Maren Frank

1. Kapitel: "Gestrandet"

 
 
Das Meer war schon seit Stunden in heftiger Bewegung. Immer wieder schwappten Wellen über die Reling des kleinen Bootes und ärgerten damit Sina. Sie hatte bereits dreimal den Boden trocken gewischt.
„Gib es doch auf, bei der nächsten Welle ist er sowieso wieder nass“, meinte Arktikus. Er stand an den Mast gelehnt, die Arme locker verschränkt und ein Bein angewinkelt. Sein langer Mantel wehte im Wind.
„Statt gute Ratschläge zu geben, die keiner hören will, könntest du mir besser helfen.“
„Das tue ich doch, in dem ich dir sage, dass es nichts bringt, den Boden trocken zu wischen. Außerdem haben wir sicher bald keine trockenen Handtücher mehr.“
„Dann nehme ich eben dein Bettzeug.“ Sina kniete und begann zu wischen. Die Welle, die von hinten kam, sah sie nicht, spürte sie aber dafür umso deutlicher. Das kalte Wasser drang durch den violetten Stoff ihres Kleides und sie schrie erschrocken auf. „Ah!“
Arktikus war zur Stelle und zog sie hoch, bevor die Wucht der Welle sie womöglich über Bord schleudern konnte. „Da siehst du, was dir die blöde Wischerei einbringt. Fast wärst du über Bord gegangen.“
„Wäre ich nicht“, widersprach sie und begann an ihren langen Haaren herumzuzupfen, die nun nass und klamm ihren Rücken herunter hingen. „Und nun tu was. Du kennst doch so viele Zaubersprüche, da wird doch einer bei sein, der unser Deck trocken hält.“
„Das geht nicht.“ Arktikus schüttelte den Kopf. „Das Meer ist viel stärker als meine Zauberkraft. Da kann ich gar nichts bewirken.“
„Du versuchst es ja nicht mal.“ Sina war immer noch mit ihren Haaren beschäftigt. Dass der Wind nun stärker blies, vereinfachte es nicht gerade, die langen Strähnen zu entwirren.
„Weil ich weiß, dass es sowieso nichts bringt. Ich verliere lediglich meine Zauberstärke und die spare ich mir lieber auf, damit ich die volle Kraft habe, wenn ich sie wirklich brauche.“ Er streckte eine Hand aus und zog ihr eine kleine spiralförmige Muschel aus den Haaren. „Du hättest auf mich hören sollen und die Haare vor unserer Abfahrt schneiden lassen. Schau mich an, ich habe keine Probleme.“
Sina schnaubte missmutig. Arktikus graues Haar war sehr kurz geschnitten, das hatte er einen Tag, bevor sie an Bord gingen, machen lassen. Weil es praktischer sei, hatte er ihr erklärt, als sie fast einen Schreikrampf des Entsetzens bekommen hatte. Die langen welligen Haare hatten so gut zu ihm gepasst. Sie hatte ihm gesagt, dass niemand ihn mehr ernst nehmen würde, kein Zauberer trug sein Haar so kurz, jedenfalls keiner in seinem Alter. Aber er hatte nur gelacht und gemeint, dass das auf See niemanden interessieren würde.
Eine neue große Welle schwappte heran, umspülte Sinas Beine bis zu den Knien und brachte sie fast aus dem Gleichgewicht.
Arktikus hielt sie fest und blickte mit leicht gerunzelter Stirn auf die aufgewühlte Wasseroberfläche. Dunkelgrau und bedrohlich türmten sich Wolken auf, schienen direkt auf dem Wasser zu beginnen.
Sina folgte mit den Augen seinem Blick. „Wollen wir lieber runter gehen? Nass bin ich zwar schon, aber hier ist es mir jetzt etwas zu ungemütlich.“
„Das wird noch weit ungemütlicher werden“, murmelte Arktikus leise. Er hatte es eigentlich nur zu sich selbst gesagt, doch Sina hatte die Worte gehört.
Ihr lief ein Schauer über den Rücken, der nicht allein von dem feuchten und kalten Stoff ihres Kleides herrührte. Wenn Arktikus sich Sorgen machte, war die Lage wirklich ernst. Deshalb war sie auch gestern gar nicht besorgt gewesen, als dieser freche Hai versucht hatte, ins Boot zu beißen. Sie hatte nur zu Arktikus gesehen und da er so gelassen blieb, war sie es auch. Der Hai hatte sich überzeugen lassen, dass das Holz ganz schlecht für seine Zähne wäre und war mit einigen Verwünschungen davon geschwommen. Jedenfalls glaubte Sina, dass es Verwünschungen waren, die er gemurmelt hatte, sie beherrschte die Haisprache nicht. Arktikus dagegen schon, aber er hatte die Worte nicht übersetzt.
Sie hatte den Zauberer noch nie nervös erlebt. Überhaupt schien Arktikus nichts aus der Ruhe zu bringen. Doch jetzt war er besorgt und das bedeutete, dass sie wohl in Gefahr waren. Sie ließ ihren Blick von einer Seite zur anderen wandern und drehte sich dabei leicht. Doch überall war das gleiche zu sehen: Meer, mit Wellen, die heftiger wurden und darüber dunkle regenschwere Wolken. Nirgends war Land in Sicht, kein Hafen, kein Sandstrand.
Der Boden unter ihr schwankte. Das kleine Boot wurde wie ein Spielzeug auf und ab bewegt. Das Steuerrad drehte sich wie wild, mal im Uhrzeigersinn, mal dagegen. Sie würden keine Chance haben, es anzuhalten und das Boot auf Kurs zu bringen.
Auf Kurs, das war auch so eine Sache. Denn eigentlich hatten sie gar keinen Kurs. Sie waren einfach losgesegelt, zwar mit einigen Seekarten, aber bereits nach fünf Tagen hatten sie sich in Gewässern wieder gefunden, die auf keiner ihrer Karten verzeichnet waren und von denen sie vorher noch nie etwas gehört hatten. Denn an violettes Wasser hätten sie sich sicher erinnern können.
Der Wind hatte ihre Segel gut aufgebläht und sie durch gelbes, rotes und blaues Wasser getragen. Nun waren sie in türkisfarbenem, doch ohne Sonnenlicht wirkte es eher wie tiefes, mit grau vermischtes blau. Und sie konnten nicht mehr segeln, die beiden Masten ragten nackt in den düsteren Himmel auf. Arktikus hatte erklärt, dass die Segel bei dem starken Sturm reißen würden, deshalb hatten sie sie eingeholt und fest verschnürt an den Rand der Reling gebunden.
Sina tippte Arktikus leicht an. „He, was ist? Sag doch, was wir machen sollen.“
„Ich überlege“, murmelte er. Auch der hoch gewachsene, sportlich durchtrainierte Zauberer musste sich festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Der stark blasende Sturm rauschte gemeinsam mit den tosenden Wellen in Sinas Ohren. Sie kniff die Augen leicht zusammen und senkte den Kopf ein Stück. „Zauber doch endlich!“, brüllte sie gegen den Sturm an.
„Das Meer ist viel stärker, kein Zauberer, den ich kenne, könnte derart große Wassermassen bezwingen.“
„Und wenn wir es beide zusammen versuchen?“, fragte Sina. Ein wenig Zauberkraft hatte sie schließlich und von Arktikus in den drei Jahren, die sie schon bei ihm lebte und arbeitete, viel gelernt.
Doch er schüttelte den Kopf. „Nicht mal ein Dutzend Zauberer wäre dazu in der Lage.“
Sinas feine Sinne registrierten die Niedergeschlagenheit in seiner Stimme. „Heißt das etwa, du gibst einfach so auf? Ohne es zumindest zu versuchen? Du willst uns kampflos ertrinken lassen.“ Sie konnte nicht fassen, was er da gerade gesagt hatte. Arktikus fand sonst immer eine Lösung und sie war überzeugt, dass es auch hier einen Ausweg gab. Sie mussten ihn nur finden.
„Solange das Schiff nicht untergeht, werden wir nicht ertrinken. Wir dürfen nur nicht über Bord fallen.“
Sina umklammerte den Mast mit beiden Händen, um der anrollenden Welle stand zu halten. Ihr war so kalt, dass sie fast mit den Zähnen klapperte. Und ein Blick zum Himmel zeigte, dass die Wolkenberge nur noch dunkler und dichter geworden waren. Nirgends gab es eine Lücke, kein Sonnenstrahl, der hoffnungsvoll hindurchgeblitzt hätte.
Dafür begannen nun Blitze zu zucken und Regen setzte ein. Sina schüttelte leicht den Kopf, um das Haar aus dem Gesicht zu bekommen. Sie wagte nicht, eine Hand zu lösen. Der Regen machte jetzt auch nichts mehr, so nass wie sie bereits war.
Plötzlich packte Arktikus sie am Arm. „Weg hier!“, schrie er laut.
„Was ...“ Verwirrt sah Sina ihn an. War er denn verrückt geworden? Wenn sie den Mast jetzt losließ, würde die nächste Welle sie über die Reling spülen. Und eine Chance, in ihr kleines Schiff zurück zu kommen, hatte sie nicht.
Arktikus zog und so musste Sina loslassen. Er sagte irgendetwas, aber gleichzeitig ertönte ohrenbetäubender Donner, so dass sie nichts verstehen konnte.
Und dann sah sie Wasser, die aufschäumenden Wellen, die sie im nächsten Augenblick durchbrach. Ihr blieb gerade noch genug Zeit, geistesgegenwärtig den Mund zu schließen, dann tauchte sie bereits ein.
Das Wasser war kalt und dunkel, nichts war vom Grund zu sehen, der wahrscheinlich erst viele, viele Meter weit unter ihr begann. Ihre Kleidung klebte ihr schwer am Körper. Doch sie kämpfte sich hoch, schaffte es, den Kopf über Wasser zu bekommen und schnappte japsend nach Luft.
Sie trat Wasser und sah sich um. Keine zwei Meter von ihr entfernt entdeckte sie Arktikus, der sich ebenfalls wassertretend auf der Stelle hielt. Die Erleichterung, die sie verspürte, wurde fast sofort durch Zorn ersetzt und sie schwamm mit raschen Zügen zu ihm. „Bist du völlig verrückt geworden? Du hast doch gesagt, dass es unser Ende ist, wenn wir über Bord gehen und dann schubst du mich absichtlich.“
Arktikus schüttelte nur den Kopf und deutete zu dem Boot. Einer der Masten war umgeknickt und Flammen leckten an dem Holz empor. „Ein Blitz hat eingeschlagen. Wären wir in dem Moment an Bord gewesen...“
Er brauchte den Satz nicht zu Ende zu führen. Sina schauderte und ihr wurde bewusst, dass sie Arktikus ihr Leben verdankte, zumindest für den Augenblick. „Danke“, murmelte sie kleinlaut. Die Wellen spielten noch immer mit dem Boot, ab und zu schwappte eine hoch genug, um einige Flammen zu löschen.
Sina warf einen raschen Seitenblick zu Arktikus. Der Zauberer sah sehr still und traurig aus, wie er so das kleine Schiff betrachtete. Sie hatten es gemeinsam mit ein paar Jungen aus dem Dorf gebaut. Auch einer von Sinas älteren Brüdern hatte dabei mitgeholfen. Sie hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. „Der Regen ist so stark, bestimmt löscht er gleich die Flammen. Und den Mast können wir erneuern. Wir nehmen einfach einen schönen Baumstamm, bearbeiten ihn ein bisschen und schon haben wir einen ganz tollen Mast. Den da mochte ich sowieso nicht, er war richtig hässlich. Ist dir nie aufgefallen, wie scheußlich diese ganzen Astlöcher da drin aussahen?“
Arktikus sah sie an und ein schwaches Lächeln spielte in seinen Mundwinkeln. Doch die klaren grauen Augen wirkten sehr traurig. „Lieb von dir, dass du mich zu trösten versuchst. Aber ein neuer Mast wird da nichts nützen, schau.“
Sina sah, wie das Boot tiefer und tiefer sank. Die Wellen schwappten nun schon über das ganze Deck und auch über den Aufbau, auf dem das Steuerrad stand. Bald war auch das nicht mehr zu sehen und nur der brennende Mast deutete noch auf das kleine Schiff hin. Und das auch nicht mehr lange, denn plötzlich knickte er ein und mit einigen glucksenden Geräuschen verschwand das Schiff endgültig unter Wasser.
Sina schluckte. Ihre Kehle fühlte sich ganz trocken an und in ihren Augen brannte es. „Oh nein! Unser schönes Schiff.“
Arktikus sah bedauernd zu der Stelle, an der es gesunken war. Ihre ganze Ausrüstung war mit an Bord gewesen. Zauberbücher, Instrumente und Gerätschaften, die er für seine Arbeit brauchte, außerdem Vorräte an Nahrungsmitteln und Trinkwasser, Kleidung und Seekarten. Ihnen war einzig ihr Leben geblieben und selbst das war in Gefahr. Denn obwohl der Sturm nun nachließ, waren sie ja immer noch mitten auf offener See, ohne ein Stück Land in Sicht.
Sina trat stärker Wasser, um wenigstens etwas wärmer zu werden. „Vielleicht taucht unsere Ausrüstung ja wieder auf. Die Kisten waren doch fest verschlossen, wenn da keine Luft entweichen kann, kann auch kein Wasser rein. Also müssten sie oben schwimmen. So hast du mir das doch mal erklärt.“
„Ja, doch noch ist die See sehr unruhig. Es kann sein, dass die Fracht in eine Strömung gerät und ganz woanders hingetragen wird, weit weg von uns.“ Arktikus registrierte, dass sich Sinas herzförmige Lippen blau verfärbt hatten. Sie fror sicher schrecklich. Ihm selbst war ebenfalls kalt. Er murmelte einen Spruch.
„Was sagtest du eben? Moment, hast du gezaubert?“ Sie spürte, wie plötzlich Wärme um sie herum wogte, fast wie ein schützender Anzug, der sie von den Fußspitzen an umgab.
„Aber sehr lange hält der Spruch nicht an, leider.“ Arktikus schwamm einige Meter und kam dann mit einem Stück Schiffsdeck zu ihr zurück. An der Seite war es ziemlich angekokelt, aber groß genug, dass sie beide sich darauf ziehen konnten.
Sina setzte sich mit angezogenen Beinen. Immer wieder schwappten kleine Wellen über ihr improvisiertes Floß, aber wenigstens hatte der Regen aufgehört und der Himmel klarte auf. Im Süden konnte sie sogar zwischen den Wolken einige Sonnenstrahlen erkennen. Auch der Wind war nur noch eine sanfte Brise. Das Unwetter war so plötzlich vorbei, wie es gekommen war. Sie sah fragend zu Arktikus.
„Die Strömung treibt unser Floß von alleine weiter.“
„Wohin?“, wollte Sina wissen. Diese Sache mit den Meeresströmungen hatte Arktikus ihr zwar erklärt, aber so ganz hatte sie es nicht verstanden.
„Das weiß ich leider auch nicht. Vielleicht könnte ich es berechnen, wenn ich die Seekarten hätte. Aber sobald es dunkel wird, können wir uns an den Sternen orientieren.“
Wahrscheinlich würde es bis dahin noch etliche Stunden dauern. Sina sah auf das Meer. Die sanfte Schaukelbewegung des Floßes ließ sie schläfrig werden. Außerdem war sie von dem Wassertreten ziemlich erschöpft.
Sie nickte tatsächlich ein wenig ein, war aber sofort hellwach, als sie Stimmen hörte. „Lass uns bitte in Ruhe. Ich habe dir gesagt, dass Holz nicht gut für die Zähne und die Verdauung ist“, hörte sie Arktikus soeben sagen.
Jemand lachte und redete dann in einer Sprache, die klang, als klapperte man mit Kieselsteinen in einem Blecheimer. Nur wenige Zentimeter vor ihrem Floß ragte der Kopf eines Hais und die Spitze seiner Rückenflosse aus dem Wasser.
Sina stieß Arktikus an. „Was hat er gesagt?“
„Dass ihm das egal ist. Das Holz will er ja auch nicht fressen, sondern uns.“
„Verzaubere ihn doch, na los!“ Selbst wusste sie leider keinen Spruch gegen Haiangriffe. Sie kannte welche gegen Stinktiere, aber die halfen auch nicht immer. Und bei den Mäusesprüchen war es genauso, meist hauten die kleinen Nager zwar ab, aber fast genauso schnell kamen sie zurück. Ob wohl der Funkenspruch helfen würde? Oder besser der Lichtzauber?
„Das geht nicht“, zischte Arktikus ihr zu und wandte sich dann wieder an den Hai. „Ich würde dir wirklich nicht empfehlen uns zu fressen.“
Der Hai lachte, was noch scheppernder als seine Sprache klang.
Sina nahm all ihren Mut zusammen und rückte ein Stück näher an den Rand des Floßes, so dass sie den Hai direkt ansehen konnte. „Hör zu, wen du uns beide frisst, bist du noch dümmer als du aussiehst.“ Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie Arktikus ihr Zeichen gab, doch still zu sein. Wahrscheinlich fürchtete er, dass sie ihre Lage noch verschlimmerte.
„Ha, du bluffst nur!“
„Oh, du sprichst ja doch unsere Sprache. Überrascht mich aber nicht. Umso besser allerdings, denn so verstehst du sehr gut, was ich sage. Weißt du, eigentlich mag ich Haie.“
„Ach ja?“ Der Hai runzelte verwundert die Stirn und schwamm ein kleines Stück zur Seite, um Sina besser ansehen zu können. „Du lügst doch, keiner mag Haie.“
„Das weiß ich nicht, da ich noch nicht jedes Lebewesen kennen gelernt habe. Aber was mich betrifft, so kann ich sagen, dass ich Haie sogar sehr gern mag.“
„Na, dann wird es dir ja sicher eine Freude sein, zu meinem Abendessen zu werden.“ Er schleckte sich mit der Zunge über die Lippen. „Sehr groß bist du zwar nicht, aber abends mag ich ohnehin nicht so viel.“
„Halt, warte, du hast mich ja gar nicht ausreden lassen.“ Sina hob eine Hand. „Ich sagte, dass ich Haie gern mag und deshalb möchte ich, dass es dir gut geht. Doch wenn du uns frisst, wird es dir gar nicht gut gehen.“
„Da mach dir mal keine Sorgen, ich habe einen starken Magen“, sagte der Hai.
„Ich bin sicher, dass du den hast, aber darum geht es nicht. Arktikus und ich haben nämlich vorhin von einem Elixier getrunken, was dir sehr schaden könnte. Wie du ja sehen kannst, sind wir hier auf offener See und wir haben kein Trinkwasser. Für uns ist das Salzwasser nämlich nicht genießbar.“
„Weiß ich“, sagte der Hai stolz.
Sina nickte rasch. „Ich merke schon, du bist außergewöhnlich klug, sogar für einen Hai. Also zu diesem Elixier, das war ein Zaubertrank. Arktikus hier ist nämlich ein großer Zauberer und Wissenschaftler. Er hat ganz viel studiert und erforscht und probiert ständig neues aus. Ja und dieses Elixier, das ist seine jüngste Kreation. Eigentlich sollte es bloß bewirken, dass wir schön Farbe auf die Wangen bekommen, so richtig rote Bäckchen.“
Der Hai schleckte sich ein weiteres Mal über die Lippen. „Kann ich mir gut vorstellen. Aber wenn ich mir euch so anschaue, scheint Arktikus wohl doch kein so großer Zauberer zu sein. Eure Wangen sind ganz blass.“
„Das versuche ich dir ja die ganze Zeit zu sagen. Das Elixier wirkte ganz anders.“ Sie hielt ihm eine Hand hin, deren Fingerspitzen bläulich verfärbt waren. Der Wärmezauber hatte seine Wirkung verloren. „Siehst du. Statt roter Wangen gibt es blaue Finger. Und wir wissen nicht, wie lange die Wirkung anhält. Denn wir werden immer blauer.“ Zum Beweis hielt sie ihm auch die andere Hand hin, die sie während ihres Gesprächs die ganze Zeit ins Wasser gehalten hatte.
„Hm“, machte der Hai nachdenklich. „Sieht wirklich nicht so gesund aus.“
Sina nickte ernst. „Ich schätze, dass wir bis morgen früh komplett blau sind. Wenn du uns nun frisst, wirst natürlich auch du blau. Nicht sofort, das dauert schon einige Stunden, aber dann geht es auch nicht mehr weg. Du wirst richtig schön leuchtend blau sein und was das für einen weißen Hai bedeutet, brauche ich dir wohl nicht zu sagen.“
„Blau will ich wirklich nicht werden, alle würden über mich lachen“, sagte der Hai.
„Genau. Du würdest zum Gespött des Meeres werden. Und da ich Haie sehr gern mag und du mir so sympathisch bist, warne ich dich.“
„Danke, das meine ich ehrlich.“ Er umrundete das Floß einmal und tauchte dann vor Sina wieder auf. „Also, ich werd dann mal weiter schwimmen.“
„Gute Reise“, wünschte sie ihm.
„Euch auch.“ Und er tauchte ab. Nur die weiße dreieckige Rückenflosse war noch für einen kurzen Moment zu sehen.
Arktikus umarmte Sina. „Das war wunderbar. Wie bist du bloß auf diese Idee gekommen?“
„Ist mir gerade so eingefallen.“
„Du hast uns das Leben gerettet.“
„Stimmt.“ Sie nahm ihre hohle Hand voll Wasser und ließ es durch die Finger rinnen. „Fragt sich nur, wie lange.“
„Ach, wir werden schon an Land kommen“, meinte Arktikus zuversichtlich.
Sina wünschte, seinen Optimismus zu teilen. Sie hatten kein Trinkwasser und es gab keinen Regen. Ohne Wasser würden sie nicht lange überleben können.
Das Boot dümpelte mit langsamer Geschwindigkeit dahin und dann bemerkte sie wieder Rückenflossen. Rasch stieß sie Arktikus an. „Sieh mal, kommen da etwa noch mehr Haie?“
Arktikus kniff die Augen leicht zusammen. Dann entspannte er sich und rief etwas in Tönen, die pfeifend und schnatternd klangen.
Im nächsten Moment tauchte das lächelnde Gesicht eines Delfins vor dem Floß auf. „Du kannst normal sprechen. Wir verstehen deine Sprache.“
„Oh, gut, ich kann nämlich nur ein paar Brocken der euren“, sagte Arktikus. Er drehte sich ein Stück zu Sina, die fasziniert auf die hellgrauen glänzenden Köpfe schaute. Insgesamt waren es fünf, die das Floß umringten. „Du musst keine Angst haben, das sind Delfine, die tun uns nichts.“
„Ich weiß doch, dass das Delfine sind“, sagte sie rasch. In echt hatte sie zwar noch keinen gesehen, aber auf Zeichnungen in Büchern.
„Ihr seid Schiffbrüchige nehme ich an?“
„Ja, unser Boot wurde ein Opfer des Gewitters. Wisst ihr, ob es hier in der Nähe Land gibt?“, fragte Arktikus.
„Nicht direkt in der Nähe, aber wir sind schnell. Wenn wir euch ziehen, seid ihr in einigen Stunden bei der nächsten Insel“, sagte der größte der Delfine.
„Das würdet ihr wirklich tun?“ fragte Sina.
„Sicher doch, schließlich sind wir Delfine.“
„Darüber sind wir sehr froh, das könnt ihr uns glauben. Vorhin sind wir gerade so den Zähnen eines Hais entkommen.“ Sina schauderte noch nachträglich.
„Etwa dieser große Weiße?“ Auf ihr Nicken hin fuhr der Delfin fort. „Ja, den kennen wir gut, der ärgert uns auch oft genug. Aber eigentlich ist er bloß ein Schwätzer, so richtig gefährlich ist er im Grunde gar nicht.“
„Er wollte uns fressen“, warf Arktikus ein. Für ihn hatte es sich durchaus so angehört, als meine der Hai es ernst.
„Das sagt er zu jedem.“ Der Delfin umrundete einmal das Boot. „So, seid ihr bereit? Ja? Gut, dann können wir euch nun zur Insel bringen. Ihr habt es gehört, alle Delfine an ihre Position. Und ihr beiden haltet euch gut fest, wir sind ziemlich schnell.“
Das waren sie wirklich. Das Floß sauste so rasch über die Wasseroberfläche, dass die Wellen gar keine Chance mehr hatten darüber zu schwappen. Nachdem sie erst mal herausgefunden hatte, wie sie am besten saß und merkte, dass das Floß gar nicht mehr schwankte, genoss Sina die Reise. Die Sonne schien und trocknete ihr langes braunes Haar und ihre Kleidung.
Auch Arktikus fand Gefallen an dieser ungewöhnlichen Art der Fortbewegung. So ein Delfintaxi hatte er noch nie benutzt. Bei seinen Reisen durch die bekannte Welt war er auf Pferden, Eseln, Kamelen und sogar mal in Indien auf einem Elefanten geritten.
Als die Sonne sich schon dem Horizont zuneigte, kam Land in Sicht und die Delfine verlangsamten ihr Tempo. Bis auf etwa zwanzig Meter schwammen sie an den Strand heran. „Weiter können wir nicht“, erklärte ihr Anführer. „Das Wasser hier ist zu flach, da können wir nicht schwimmen.“
„Das kleine Stück schaffen wir allein.“ Arktikus legte dem Delfin seine Hand auf die Seitenflosse. „Ich danke dir und deinen Freunden, dass ihr uns geholfen habt. Ohne euch wären wir verloren gewesen.“
„Haben wir gern gemacht.“
„Dennoch, herzlichen Dank“, sagte Sina und streichelte dem Delfin, der vor ihr aufgetaucht war über den silbrig glänzenden Kopf. „Aber bitte sagt uns doch noch, was das hier für eine Insel ist.“
„Eine wunderschöne Insel. Die Bewohner sind größtenteils sehr freundlich. Ihre Kinder rudern oft heraus und spielen mit uns. Bestimmt wird es euch hier gefallen. Aber vorsichtig solltet ihr trotzdem sein, es gibt auch an einem so schönen Ort Gefahren.“ Der Delfin nickte ihnen noch kurz zu und dann tauchten er und seine Gefährten ab. Kurz waren noch ihre Rückenflossen zu sehen.
Arktikus glitt ins Wasser. Es reichte ihm nur bis zur Hüfte. „Bleib auf dem Floß sitzen, Sina, ich ziehe es.“
„Lieb von dir.“ Sie war froh, nicht schon wieder nass zu werden. Denn da sie ein ganzes Stück kleiner als Arktikus war, hätte das Wasser ihr bis zu den Schultern gereicht. So musste sie nur die letzten paar Schritte auf den Strand gehen und da konnte sie ihr Kleid gut hochhalten.
Im letzten Licht des Tages ragte eine Gruppe Palmen vor ihnen auf. Zumindest sahen sie aus wie Palmen, ungewöhnlich allerdings waren die Früchte die sie trugen; da hingen nämlich Äpfel, Pflaumen, Birnen und andere dran, die Sina nie zuvor gesehen hatte.
„Wo sind wir hier?“ fragte Sina und blickte staunend auf das Gewächs.
„Ich weiß es nicht. Und ich hätte nie gedacht, dass es möglich ist, an einem Baum so unterschiedliche Obstsorten zu ziehen. Wie wohl die Menschen, die hier leben aussehen mögen?“
„Das werden wir sicher bald wissen.“ Einerseits war Sina unglaublich neugierig darauf. Aber andererseits dachte sie auch an die Worte des Delfins.
Arktikus schien es ähnlich zu gehen. „Ja. Aber wir werden schon mit ihnen zurecht kommen. Wir haben heute schon so viel erlebt und vor allem überlebt. Ich freue mich auf die Entdeckungen und Abenteuer, die hier auf uns warten.“
„Ich ebenfalls“, sagte Sina und ging neben ihm her.
 

Dies ist das 1. Kapitel meines Zaubererromans "Die Abenteuer von Zauberer Arktikus und seinen Freunden - Das Geheimnis der Insel", der vor kurzem mit der ISBN-Nr. 3-938728-14-0 im Wendepunkt Verlag erschienen ist.Maren Frank, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.12.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Das Geheimnis der Insel von Maren Frank



Der in vielen Wissenschaften gelehrte Zauberer Arktikus unternimmt mit seiner ebenfalls zauberkundigen jungen Assistentin Sina eine Reise aufs Meer. Doch schon bald geraten sie in ein schlimmes Unwetter und ihr Boot kentert. Eine Gruppe Delfine bringt sie zu einer Insel, doch der Anführer der Delfine warnt sie, dass auf dieser Insel nicht alles so paradiesisch ist, wie es auf den ersten Blick scheint.
Bei den Schwestern Ajana und Izzy finden Arktikus und Sina Unterschlupf. Sie lernen Drachen, Meermenschen und Hexen kennen, schwimmen mit Delfinen, helfen einem Riesen und entdecken, dass auf der Insel vieles ganz anders ist, als es auf den ersten Blick scheint. Es gilt das Rätsel der Insel zu lösen.

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