausatmete. Schließlich drehte er sich um. Jimmys Euphorie wich dem ersten Anblick des Weihnachtsmannes. Der Typ hatte düstere, finstere Augen. Die dunkelhaarigen Augenbrauen passten nicht zu seinem weißen, umgehängten Bart. Die Gestalt strahlte nicht die Gemütlichkeit des Weihnachtsmannes aus, den er in seinen Kinderbüchern so oft bereits gesehen hatte. „Hallo, Kleiner!“ brummte der Weihnachtsmann und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Die raue Stimme des Weihnachtsmannes ließ Jimmy zusätzlich erschaudern. Instinktiv machte Jimmy einige Schritte zurück, als der Weihnachtsmann mit langsamen Schritten auf ihn zulief. „Ich habe euch gerade einige Geschenke unter den Baum gelegt“, raunte er. „Ich denke, ihr werdet viel Spaß damit haben.“ Ein boshaftes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Jimmy starrte an der breiten Statur des Weihnachtsmannes vorbei. Entsetzt weiteten sich seine Augen. „Rufus!“ klagte er erschrocken. „Nun ja, Rufus war leider unartig dieses Jahr“, säuselte der Weihnachtsmann und machte einen Schritt zu Seite, um Jimmy vollen Einblick auf den Weihnachtsbaum zu gewähren. Unter dem Weihnachtsbaum lag der gehäutete Kadaver des Familienhundes. Sein Fleisch glänzte im Schein der billigen Elektrikkerzen. Eine Blutpfütze säumte seinen fleischigen Körper. Der teilweise skelettierte Kopf schien Jimmy auf irreale Art und Weise anzugrinsen. Jimmy stiegen die Tränen in die Augen. Das konnte unmöglich der leibhaftige Weihnachtsmann sein. „Und für Dich habe ich auch ein ganz besonderes Geschenk“, lechzte der Santa, als er eine lange, teilweise blutverkrustete Machete zum Vorschein brachte. Jimmy schrie laut auf und rannte aus dem Zimmer wieder direkt in die Eingangshalle. Gemächlich schreitend folgte ihm der Weihnachtsmann. Seine schweren Schritte hallten dumpf auf dem Parkettboden. Er zog den ausgebeulten, braunen Sack hinter sich her. Keuchend und schnaufend zog sich Jimmy die Treppenstufen herauf, während er immer wieder panisch hinter sich blickte. Schließlich trat der Weihnachtsmann teuflisch grinsend aus dem Zimmer, in dem der Weihnachtsbaum stand. Jimmy schrie wieder angespannt. Das Ende der Treppe schien aus seinem Blickwinkel plötzlich unendlich entfernt zu sein. Gelassenen, rhythmischen Schrittes lief der Weihnachtsmann durch das Wohnzimmer und blieb kurz im Schein des Vollmondes stehen. Er hob die Machete in die Höhe, die glänzend das Licht des lunaren Himmelskörpers reflektierte. Tränen rannen Jimmy über das Gesicht. Es schien, als wäre er in einem bösen Alptraum gefangen, aus dem es kein Entrinnen gab. Der Sack des Weihnachtsmannes zog eine blutige Spur über die Parkettdielen. Schließlich gelang es Jimmy, die Treppe hinter sich zu lassen In Todesangst hämmerte er mit beiden Fäusten gegen die Schlafzimmertür seiner Eltern, die diese seit drei Jahren gewohnheitsgemäß absperrten. „Mami, Papi, Mami, Papi!“ kreischte er immer wieder. Der Weihnachtsmann setzte unterdessen seinen Fuß auf die erste Treppenstufe. Die Mutter wachte als erstes aus dem Schlaf. „Carl, das ist Jimmy“, sagte sie schlaftrunken. Carl blinzelte mit den Augen und knipste die Nachttischlampe an. Sein Radiowecker zeigte ihm die Uhrzeit an. Es war 02:53 Uhr. Carl setzte sich auf die Bettkante. „Hm, der Arme wird wohl wieder einen Alptraum gehabt haben“, grummelte er und kratzte sich am Kopf. Gähnend wankte er zur Tür. Der Weihnachtsmann stieg langsam und bedrohlich die Treppen empor. Nur noch wenige Stufen trennten ihn vom Ende der Treppe. Wieder hämmerte Jimmy an die Tür und schrie um Hilfe. Der Vater schloss die Tür auf und ging sofort in die Hocke, als er seinen völlig aufgelösten Sohn vor sich sah. „Mein Gott, Jimmy, was ist denn los?“ fragte er besorgt und strich ihm die Tränen von der Wange. In diesem Moment merkte er, dass sich hinter Jimmy eine weitere Bewegung abzeichnete. Carl vermochte seinen Augen nicht zu glauben. Der Flur wurde nur vom Mondlicht erhellt, das aus der unteren Eingangshalle hinaufstrahlte, weshalb nur die Konturen der Gestalt zu erkennen waren. Der Lichtschalter des Flures war zu weit entfernt, als dass Carl das Licht hätte anknipsen können, ohne dieser Gestalt zu nahe zu kommen. Carl konnte jedoch erkennen, dass diese Erscheinung offenbar ein Weihnachtsmannkostüm trug. Und was ihn noch mehr entsetzte, war die Tatsache, dass er eine etwa dreißig Zentimeter lange Machete in der Hand hielt. Eine düstere Vorahnung überkam ihn. „Wer sind sie?“ fragte Carl mit einer Mischung aus erbosten und verängstigten Gefühlen. „Ich bin der Weihnachtsmann“, raunte sein Gegenüber finster und setzte einen ersten Schritt in Richtung von Vater und Sohn. Martha, Carls Ehefrau war dem Bett entstiegen und schaute aus der Distanz dem Geschehen zu. Fassungslos zog Carl seinen Sohn ins Schlafzimmer und stellte sich vor ihn. „Hören sie, ich rufe gleich die Polizei, verschwinden sie!“ schrie er seinen Gegenüber an. „Was hast Du denn für einen unartigen Tön?“ zischte der Santa böse und machte den nächsten dumpfen Schritt. Da öffnete sich die Zimmertür von Samantha, Jimmys Schwester, nur wenige Meter vom Weihnachtsmann entfernt. Die Tür ließ sich in den Flur hinein öffnen, so dass nun die Sicht auf den Weihnachtsmann verborgen war. „Dad? Was macht ihr denn für einen Lärm?“ fragte sie genervt. „Es ist drei Uhr nachts, verdammt noch mal.“ „Sam, komm her, schnell!“ schrie Carl und gestikulierte wild mit seinen Armen. Samantha zog die Augenbrauen ins Gesicht. „Was wird das, wenn es fertig ist?“ fragte sie skeptisch. „Vertrau mir, komm schon!“ schrie Carl nervös. Die Mutter hatte sich mit Jimmy in der Zwischenzeit in die hinterste Ecke des Schlafzimmers verzogen. Beide kauerten wimmernd auf dem Boden. Samantha erkannte keine Gefahr. Es loderte kein Feuer, die Erde bebte nicht. Wieso war ihr Vater bloß so entsetzt? Schon häufig hatte er solche Scherze gemacht. Er liebte es, Panik zu erzeugen, um dann mit einem breiten Lächeln die Situation als Streich zu entlarven. Vor allem an Halloween lief er zu Hochform auf. Samantha nervte dieser Tick ihres Vaters. In ihrer pubertären Phase missfiel ihr ohnehin so viel an ihrem Vater. Carl trat aus dem Türrahmen seines Schlafzimmers heraus und spurtete auf Samantha zu. Entschlossen ergriff er ihre Hand. „Mach nur einmal, was ich dir sage!“ flüsterte er ihr zu. Samantha zog wütend die Hand zurück. „Dad, du tust mir weh“, quengelte sie erzürnt und schüttelte ihre Hand. Mit einemmal krachte die Machete durch die weiße Zimmertür und durchbohrte Samanthas Nacken, worauf sie ihr aus dem Mund wieder herausschnellte. Samantha rollte mit den Augen, während ihr das Blut über das Kinn sickerte, begleitet von gurgelnden, röchelnden Geräuschen. „Samantha, nein!“ schrie Carl laut auf und raufte sich die Haare. „Nein!“ wiederholte er schluchzend und sank auf die Knie. Die Machete verhinderte, dass Samanthas Leichnam auf den Flurboden fiel, stattdessen stand sie noch immer einen Moment aufrecht vor der Tür. Erst als die Machete zurückgezogen wurde, fiel Samantha verkrampft auf den Teppichboden. Wimmernd beugte sich Carl über seine Tochter. „Oh mein Gott“, weinte er ergriffen. Plötzlich riss der Weihnachtsmann die geöffnete Tür aus der Verankerung und schleuderte sie durch die hölzerne Balustrade, welche zersplitterte. Schallend krachte die Tür auf das Parkett in der Eingangshalle. Die hölzernen Fragmente rieselten wie feiner Staub hinterher. Diese barbarische Bestie musste immense Kräfte besitzen. „Ich wette, DAS tat weh“, grinste der Weihnachtsmann sinister. Carl blickte hoch und stellte sich auf. „Du perverses Schwein!“ schrie er den Mann an. Dieser legte leicht den Kopf schräg, entgegnete jedoch nichts. Stattdessen stieg er über Samanthas Leiche. „Ich bringe Dich um!“ schrie Carl, immer noch weinend. Martha, Carls Ehefrau, eilte in den Türrahmen. Der Anblick ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen. Während der breitschultrige Weihnachtsmann über Samantha stieg, bereitete sich Carl offenbar auf einen Kampf vor. Die ganze Szenerie wurde vom kühlen, blauen Mondlicht illuminiert. „Carl, nein, tu das nicht, komm zu uns!“ schrie Martha. Jimmy hielt sich die Ohren zu. Er konnte all diese erschütternden Hilfs- und Todesschreie nicht mehr aushalten. Sie gingen ihm direkt durch Mark und Bein. „Carl!“ schrie Martha noch einmal mahnend, doch Carl rannte bereits blindwütig auf den Santa zu. Mit der Schulter rammte er den Santa in Bauchhöhe. Das Monstrum und Carl gingen zu Boden. Die Machete wirbelte hinfort in Richtung der Treppe. Carl setzte sich auf den Brustkorb des Weihnachtsmannes und schlug ein paar Mal auf dessen Gesicht ein, doch er hatte das Gefühl, der Bart würde die Schläge dämpfen, weshalb er ihm den Bart kurzerhand vom Gesicht riss. Carls Augen weiteten sich. Auf der Wange des Mannes klaffte eine große, X-förmige Narbe. Mit einemmal schossen ihm die Bilder einiger Zeitungsausschnitte in den Kopf. Es geschah vor nunmehr 22 Jahren, in der Weihnachtsnacht des Jahres 1983. Damals wütete ein als Weihnachtsmann verkleideter, erbarmungsloser Killer in einer Kleinstadt namens „Port Snowflake“. Der Fall ging weltweit durch die Medien und der unmenschliche Mörder kam unter dem Pseudonym des „Christmas Killers“ zu pervertiertem Ruhm. Sein bürgerlicher Name war Hector Muergo. Bevor er gestellt wurde, gelang es ihm, dreißig Kinder abzuschlachten, deren Vertrauen er sich zuvor als Weihnachtsmann erschlichen hatte. Nur ein einziges Kind namens Peter Hopman war seinerzeit in der Lage, dem gnadenlosen Gemetzel ein Ende zu bereiten. Er fügte Muergo schließlich die X-förmige Narbe auf der Wange zu und konnte ihn mit einer Blumenvase bewusstlos schlagen. Im Winter vor drei Jahren, im Jahr 2002, gelang Muergo die Flucht aus dem Hochsicherheitstrakt. Und pünktlich zur Weihnachtszeit gab es erneut abscheuliche, widerwärtige Morde, als eine vierköpfige Familie und ein Rentner brutal niedergemetzelt wurden. Die Leichen des Vaters und des Rentners fand man im Wald, die Frau und die Kinder wurden scheinbar direkt vorm Weihnachtsbaum abgestochen. Die Öffentlichkeit war sich schnell einig, dass Muergo hinter den Morden stecken musste, doch bis heute war es der Polizei nicht gelungen, ihn zu ergreifen. Die Einwohner rund um Port Snowflake hatten die letzten drei Weihnachtsabende bereits unter großer Unruhe und Sorge verbracht. Freilich bemüht, sich gegenüber den Kindern nichts anmerken zu lassen. Die düstere Vorahnung hatte sich somit bestätigt. Carls Ablenkung ausnutzend verpasste ihm der Santa eine Kopfnuss, die Carls Nasenbein zerbersten ließ. Ein Blutschwall schoss aus der Nase. Carl ächzte auf und wischte sich kurz mit dem Handrücken über die Nase. Er versuchte, die Schmerzen zu ignorieren. Der Weihnachtsmann schmiss sich auf ihn und drückte seine Schultern zu Boden. Immer wieder drosch er auf die gebrochene Nase ein. Carl schrie vor unbändigem Schmerz. Muergo war ihm physisch eindeutig überlegen. Urplötzlich stürmte Jimmy an seiner Mutter vorbei, die noch vergeblich versuchte, ihren Sohn am Kragen seines Schlafanzugs zu packen, und sprang über die beiden Kombattanten. Muergo streckte die Hand aus, um ihn zu erwischen, doch er streifte nur Jimmys Bein. Jimmy landete unsanft auf dem Bauch, direkt neben seiner toten Schwester, die ihn mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen anstarrte. Der intensive Schock, der Jimmy durch seine Glieder fuhr, verflog jedoch wieder, als er in der Ecke des Ganges die Machete liegen sah. Keuchend robbte er sich vorwärts. Irgendwie musste es ihm gelingen, in den Besitz der Machete zu kommen, um dieses unbarmherzige Ungeheuer ein für allemal von seinen Taten abzuhalten. Die Machete befand sich nur noch wenige Zentimeter von seinen ausgestreckten Fingern entfernt. In diesem Moment gelang es Muergo, Jimmy am Bein zu packen. „Komm her, Kleiner“, brummte Muergo und zog Jimmy an der Schlafanzughose in seine Richtung. Jimmy streckte sich nochmals. Seine Fingerspitzen streiften bereits den Griff der Machete, als er ruckartig nach hinten gezogen wurde. Carl hatte sich mittlerweile wieder aufgerafft und taumelte benommen umher. Sein weißes T – Shirt war blutbefleckt. Er stützte sich an der Wand ab und trat Muergo, welcher gerade mit Jimmy beschäftigt war, mit vollem Anlauf an den Kopf. Muergo stöhnte leise auf und ließ von Jimmy ab. Carl stellte seinen Fuß auf Muergos breiten Rücken und sprang von selbigem ab. Er flog über Muergo, Jimmy und Samantha, rollte sich ab und ergriff die Machete. Wütend rannte er auf Muergo zu, während er „Stirb, Du Bastard!“ brüllte. Mit einer großen Anlaufbewegung stach Carl schreiend auf Muergo ein. Als die Machete den Widerstand der Haut durchdrungen und tief ins Fleisch eingedrungen war, hielt Carl inne. Maßlose Fassungslosigkeit spiegelte sich in seinem konsternierten Gesichtsausdruck wider. Rasch füllten sich seine Augen erneut mit Tränenflüssigkeit. Jimmy griff sich perplex an die Wunde in seinem Brustkorb, die das Messer hineingerissen hatte. In letzter Sekunde war es Muergo gelungen, Jimmy an den Beinen zu packen, um ihn als lebendigen Schutzschild zu missbrauchen. „Frohe Weihnachten!“ flüsterte Muergo Jimmy ins Ohr und ließ ihn zu Boden krachen, während er ihn aber weiterhin an den Füßen festhielt. Anschließend wirbelte er den kleinen Körper wie ein Hammerwerfer umher und streckte Carl damit nieder, als die beiden Schädel aneinanderprallten. Die Machete riss aus Jimmys Brustkorb und ging zu Boden. Immer noch an den Füßen festhaltend, wuchtete er Jimmys Körper drei Mal gegen die Wand, woraufhin die dort aufgehängten gläsernen Abdeckungen der Rahmen der Familienfotos zersplitterten. Blutspritzer formten ein bizarres Muster an der Wand. Schlussendlich schmiss er Jimmys toten Körper über die zerstörte Balustrade in die Eingangshalle. Carl saß auf dem Boden und blickte regungslos auf den Teppich. Innerhalb weniger Sekunden wandelte sich diese bis dato von weihnachtlichem Frohsinn geprägte Winternacht in einen leibhaftigen Alptraum schrecklichsten Ausmaßes. Carl hatte in den letzten Minuten auf brutalste, widerwärtigste Art und Weise das verloren, was sein Leben mit Sinn bereicherte: seine leiblichen Kinder, sein eigenes Fleisch und Blut. Noch während seine Sinne versuchten, die furchtbaren Ereignisse zu verarbeiten, hatte sich Muergo bereits vor ihm aufgebaut. Obgleich die Machete direkt vor Carls Füßen lag, so fand er nicht mehr die notwendige Kraft, sie zu ergreifen. Körper und Geist resignierten. Muergo ging in die Hocke und starrte Carl boshaft in die Augen. Ohne jegliche Hektik ergriff Muergo die Machete. Er spürte, dass Carls kämpferische Leidenschaft erloschen war. Tränen rannen Carl über die Wangen. Er schaffte es nicht einmal mehr, um Hilfe zu schreien. Auch wenn eine innere Stimme ihn aufforderte, sich noch einmal aufzubäumen, wenigstens seiner Frau zuliebe. Muergo steckte sich die Machete in den breiten Ledergürtel, der das rote Kostüm umschloss, stellte sich hinter Carl und brach ihm mit einer raschen Handbewegung das Genick. Noch während er Carls verdrehten Kopf in den Händen hielt richtete er seinen Blick auf Martha, welche das Geschehen apathisch beobachtet hatte. Muergos Blick war voller Hass und tiefer, purer Bösartigkeit. Ein Mensch, der nicht einmal vor dem Morden unschuldiger Kinder halt machte, wäre durch nichts auf der Welt zu besänftigen gewesen. Marthas Atem ging derart hastig, dass sie beinahe zu hyperventilieren drohte. Eisige Kälte durchdrang das Haus, dennoch rannen ihr Schweißtropfen über die Stirn. Angstschweiß. Martha schmiss die Tür ins Schloss, drehte eilig den Schlüssel und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Nervös blickte sie sich im Schlafzimmer um. Hätten sie und Carl bloß diesen Sommer wie geplant die Telefonleitung ins Schlafzimmer legen lassen. Ihr umherirrender Blick suchte nach irgendeinem Gegenstand, den man als Waffe hätte einsetzen können, doch abgesehen von der Nachttischlampe kam ihr nichts in den Sinn. Eilig sprang sie von der Tür weg, als sie sich daran erinnerte, wie mühelos Muergo Samanthas Tür durchbrochen hatte. Und tatsächlich, im nächsten Moment schnellte die Machete durch die Tür, immer und immer wieder. Das Holz splitterte auf den Schlafzimmerboden. An den Stellen, an denen Muergo die Tür eingeschlagen hatte, strömte dieses grauenhaft blaue Mondlicht durch die Ritze mit einer Intensität, die beinahe auf eine künstliche Beleuchtung schließen ließ. Martha war trotz der grauenvollen Umstände klar genug bei Sinnen, um zu akzeptieren, dass sie die letzte Überlebende dieser Weihnachtsnacht war. Sie musste in erster Linie einen Weg finden, diesem Verrückten zu entfliehen. Die Trauer würde sie später ohnehin übermannen. Doch dieser Zeitpunkt war jetzt noch nicht gekommen. Sie eilte zum Fenster und riss es auf. Kalte, klare Luft strömte herein. Eine Gänsehaut spannte sich über ihren Nacken und ihre Arme. Wieder brach die Machete ein Stück Holz aus der vibrierenden Tür. Verzweifelt schrie sie um Hilfe, wie sie es eigentlich schon viel früher hätte tun sollen. Das Haus der Nachbarn war unbeleuchtet, sie waren über die Feiertage in die Rocky Mountains gefahren. Dennoch schrie sie weiter, bis sich ihre Stimme überschlug, vielleicht wurde ja wenigstens irgendein Spaziergänger auf die Schreie aufmerksam. Muergo schlug unterdessen mit der bloßen Faust ein Loch durch die Tür und tastete nach dem Schlüssel, der nach wie vor im Schloss steckte. Instinktiv ergriff Martha den Stuhl, der neben dem Fernseher in der Ecke des Zimmers stand, stellte ihn auf die Tür gerichtet zu Boden und trat mit voller Wucht dagegen. Der Stuhl schlitterte auf die Tür zu und schmetterte gegen Muergos umhertastende Hand. Martha wusste nicht, ob das volltönende Knacken bloß vom zerfetzten Stuhl kam, oder auch von Muergos Handknochen. Muergo schrie auf und zog ruckartig die Hand zurück. Er hob sie ins Mondlicht und erkannte, dass alle fünf Finger auf unnatürliche Weise verbogen waren, sich teilweise sogar kreuzten und unrhythmisch zuckten. Einige zentimeterdicke Holzsplitter hatten sich geradewegs durch die Hand gebohrt. Zweifelsohne, die Finger waren allesamt gebrochen. „Ich werde dich in Stücke schneiden!“ brüllte er. „In meinem Sack ist noch ein wenig Platz“, gierte er und warf seinen massigen Körper gegen die Tür. Einige Schrauben lösten sich bereits aus dem Gewinde und kullerten über den Boden. Martha eilte zurück zum Fenster und blickte herab. Die Distanz bis zum Boden schätzte sie auf fünf bis sechs Meter. Sie hatte keine Ahnung, ob der Schnee hoch genug war, um ihren Sturz ausreichend abschwächen zu können, doch es gab keine andere Möglichkeit, dieser Hölle zu entfliehen. Mit einem gellenden Schrei flog sie herab und fiel sanft in den Schnee, der ihren Sturz vollständig abfederte. Sich den Schnee vom Kopf schüttelnd blickte sie hoch zum Fenster. Muergo stand bereits im Fensterrahmen. Martha versuchte verzweifelt, von der Stelle zu gelangen, doch der Schnee, der ihr eben noch das Leben gerettet hatte, formte nun einen kräftezehrenden Widerstand. Etwa bis zur Hüfte war sie vom Schnee umgeben. Mit paddelnden Bewegungen und einigen Sprüngen versuchte sie dem drohenden Unheil zu entfliehen, doch es kam ihr vor, als würde sie gegen den Strom schwimmen, als würde weißer Teer ihre Beine umspielen. Hinter ihr fiel Muergo in den Schnee. Martha blickte wieder nach hinten. Hastig versuchte ihr Körper, Luft in die letzten Lungenkappilare zu pressen. Für einen kurzen Moment hatte sie tatsächlich geglaubt, Muergo entfliehen zu können, doch nun war er abermals wenige Meter hinter ihr. Auch Muergo musste sich durch den Schnee kämpfen, doch gelang ihm dies weitaus müheloser, als es bei der schmächtigen Martha der Fall war. Mehr und mehr verringerte sich die Distanz zwischen den beiden. Verzweifelt schrie Martha neuerlich um Hilfe. Muergo hob die blitzende Machete empor. Ein Taubheitsgefühl schlich sich allmählich in Marthas kribbelnde Beine. Sie rechnete jeden Moment damit, einen stechenden Schmerz im Rücken zu verspüren, hervorgerufen durch Muergos finalen Machetenhieb. Muergos fauler Atem schien ihr direkt in den Nacken zu hauchen. Plötzlich hallte ein Schuss durch die Nacht. Linkerhand von Martha spritzte eine Blutfontäne über den Schnee. Konsterniert hielt sie inne Sie erkannte noch, wie Muergo leise stöhnend in den Schnee sackte und blickte sich um. Ihr überreizter Atemgang formte kleine Kondenswölkchen. Auf dem Bürgersteig stand ihr Nachbar von der anderen Straßenseite, William Peterson. Der Qualm kroch noch aus dem Lauf seiner Waffe. Zwanzig Minuten später hatten Feuerwehr und Polizei das Haus umstellt. Die umhertanzenden blauen und roten Signallampen der Sirenen ließen die Straße wie eine Discohalle erstrahlen. Feine Schneeflöckchen rieselten hernieder. Peterson und Martha saßen auf einer Trage, die auf dem Bürgersteig errichtet wurde. Einer der Feuerwehrmänner hatte Martha eine Wolldecke über die Schultern gelegt. Ihre blassen Hände umschlossen einen wohlig wärmenden Becher Kaffee. Selbst den routiniertesten Gesetzeshütern stockte der Atem, als sie das Haus betraten. Einer der Polizisten übergab sich beim Anblick des gehäuteten Hundes. Der Blutspur aus dem Raum folgend gelangten sie zu dem brauen Sack, der an der Treppe lehnte und mit diversen Körperteilen gefüllt war. „Was zum Teufel hat sich hier abgespielt?“ fragte der Sergeant angewidert und schockiert, als er die die Leichen der Familienmitglieder erblickte. Peterson rieb Martha den Rücken. „Danke, dass sie mich gerettet haben“, sagte Martha mit zittriger Stimme. Petersons hellblaue Augen strahlten Wärme und Zuversicht aus. Sein schlohweißes Haar lag ihm ungeordnet im von tiefen Furchen gezeichneten Gesicht. Im Hintergrund wurden drei Särge aus dem Haus getragen. Peterson strich ihr eine Träne von der Wange. „Erst hörte ich ihre Hilfeschreie, dann sah ich diesen Kostümierten mit einem Messer hinter ihnen herlaufen“, er schüttelte fassungslos den Kopf, „meine Güte, ich dachte erst, ihr würdet einen schlechten Horrorfilm drehen. Doch dann sah ich in die Augen dieses Mannes. Da flammte das Böse. Das war kein Spiel. Und kurzerhand habe ich abgedrückt.“ Er drückte Martha an sich. Was hatte diese Frau alles durchstehen müssen? Sie hatte an diesem Weihnachtsabend ihre Familie verloren. Einer der Polizisten kam zur Trage. „Mrs. Miller?“ fragte der dunkelhäutige Ordnungshüter mit strengem Gesichtsausdruck. Martha blickte zu ihm hoch. „Ja?“ „Wir haben eine schlechte Nachricht.“ Martha starrte ihn an. „Wir haben nun den gesamten Garten abgesucht. Wir…“, er legte eine kurze Pause ein, „haben keine Leiche entdecken können.“ Der Kaffeebecher fiel zu Boden und sein Inhalt sickerte durch den schmelzenden Schnee. Entsetzt schlug sie die zitternde Hand vors Gesicht und erlitt einen Weinkrampf. Peterson drückte sie noch ein wenig fester an seinen Körper, versuchte ihr Halt zu geben. „Wir werden die Umgebung weiter absuchen. Es ist merkwürdig. Es gibt keine Fußspuren und keine Blutspuren, außer denen, die der Einschuss hinterlassen hat. Es ist fast so, als hätte er sich in Luft aufgelöst.“ Martha sank von der Trage auf die Knie und schrie all ihren Schmerz, ihren Kummer und ihre Pein hinauf in Richtung des sternenklaren Himmelzelts. Ein paar Häuser weiter beobachtete ein dunkler Schatten, welcher auf dem Dach eines der Häuser stand und sich am Schornstein festhielt, das Geschehen und entschwand schließlich im Dunkel der Nacht. Noch Wochen später berichteten die Zeitungen von den unheimlichen Ereignissen. Nach dem Gemetzel vor drei Jahren war der „Christmas Killer“ zweifelsohne zurück. Auch nachdem der Schnee abgetaut war, konnten die Suchkräfte keinen Körper finden. Martha zog wenige Tage nach den Geschehnissen zu ihrer Schwester, zu viele schmerzhafte Erinnerungen hingen an dem Gebäude. Als sie die letzten Gegenstände aus dem Schlafzimmer trug, blickte sie nochmals aus dem Fenster. Ihr Blick fixierte die Stelle, an der Muergo angeschossen wurde. Noch immer stellte sie sich die Frage, wie er verschwinden konnte, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Und wieder rann ihr eine Träne über das Gesicht, obgleich sie in den letzten Tagen bereits soviel Tränenflüssigkeit vergossen hatte. Nach dem Jahreswechsel kehrte wieder ein wenig Ruhe in Port Snowflake und Umgebung ein. Eine trügerische Ruhe. Weihnachten würde nie wieder so sein, wie es einst war. Und auch, wenn die Eltern schwiegen, sobald die Kinder unangenehme Fragen stellten, so stand fest, dass nach dem Herbst des Jahres 2006 wiederum die Weihnachtszeit beginnen würde. Die Leute würden Geschenke kaufen, ihre Fenster schmücken, Weihnachtslieder singen, Familienmitglieder besuchen, in die Kirche gehen und den Andachten des Pfarrers lauschen. Doch inmitten all der weihnachtlich gesinnten Stimmung würde sich fortan das Gefühl der Furcht einschleichen. Denn mit Weihnachten würde auch der Weihnachtsmann zurückkehren…

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.12.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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