Ronny Weinreich

Der Läufer

Er lief.
Seine langen, durch das allmorgendliche Radfahren zum Friedhof, sehnig gearbeiteten Beine vollführten raumgreifende Schritte.
Sein Oberkörper war gerade aufgerichtet, das Kinn leicht gehoben, nicht überheblich, aber selbstbewusst und stolz. Der Blick gerade aus, zielgerichtet.
Hätte man nicht gewusst, dass der Mann auf offener Straße lief; man hätte glauben können er liefe durch einen Tunnel, das Licht am Ende herbeisehnend.
Sein Laufen war gleich dem eines Ehemannes, der nach der Arbeit schnell nach Hause zu seiner Familie will. Oder das eines Bankräubers, der sich möglichst unauffällig durch die Menschenmassen schlängeln will, in der Hoffnung nicht bemerkt zu werden, nach einem sicheren Versteck für seine Beute suchend.
Ja, das Laufen des Mannes glich dem eines Flüchtenden, nur das nervöse Umblicken nach allen Seiten fehlte noch.
Doch der Mann suchte nichts – konnte er überhaupt etwas suchen, wo er doch nie etwas gefunden hatte?
Allmählich verlangsamte sich sein Schritt. Nicht das die Schritte an Länge verloren hätten, nein, nur der Takt mit dem er sie voreinander setzte wurde ein anderer. Ein langsamerer, schwererer.
Er hatte das Licht am Ende des Tunnels, an der letzten Pforte seines Weges fast erreicht.

Es war nun an der Zeit seinen schon lange durchdachten Plan in die Tat umzusetzen.
Extra für diesen Anlass hatte er eine neue, schön scharfe und spitze Schere gekauft.
In der nahen Ferne, am Ende des Marktplatzes, konnte er bereits die Zentralbank mit ihrem dahinter liegenden Park erkennen. Er war also fast da.
Seine Schritte verlangsamten sich nochmals, genauso wie er nochmals seinen Plan durchdachte.
Sollte er es trotz der vielen Gefahren wirklich tun, gegen alle Vernunft wirklich wagen? – Zweifel überkamen ihn.
Doch er brauchte das Geld, obgleich er wusste, dass es nicht viel war, was es zu erbeuten gab. Wie auch in dieser Stadt, wo niemand Geld hat, auch die Zentralbank nicht.
Schließlich überwand er sich doch – er war am Ziel!

Er trotzte der Gefahr der Hundehaufen und schnitt den Rasen im Park.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.01.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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