Silvia Pree

Seitenverkehrt

Ich steige aus dem Zug aus.
Blicke mich um.
Und dann erstarre ich.
Einen Moment dachte ich…
Einen Moment dachte ich, er ist du…
Der Mann dort vorn.
Fast wie früher.
Wenn du mich immer abgeholt hast.
Vom Bahnhof.
Oder vom Flughafen.
Je nach dem.
Es tat immer gut zu wissen.
Dass du da sein würdest.
Mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht.
Und leuchtenden Augen.
Heute bist du nicht da.
Nein.
Eine Bekannte wird mich abholen.
Eine Bekannte, die mich zu einem Geschäftsessen eingeladen hat.
Ich reiße mich los von deinem Gesicht.
Deinem Gesicht, dass ich überall zu erkennen glaube.

Da bist du ja!
Ihre fast schrille Stimme lässt mich zusammenzucken.
Da steht sie.
In einem unmöglichen Kostüm.
Und einem Regenschirm.
Nieselregen.
Ich ziehe ein Lächeln auf.
Pflichtschuldigst.
Und sie nimmt mich am Arm.
Ihr Geplapper hüllt mich ein.
Ich versuche mich dagegen abzuschotten.
Werfe mechanisch ab und zu ein Wort ein.
Oder zwei.
Und gehe doch meinen Gedanken nach.
Wir gehen zu Fuß.
Die U-Bahn ist so schmutzig.
Und überfüllt.
Ihre Worte.
Das Café ist wirklich nicht weit.
Es ist Herbst geworden.
Und der Wind lässt mich frösteln.
Es war Frühjahr.
Frühjahr.
Als du mich das erste Mal abgeholt hast.
Und mir diese Lilien gebracht hast.
Weiß und duftig.
Und so zerbrechlich…
Mein Blick saugt sich fest.
Da vorn die Blumenhandlung.
Dort hast du sie gekauft.
Dort hast du mir auch Rosen gekauft.
Damals.
Als wir uns liebten …

Ich spüre ihren fragenden Blick.
Und versuche gleichgültig zu wirken.
Aber es tobt in meinem Inneren.
Der Sturm kommt nicht zum Stillstand.
Erinnerungen werden wach.
Fast alle paar Schritte.
Der wunderschöne Park und diese Parkbank dort!
Dort haben wir uns geküsst.
Das erste Mal…
Der Italiener da drüben.
Damals hieß er noch „Napoli“.
Nun heißt er „Venezia“.
Aber er sieht aus wie damals.
Wie damals im Frühling.
Nur irgendwie dunkler.
Anders.
Seitenverkehrt.
Ob es am Wetter liegt?
Damals war Frühling.
Und die Liebe wärmte mich.
Wärmte uns beide.
Nun ist Herbst.
Und ich fühle mich müde.
Allein.
Ich weiß nicht wo du bist.
Was du machst.
Es ist vorbei…

Sie tun mir weh.
All diese markanten Punkte.
Erinnerungen branden auf.
Reißen ein Loch in mich.
Dabei dachte ich:
Ich bin drüber weg!
Längst.
Es ist nicht zu ändern…
Wir stehen vor dem Café.
Sie klappt ihren Regenschirm zusammen.
Lächelt mich an.
Sagt ein paar Worte.
Ich verstehe nicht was.
Unmöglich mich darauf zu konzentrieren.
Ich nicke nur.
Und lächle.
Meine Augen tun weh.
Ich möchte weinen.
Sie dirigiert mich an den Tisch.
Wir bestellen für uns beide.
Ihr Reden beginnt mich zu nerven.
Ich merke, dass ich aggressiv werde.
Du wirkst so abwesend.
Diesen Satz verstehe ich plötzlich.
Ich tue recht erstaunt.
Aber nein.
Ich bin nur müde.
Ich bin gestern erst aus Rom gekommen…
Der Wetterumschwung…
In Rom hat es auch geregnet.
Und warm war es auch nicht.
Aber das muss ich ihr nicht sagen…

Mein Blick schweift durch den Raum.
Auch hier sind wir oft gesessen.
Du und ich.
Wir haben geredet.
Und uns geküsst.
Dann sind wir durch die Stadt spaziert.
Den Mairegen auf unserer Haut.
Es ist fast wie damals.
Nur irgendwie seitenverkehrt.
Genau.
Sie sitzt neben mir.
Nicht du.
Und wir plaudern nicht im Gastgarten.
Sondern auf einem kleinen Tisch.
Mitten im Lokal.
Sogar die Kaffeetasse sieht anders aus.
Dabei hat sie dasselbe Muster…
Unschwer zu erkennen.
Ich möchte nicht nachdenken.
Und kann doch nicht anders.
Du bist weg.
Ich liebe dich nicht mehr.
Aber mit der Erinnerung kommt Wehmut.
Sehnsucht nach dem Verlorenen.
Das nicht wiederkommen wird…
Sie redet und redet.
Aber ich höre nicht zu…

Vivienne

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.01.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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