Philip Whitfield

geklaut

Das war es also, mein Leben. Nicht schlecht eigentlich, habe mich nie beklagt. Jahrelang irgendwie über Wasser gehalten, Gelegenheitsjobs, Erniedrigungen, Mindestlöhne, Frauen getroffen, wieder verlassen, rastlos, ein Geist. Unfähig mich anzupassen, nieder zu lassen, alleine unter Tausenden von Menschen. Nie habe ich mich geöffnet, jemanden in mein Vertrauen gezogen. Ich brauchte meine Freiheit. Niemand sollte mich behindern, beeinflussen, mich kennen.

Rücksicht zu nehmen bedeutet Verzicht. Aufgeben seiner Ideale für Kompromisse. Zwischenlösungen, die beide Parteien befriedigen sollen, damit sie sich weiterhin in die Augen sehen können, sich achten. Regeln, die sie entwickelt haben, ohne darüber nachzudenken. Wurde als Egoist bezeichnet, beschimpft, beneidet. Ich konnte aufstehen, gehen, niemals wiederkehren, eine neue Identität annehmen. Kinder zeugen, die niemals ihren Vater kennen würden.

Ich bin stolz darauf, keine Verpflichtungen eingegangen zu sein. Immer unterwegs, niemandem Rechenschaft schuldig, habe ich die Welt gesehen. Kulturen kennen gelernt. Mich ausgetauscht, mitgeteilt. Niemals eine Arbeit erlernt trotzdem meinen Teil beigetragen. Es ging mir nie um Karriere. Unverstanden in einer harmonischen Welt der Regel, Verordnungen, Steuern.

Und jetzt liege ich hier, in einem Bett, das ich nie zuvor gesehen habe, niemals drin gelegen bin. Eine Frau und ihr Mann stehen am Bettrand, sehen mich an. Ich bin zu schwach ihren Blick zu erwidern. Unerwartet wurde ich zurückgerufen, mitten auf meiner Reise zu einer Pause gezwungen. Zusammengebrochen, unfähig wieder aufzustehen, auf der Strasse liegend, den Verkehr fühlend, ohne zu sehen, wie er an mir vorbei zog, in einem Tempo, das ich niemals wieder erreichen würde.

Irgendwann hatte jemand angehalten, mich mitgenommen, eingeladen. Aus Mitleid, Verpflichtung, Schuldgefühlen, ich wusste es nicht. Versuchte mich zu erheben, selbst zu stehen, nicht abhängig zu sein und wurde schwächer. Erinnere mich kaum noch an die Hinfahrt, daran, wie sie mir eine Suppe bereitete, während er über mein Lager wachte. Ein Felsen, nicht zu verschieben, erst recht nicht mit Blicken, die er nicht zu deuten wusste, die ich nicht zu senden vermochte.

War ich Ihnen zur Dankbarkeit verpflichtet? Hätten sie mich nicht gerettet, wäre ich elendig im Strassengraben verreckt, wie ein angefahrener Elch, Reh, oder eine ähnliche Kreatur? Gestorben um als Gulasch zu enden? So lange gekocht, bis auch die zäheste Masse weich, verzehrungswürdig wird. Er sah mich an, kannte mich und sämtliche Antworten, war sich seiner sicher, hatte den richtigen Weg gewählt und war in Würde und Zufriedenheit alt geworden.

Auch ich kannte ihn. Heirat mit zweiundzwanzig, Bausparvertrag mit fünfundzwanzig, Kinder mit achtundzwanzig, Rente mit fünfundsechzig. Ein Leben in Zahlen zusammengefasst. Arbeit, Alkohol, Sex, Derrick jeden Dienstagnachmittag. Das immergleiche Essen derselben Frau, die nie wagte sich zu entfalten, aus Angst alles würde zerbrechen.

Sie flösste mir Hühnerbrühe aus echtem Huhn ein, er lächelte Wohlwollend, hatte schon so manche Grippe dank ihrer Pflege überstanden, kannte ihre Hausmittel, freute sich, dass sie auch andern halfen, war stolz auf sie. Liebte sie oder hatte sich daran gewöhnt. Ein Leben in der Rückblende, zusammengefasst in der Gegenwart, eine Situation, ohne Worte, mehr Inhalt als jedes Buch. Blicke, Berührungen oder deren Abwesenheit, zeichneten ein klares Bild. Harmonie.

LASST MICH IN RUHE!

Jede Faser meines Körpers sträubte sich, lag ich falsch? Hatte ich mich ein Leben lang geirrt? Auf einmal beneidete ich diese Vorstadtgartenzwerge, Falschwähler und Unwichtigtuer. Was hatten sie, das mir versperrt blieb. Weshalb konnten sie glücklich werden, obwohl sie kaum lebten, keine Gedanken darüber machten, was es bedeutet eine Persönlichkeit zu haben.

Die Flucht ins Nichts der Masse als einzige Möglichkeit mit sich ins Reine zu kommen? Zu abstrus, undenkbar für mich und doch wahr, bewiesen hier in diesem Haus, das ich nicht kannte, von Menschen, die ich nie zuvor gesehen hatte und mir doch mehr bedeuteten als ich mir selbst je zuvor. Mein Leben.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.01.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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