Isabelle Lenk

“California here we come...“ oder mein neues Leben Part 2

Ein paar Tage später sah die Welt schon etwas besser aus. Wir versuchten uns einzuleben, aber das ganze Haus kannten wir dennoch nicht. Dafür war es einfach zu groß. Es hatte bestimmt zwanzig Zimmer. In London wohnten wir mit Mom in einer Dreizimmerwohnung, von daher war das hier für uns schlichtweg zu viel. Ich war heilfroh, dass wir gleich im Anschluss an unser Zimmer ein eigenes Bad hatten. Bei drei Etagen hätte ich es wahrscheinlich erst zwei Monate später gefunden. Ansonsten waren unsere ersten Tage in Kalifornien besonders von Traurigkeit, Zurückhaltung und Vorsicht geprägt. Wir versuchten uns einzurichten und uns an alles zu gewöhnen. Grace kam trotzdem nie vor Nachmittag aus dem Bett. Ich musste sie regelrecht dazu zwingen sich anzuziehen. Sam schien nicht besonders interessiert zu sein an unserer Unsicherheit und unserem Kummer. Er war tagsüber auf Arbeit und abends verkroch er sich meistens in seinem Büro. Er hatte uns auch noch nicht über Alles weitere aufgeklärt, was auch immer das nun tatsächlich hieß. Also waren wir die ersten Tage auf uns allein gestellt und fanden die meisten Dinge selbst heraus. Zum Beispiel, dass es ratsamer ist, in Kalifornien Bikini und Hotpants zu tragen, anstatt Jeans und T-Shirt. Damit war man nach einer Stunde völlig nassgeschwitzt.

An unserem dritten Tag in Kalifornien, stand ich schon am frühen Morgen kurz vor einem Herzinfarkt. Ich ging wie gewohnt in die Küche, um mir ein paar Cornflakes zu holen (Ein Stück Heimat!), als plötzlich eine wildfremde Frau vor mir stand.

„Ähm, Guten Morgen!“, sagte ich etwas unbeholfen. Ich wusste nicht, mit wem ich es zu tun hatte. War es Sams Freundin? Aber das hätte er uns doch gesagt, oder?

„Hallo“, sagte sie freundlich und reichte mir die Hand. „Ich bin Cecilia, die Haushälterin und Köchin und du bist wahrscheinlich eine Tochter von Mr. Roberts, hab ich recht?“

Ich nickte.

„Tut mir leid, die Sache mit deiner Mutter.“, sagte sie und ich merkte, wie sich der altbekannte Kloß in meinem Hals bildete. Wie oft hatte ich diesen Satz schon gehört. Ich nickte noch einmal und strich mir nervös durch das Haar.

„Willst du vielleicht einen Toast und etwas Saft zum Frühstück?“, fragte Cecilia, um das Thema zu wechseln.

„Das wäre super!“ Ich glaube das war das erste Mal, dass ich in diesem Land lächelte, weil es auch das erste Mal war, dass sich jemand tatsächlich um mich kümmerte, seit ich hier war.

Am Nachmittag erkundete ich weiter das Haus. Auf der einen Seite um mich abzulenken und nicht zu oft an London, meine Mom und die Leute, die ich dort zurückgelassen hatte, zu denken. Auf der anderen Seite war ich aber auch ein wenig neugierig. Ich ging hinunter in die erste Etage, sah mich um und öffnete schließlich die erstbeste Tür. Vor mir tat sich ein kurzer Gang auf, von dem eine Tür abging und der schließlich in ein Zimmer mündete. Alles deutete darauf hin, dass hier noch jemand wohnte. Sams Zimmer lag im Erdgeschoss und Cecilias Zimmer war sicher nicht blau gestrichen und beherbergte ein Surfbrett. Ich stöberte ein bisschen herum, doch nirgends waren Fotos zu finden, auf denen vielleicht der vermeintliche Bewohner dieses Zimmers zu sehen gewesen wäre. An den Wänden hingen ausschließlich Poster von mir unbekannten Bands und Landkarten von exotischen Orten, wie Japan und Neuseeland, was mir aber auch nicht weiterhalf. Ich setzte mich auf das frisch gemachte Bett, dessen Bettwäsche auf die Farbe des Zimmers abgestimmt war und grübelte, wem dieses Zimmer gehören konnte. Aber egal, wer hier wohnte, Sam verschwieg uns etwas und das machte mich traurig, weil es gleichzeitig bedeutete, dass er sich nicht für uns zu interessieren schien oder das er uns zumindest nicht an seinem Leben teilhaben lies. Er schloss uns aus.

„Hey, was machst du hier?“, fragte auf einmal eine Stimme. Ich drehte mich um und blickte in die Augen eines Jungen. Er war nicht groß, aber auch nicht klein, hatte dunkle Haare, die sich an den Enden lockten und ihm ins Gesicht hingen und sah mich unverwandt mit seinen großen braunen Augen an.

„Ähm... Hallo.“, war das einzige was ich herausbrachte.

Er musterte mich erst, bevor es ihm schließlich einzuleuchten schien.

„Warte! Stopp! Du bist Grace, stimmt’s?“

„Fast.“

„Megan?“

Ich nickte.

„Darf ich mich vorstellen?! Jakob Roberts, dein Stiefbruder, wenn ich mich nicht irre.“

Ich reichte ihm die Hand, fassungslos darüber, dass ich gerade einen Stiefbruder bekommen hatte.

„Hey hast du vielleicht Lust etwas zu essen? Ich könnte uns Rührei machen. Das ist nämlich ehrlich gesagt das einzige, was ich kann.“, sagte er lächelnd.

„Klar, wieso nicht.“

Wir verließen das Zimmer und liefen hinunter ins Erdgeschoss.

„Wie lange seid ihr schon hier? Ich hab gehört ihr kommt aus London. Ist es sehr schön dort? Also ich finde Newport ist das beste, was es geben kann. Nicht jeder kann von sich behaupten das Meer vor sich zu haben.“

Ich nickte nur zustimmend, weil ich nicht wusste, auf welche Frage ich zuerst antworten sollte oder ob ich überhaupt antworten sollte. Immerhin hatte ich gelesen, dass man bei manchen Fragen in Amerika einfach keine Antwort erwartete. Sie wurden einfach nur aus rein formellen Gründen gestellt.

„Und, wie lange bist du nun schon hier?“, fragte er noch einmal und kramte ein paar Eier aus dem Kühlschrank.

„Seit drei Tagen.“, sagte ich und räusperte mich. „Ähm... wohnst du hier?“

„Nein, ich wohne nebenan bei meiner Mom und meinem Onkel. Sie hat sich vor drei Jahren von Dad scheiden lassen, weil er ein Verhältnis mit seiner Sekretärin hatte. Jetzt lebt sie bei ihrem Bruder. Sollte eigentlich bloß eine Übergangslösung werden, aber dann hat Onkel Matt angebaut und seitdem ist es endgültig. Meine Cousine ist auch manchmal da. Onkel Matt ist ebenfalls geschieden, aber Lauren kommt jedes zweite Wochenende vorbei. Hey, ich glaube sie dürfte in deinem Alter sein, vielleicht habt ihr nächstes Jahr ein paar Kurse zusammen.“

Jakob hatte inzwischen die Pfanne aus dem Schrank geholt, die Eier hinein geschlagen und alles schön verrührt. Er fing an zu Pfeifen und rührte weiter in der Pfanne herum.

„Also verstehe ich das richtig? Eigentlich lebst du nebenan aber du kommst öfter mal hier vorbei und du hast eine Cousine, die so alt ist wie wir?“

„Fast Megan. Sie ist so alt wie DU, denke ich. Ich bin gerade sechzehn geworden. Lauren ist siebzehn. Und ich komme nicht nur manchmal vorbei. Genauer genommen verbringe ich fast jeden Tag hier. Mom ist immer unterwegs, okay Dad auch, aber er hat wenigstens etwas zu essen im Haus und er hat Cecilia, die kochen kann. Onkel Matt kann das leider überhaupt nicht und meine Künste sind auch sehr begrenzt.“, sagte er und gab das Rührei, was noch ziemlich glibberig aussah, auf die beiden Teller.

„Voilá, Guten Appetit.“

 

„Hey Megan...“, sagte Grace und kam um die Ecke und als sie Jakob sah setzte sie erschrocken hinten ran: „Wer bist du denn?“

Sie sah noch ziemlich verschlafen aus und hatte wahrscheinlich erwartet, dass ich alleine sein würde.

„Darf ich mich vorstellen? Ich bin Jakob Roberts, dein Stiefbruder.“

Er kam direkt auf sie zu und reichte ihr die Hand.

„Hi.“ Sie war noch verwirrter als ich. Der Mund klappte ihr runter, bis auf den Fußboden und sie stand da, wie angewurzelt.

„Du bist dann also Grace. Willkommen in Orange County!”

 

„Danke.“

Langsam nahm sie neben mir am Tisch Platz den Blick unverwandt auf Jakob.

„Also was wollen wir heute Schönes machen?“, fragte er gleich.

„Ich kenne da so eine Bar am Strand, da ist heute Abend Lifemusik oder wir gehen ins Kino. Ich weis gar nicht, was läuft, aber irgendetwas wird schon kommen. Was haltet ihr davon?“

Grace und ich sahen uns an. Wir wussten beide, dass wir keine besonders große Lust auf Ausgehen hatten. Aber wie erklärte man das seinem neuen Stiefbruder, der vor Vorfreude fast platzte?

„Weist du, Jakob, vielleicht ist das keine gute Idee. Wir sind erst vor drei Tagen angekommen. Außerdem müssen wir unbedingt mit Sam sprechen, wenn er nach Hause kommt.“

„Ach so. Okay, versteh schon. Vielleicht bleib ich auch lieber zu Hause. Morgen kommt Lauren, da könnten wir ja alle zusammen was machen. Übrigens viel Glück, wenn ihr tatsächlich mit Dad sprechen wollt. Ich hab ihn das letzte Mal vor einem Monat gesehen und seitdem wollte ich bestimmt schon fünf mal mit ihm reden. Was ich damit sagen will: lasst euch lieber einen Termin von seiner Sekretärin geben. Das geht schneller.“ Er räumte unsere zwei Teller ab und verstaute sie im Geschirrspüler, bevor er zur Tür ging.

„Also Leute, Schwestern, man tut es gut das auszusprechen, willkommen in der Familie. Ich gehe erst mal wieder rüber, vielleicht komme ich heute Abend noch mal vorbei.“

„Tschüss, danke für das Rührei.“, sagte ich.

„Kein Thema.“, gab er zurück und verschwand.

Ich schloss die Tür und lies mich mit Grace auf die Couch fallen.

„Eine Frage: Wer ist eigentlich Lauren?`“, wollte sie wissen.

„Seine Cousine, also demzufolge auch so was wie unsere Cousine. Sie ist in unserem Alter und geht auf unsere Schule.“, sagte ich.

„Welche Schule?“

„Tja, keine Ahnung.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.01.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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