Oskar Stöcklin

Wenn ...

 
Wenn ich gestern gegen Mitternacht in meiner Stammkneipe nach intensivem Nachdenken nicht beschlossen hätte, doch noch ein Glas Wein zu bestellen, hätte ich mich heute morgen nicht verschlafen. Wenn ich mich nicht verschlafen hätte, wäre ich zur gewohnten Zeit erwacht. Ich hätte mich zur gewohnten Zeit auf den Weg zum Bahnhof begeben. Ich hätte den gewohnten Zug genommen, der mich zur gewohnten Zeit an meinen gewohnten Arbeitsplatz gebracht hätte. Doch dieses Mal hätte der Tag nicht den gewohnten Verlauf genommen. Mir gegenüber im Zug wäre ausnahmsweise nicht der griesgrämige Hasenfratz gesessen, da er, wie es sich gehört, ein Opfer der saisonalen Grippewelle war, sondern ein dunkel gekleideter Mensch, der von Zeit zu Zeit sehr vornehm hinter einer Zeitung hervorblickte. Beim Aussteigen wäre ich ihm im Gedränge auf die Zehen getreten, ohne im geringsten zu ahnen, welche folgenschwere Kette von Ereignissen mein Fehltritt auslöste. Besagter vornehm dreinblickender Mensch war nämlich niemand anders als der Portier der Generaldirektion der Privatbank „Fuchs und Has“. Meine ungeschickte körperliche Kontaktnahme hatte sowohl schmutzige Schuhe als auch schmerzende Zehen zur Folge. Beide Umstände führten dazu, dass der Türsteher äusserst schlecht gelaunt seinen Posten einnahm. Er sass verärgert in seiner Portierloge und tat etwas, das er bisher noch nie während der Arbeitszeit getan hatte: Er bückte sich! Er bückte sich und reinigte mit einem Papiertaschentuch seinen linken Schuh. Eine boshafte Laune des Schicksals fügte es, dass genau in diesem Augenblick Frau Has vorbeirauschte. Da sie der Hüter des Hauses nicht bemerkte, konnte er nicht, wie in diesen Fällen üblich, mittels Haustelefon eine Sturmwarnung durchgeben. So geschah es, dass die Frau Has ebenso unerwartet wie unerwünscht mit einem lauten Halloschatzdabinich ins Büro ihres Gatten schwebte. Die freudige Begrüssung brach abrupt ab. Nicht etwa, weil der Angesprochene nicht da war. Ganz im Gegenteil, er war sehr da, und ganz vertieft. Nicht in seine Arbeit, sondern in seine Sekretärin. Die hatte, um ihrem Chef besser zu Diensten zu sein, ihren Bürostuhl mit seinen Knien getauscht. Frau Has holte Luft, und was jetzt ihrem weit geöffneten Mund entströmte, war ein so entsetzlicher Schrei, dass die Fensterscheiben um ihr Leben zitterten. Begleitet wurde der Schrei vom Flug des Briefbeschwerers, den die erboste Dame in ihrer Wut rasch ergriffen und gegen die malerische Sitzgruppe geschleudert hatte. Sie verfehlte ihr eigentliches Ziel und musste sich mit der römischen Vase begnügen, die unter klirrendem Protest in tausend Stücke zerfiel und so elendiglich ihr langes Leben aufgab. Es versteht sich, dass der Schrei der Frau Has, begleitet vom Klirren der Vase, weit über das Has‘sche Privatbüro hinausdrang, das ganze Haus erfüllte und auch vor dem kleinen Konferenzraum nicht Halt machte. Genau zu diesem Zeitpunkt befanden sich darin drei tschengesische Geschäftsleute, die ungeduldig auf eine wichtige Besprechung warteten. Nicht vertraut mit den Sitten unseres Landes und im Bewusstsein, dass das anstehende Geschäft keine Sauberkeitsprobe bestanden hätte, wurden sie von Panik ergriffen. Sie packten ihre Aktenköfferchen und rannten, als wäre der Teufel hinter ihnen her, aus dem Konferenzzimmer, die Treppe hinunter und ins Freie. Unterdessen hatte der Portier seine Schuhreinigung beendet. Er hörte den Lärm, sah drei Figuren an sich vorbeirasen und tat genau das, was in solchen Fällen zu tun ist. Er drückte den Alarmknopf. Die Sirene drang durch Mark und Bein, Menschen stürzten aus ihren Büros, man schrie, fragte, kreischte, es herrschte ein prächtiges Chaos. Der Portier stammelte etwas von drei Gangstern, doch zu sehen war nichts. Die waren bereits verschwunden. Aber weit kamen sie nicht. Man stelle sich vor: Am heiterhellen Tag dröhnt eine Sirene, und aus einer Bank rasen drei dunkelgekleidete, fremdländisch aussehende Männer mit schwarzen Aktenköfferchen. Ein Bild wie aus einer Fernsehserie, und ein gefundenes Fressen für mutige Passanten. Ein solcher war tatsächlich vor der Bank. Er erfasste sofort die Situation, stellte dem vordersten ein Bein, dieser stürzte, und seine Kameraden purzelten über ihn. Als weitere Passanten dies sahen und merkten, dass die drei sich gar nicht wehrten, wurden auch sie mutig. So gelang es ihnen, die drei Unglücklichen festzuhalten, bis die Polizei auftauchte, sie mit Handschellen verzierte, auf den nächsten Polizeiposten brachte und in einer Arrestzelle versorgte. Schliesslich begann man, sie zu verhören. Da gab es ein Problem. Die drei weigerten sich, in einer bekannten Sprache zu reden. Die Polizeibeamten entnahmen ihren Papieren, dass sie aus Tschengesien kamen. Von diesem Land hatten sie schon gehört, in den Nachrichten oder so. Aber wo um Himmels willen einen tschengesischen Dolmetscher hernehmen? Da überfiel einen die Erleuchtung: Es gibt doch sicher eine tschengesische Botschaft. „Ja, Botschaft,“ rief einer der Inhaftierten, „Botschaft holen!“ So viel hatte er also verstanden. Er durfte selber telefonieren. Es ging nicht lang, und eine schwarze Limousine mit einem Fähnchen parkierte vor dem Polizeiposten. Der tschengesische Botschafter persönlich betrat den Posten. Gott sei Dank, jetzt war das in Ordnung. Nichts war in Ordnung. Der tschengesische Botschafter verbeugte sich tief vor den Häftlingen, und es entwickelte dich ein längeres aufgeregtes Gespräch zwischen dem Botschafter und einem seiner Landsleute. Schliesslich wandte sich der Botschafter mit hochrotem Kopf und schneidender Stimme an die verblüfften Beamten: „Was fällt Ihnen eigentlich ein! Wissen Sie, was Sie getan haben? Sie haben den Bruder des Handelsministers von Tschengesien verhaftet. Und das in einem Land, das so stolz sein will auf seine Neutralität. Das wird ein Nachspiel haben. So etwas lässt sich unser Tschengesien nicht bieten.“ Jetzt überschlagen sich die Ereignisse, auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. Die drei Männer werden unverzüglich freigelassen, die Polizei kommt unter medialen Beschuss - die einen werfen ihr Fremdenfeindlichkeit vor, weil sie unschuldige tschengesische Menschen willkürlich als Verbrecher behandelte, die andern werfen ihr vor, sich korrumpieren zu lassen -, es kommt zu Demonstrationen - „Für ein freies Tschengesien, gegen Polizeiwillkür“, Disziplinarverfahren werden durchgeführt, der Polizeikommandant wird entlassen und erschiesst sich, in Tschengesien zitiert man unseren Botschafter vor den Ministerpräsidenten, der ihn zusammmenstaucht, die tschengesische Botschaft wird aus unserem Land abgezogen, die Handelsbeziehungen werden abgebrochen, die UNO verhängt ein Waffenembargo über Tschengesien, das von mehreren Ländern erfolgreich unterlaufen wird, die Grösste Weltmacht GW stellt fest, man habe Beweise, dass Tschengesien die freie Welt bedroht und bringt im Sicherheitsrat eine Resolution ein, die ihr erlauben soll, einen präventiven Verteidigungskrieg zu führen, Asien ist dagegen, Afrika ist dafür, Europa ist gespalten, die Lage spitzt sich zu, die Welt zittert, die Armeen sind in Alarmbereitschaft, eine Katastrophe bahnt sich an. Wer kann sie noch aufhalten? Ja, wer wohl? Ich natürlich. Ich habe mich ja verschlafen und mich damit um die Gelegenheit gebracht, einem vornehmen Herrn auf die Füsse zu treten. Statt dessen bin ich zwar zu spät an meinen gewohnten Arbeitsplatz gekommen, aber sonst verlief der Tag auf die gewohnte Art. Und jetzt sitze ich in meiner Stammkneipe und denke intensiv darüber nach, ob ich noch ein Glas Wein bestellen soll. Oskar Stöcklin

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.12.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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