Matthias Wenger

Wesen des Leidens

 

Korsika-Urlaub, irgendwann im August des Jahres 2065: 
 
Irgendetwas stimmte nicht mit dem Strand, mit dem Meer.
Der Urlaubstag verlief bisher wie jeder andere der neun vergangenen auch: Am Strand faulenzen, schwimmen, tauchen, und Mittags im  nahegelegenen Restaurant oder im Bungalow eine kleine Mahlzeit zu sich nehmen.
Als Kind war ich viel begeisterter gewesen, wenn es um diese Dinge ging. Stundenlang konnte ich den Steinstrand auf und ablaufen, Muscheln und Schnecken sammeln, mich über dies und das wundern, die ganze Natur war einfach nur ein Abenteuerspielplatz mit so vielen kleinen Wundern, die man mitnehmen, erleben, anschauen konnte.
 
Aber es lag nicht nur daran, dass ich älter geworden war. Schließlich hat meine Begeisterung, was diese Dinge angeht, niemals richtig nachgelassen.
Nur gab es viele dieser Dinge nicht mehr.
Die Natur war am Sterben, und heute sollte ich einen Anblick erleben, den ich nie wieder vergessen sollte, der sich in meiner Seele einbrennen und für immer zeichnen sollte.
 
Nach einem kräftigen Frühstück auf dem Liegestuhl beschloss ich erst einmal, ein wenig in den nahegelegenen Felsen zu schnorcheln. Wie immer war das Meerwasser viel zu warm, und so fehlte der Erfrischungseffekt.
Als ich bis zum Brustkorb im Wasser stand, fiel es mir zum ersten Mal richtig auf:
Grüne Schlieren trieben auf den Wellen. Es war kein Sonnenöl oder sonstige Kosmetik-Rückstände, die das flache Wasser nahe der touristen-verseuchten Strände heimsuchten. Das war etwas ganz anderes, und es roch seltsam. Ich war nahe daran, das Wasser wieder zu verlassen, weniger aufgrund des Phänomens an sich. Nein, viel eher war da ein schlechtes Gefühl, das sich in meinem Herzen und meiner Seele auszubreiten begann.
 
Als ich meine Tauchunternehmung beginnen wollte, den Schnorchel und die Taucherbrille befestigte, da begann sich der Verdacht, dass etwas Schreckliches geschehen war, zu verhärten:
Es war nur leise zu hören, fast undeutlich, aber es beunruhigte mich zutiefst, da es so leidend, so kummervoll, so unendlich verzweifelt klang:
Wie der Gesang eines Wals dröhnte ein dunkles Singen über die Wellen, und anfangs wusste ich nicht, woher diese Töne kamen. Ich schaute in alle Richtungen und spürte instinktiv, dass es aus der Richtung kam, in der die Nachbarsbucht lag. Diese befand sich einige Kilometer Fußmarsch von unserem Lageplatz entfernt, so dass ich im Moment nichts näheres erforschen konnte, und auch ehrlich gesagt nicht wollte. Dennoch oder gerade deswegen machte sich das dumpfe Gefühl totaler Angst in mir breit.
 
Schließlich tauchte ich wie fast jeden Tag zwischen einigen Felsen hindurch, die von einer Seeigel-Kolonie besiedelt waren.
Die Seeigel jedoch waren tot. Nur noch ihre Skelette lagen am Meeresgrund, schwankten im Wellengang hin und her. Auch die kleinen Doktorfische, die sonst grüppchenweise umherschwammen, fehlten.
Überall nur diese seltsamen Ausdünstungen. Voller Angst tauchte ich wieder auf, sah mich um. Viele der anderen Leute schienen sich nicht zu wundern.
Sie schwammen und tollten umher, als wäre nichts anders an diesem Tag. Ich wunderte mich: Fiel ihnen denn nicht auf, dass etwas nicht stimmte? Dass hier ein großes Unglück geschehen war.
 
Dann, als dieser qualvolle dunkle Gesang wieder begann, tauchten kurze Bilder in meinem Geist auf, die ich nicht näher interpretieren konnte: Riesige, dunkle Körper, die sich qualvoll räkelten. Mäuler, die sich öffneten und Schmerzen und Qualen herausschrien, verfaulte mißgebildete Schnauzen, verunstaltete Gliedmaßen.
Es dauerte nur Sekunden, doch ich schrie, als mich diese Vision mit Gewalt erfasste.
Sie sterben. Unbekannte Wesen sterben. Riesenhafte Wesen.
 
Mehrere Leute im Wasser mussten es gehört haben, aber keiner schaute in meiner Richtung. Ganz gleichgültig tollten sie weiter umher.
Völlig verunsichert sah ich zu, dass ich an Land kam. Dort spielten mein kleiner Bruder und mein Vater, sie bauten eine Sandburg, die von den Wellen jedoch immer wieder beschädigt wurde. Ihre spielerische Aufgabe schien es zu sein, die Wälle der Burg so schnell wieder zu reparieren, dass das Wasser nie eine Chance hatte, das Werk aus Sand vollkommen zu zerstören. In der Mitte der Burg sammelte sich das Meerwasser, aber es hatte diese vollkommen kranke Färbung.
 
Als ich zu ihnen ging, fragte mich mein Vater, warum ich so besorgt aussähe.
"Etwas mit dem Meer stimmt doch nicht. Was ist das für eine grüne Farbe, die überall auf der Oberfläche schwimmt. Hört ihr nicht diese seltsamen Schreie, die aus der Nachbarbucht kommen?" Ich kam mir schon ein wenig seltsam vor, als ich dies fragte, da doch keiner der anderen Menschen besorgt zu sein schien.
 
"Ach", meinte mein Vater, "da kam heute früh irgendwas im Radio, hab`s zufällig in der Rezeption aufgeschnappt. Einige Kilometer draußen im Meer steht doch diese Forschungsstation. Da scheint irgendetwas passiert zu sein. Allerdings soll dies keine Auswirkungen auf uns direkt haben."
 
"Welche Forschungsstation?" wollte ich wissen. Davon hatte ich ja noch gar nichts gewusst. Verdammt, worüber sprach mein Vater eigentlich?
 
Der nächste Schock traf mich, als eine Brise aus der Richtung des qualvollen Schreiens unseren Strand heimsuchte. Es stank nach Krankheit und Verwesung. Ich musste meine Hand vor den Mund halten und strengte mich an, mich nicht zu übergeben.
Meine Familie allerdings schien dies überhaupt nicht zu bemerken. Keiner der Leute am Strand schien an all dem teilzuhaben. Als wäre nichts geschehen.
 
Von da an ging alles rasend schnell. Ich rannte, ich rannte in Richtung der Katastrophe, die nur ich wahrzuhaben schien. Rannte über den felsigen Weg, barfuß, so dass meine Füße bald brannten, da die Sonne viel heftiger auf die Steine brannte, als sie dies all die Jahre zuvor getan hatte. Begegnete sogar Menschen, die aus der Richtung der anderen Bucht kamen. Als ich sie fragte, was dort für ein schreckliches Unglück geschehen war, zuckten sie nur mit den Schultern. Ein alter deutscher Urlauber gab mir, als ich hechelnd stehenblieb, die Antwort, dass die Bucht "nicht mehr benutzbar" sei... bis die Kadaver entfernt seien.
 
"Kadaver" wollte ich wissen, "welche Kadaver??"
"Keine Ahnung, vielleicht sind es auch noch keine Kadaver. Aber aufs Meer kommen die nicht mehr hinaus. Sind viel zu schwer, die könnte man nicht mal mehr mit richtigen Hafenkränen zurück ins heimatliche Nass bugsieren. Und das alles, weil wir so viel fressen müssen." Der alte Mann hielt sich den Bauch und lachte. "Weil wir nicht mehr genug kriegen. Verfressenes Menschenvolk. Komm mit, junger Mann, ich zeigs dir. Näher als bis zu den oberen Dünen solltest du sowieso nicht hingehen, der Gestank ist ziemlich eklig".
 
Minuten später standen wir auf der Düne, die sich hoch über die Bucht erstreckte. Die Bucht, von der alles ausging: Der Gestank, die grüne Farbe auf den Wellen, die qualvollen Rufe.
Ich sah riesenhafte Wesen, bestimmt hunderte von Metern lang, im flachen Wasser liegen, nicht ganz weit vom Strand entfernt, aber weit genug, dass ich ohne Fernglas von den Dünen aus keine Einzelheiten erkennen konnte. Schwarze, riesige Wesen, gegen die ein Blauwal wie ein Baby gewirkt hätte.
 
"Da, das Essen, das wir für uns züchten. Entkommen. Verpestet jetzt das Wasser und verreckt jämmerlich. Willst du diese verdammten Mutationen genauer sehen?" Hysterisch lachend reichte mir der seltsame alte Mann sein Fernglas.
 
Noch heute sehe ich in Alpträumen die Gesichter der Wesen, die dort im Wasser verendeten. Tiere, die gezüchtet wurden, um die Abermilliarden von Menschen ernähren zu können, und deren Leben schlimmer war als es tausend Tode jemals sein könnte.
Schwarze, riesige, tonnenförmige Körper, krokodilartige Köpfe, deren Mäuler seltsam zerfetzt und zerfleischt aussahen, leere Augen, aufgequollene Bäuche, aus denen die Eingeweide strömten. Ein Wesen riß zum letzten Mal sein Maul auf und ließ einen derart unfassbaren Schrei los, dass ich das Fernglas fallen ließ, und meine Hände auf die Ohren presste. Ich schrie mit dem Wesen, und der Mann schien sich zu wundern.
 
"Naja, baden wird man hier erstmal nicht mehr können. Werde wohl sehen ob ich am Nachbarstrand einen Platz finde. Kommst du mit? Ich würde mein Eis ungern alleine essen!"
 
 
 
 
 
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.01.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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