Iris Asamoah

Das Brennen

Einige Sommer war `das Brennen ´ Lieblingsspiel der Kinder in Mittelstadt. Julia war darauf gekommen und sie war die Einzige, die es vollkommen beherrschte. Vor allem bedurfte es der Konzentration, und eines festen Willens. Julia war überzeugt, das ihr an beidem nicht mangelte. Entdeckt hatte sie das Spiel ganz zufällig, als sie eine Abkürzung zu ihrer Freundin nehmen wollte und ihr Brennesseln den Weg versperrten. Sie hatte sich die Sache ein paar Minuten überlegt, denn sie trug nur kurze Shorts und eine ärmellose Bluse. Sollte sie zurück gehen, nur wegen eines bißchen Unkrauts? Das kam gar nicht in Frage. Sie machte ihr hochmütigstes Gesicht, damit die Pflanzen auch wüßten mit wem sie es zu tun hatten. „Ihr könnt mich nicht brennen!“ dachte sie, und ging entschlossen mitten zwischen den Brennesseln hindurch. Es überraschte sie nicht einmal, das es klappte, sie war überzeugt, das die Nesseln ihr nichts antun würden. So ging sie fortan, immer wenn es grade paßte, unbeschadet durch sie hindurch. Natürlich versuchten die anderen Kinder ihr das nachzumachen, Julia fand es sehr lustig, das die nie auf ihren Trick kamen. Es war doch so einfach! Aber die anderen Kinder verbrannten sich regelmäßig an den Nesseln, verbrachten alle schönen Sommertage juckend und kratzend, besonders des nachts im Bett, denn Julia verriet ihnen ihr Geheimnis nicht. Schließlich wollte sie sich nicht den Spaß verderben!

„Wer traut sich?“ rief sie.

Die Kinder wollten nicht feige sein und liefen Julia, trotz des Brennens hinterher.

 

Julia fand bald heraus, das die magischen Worte auch bei Erwachsenen Wunder wirkten. Bei einer Lehrerin versuchte sie es zuerst. Nachsitzen sollte Julia, weil sie durch werfen mit Bonbonpapier den Unterricht gestört hatte. Als alle anderen Kinder den Klassenraum verließen, stand Julia, hocherhobenen Hauptes, vor der Frau und sagte ihr in Gedanken ganz fest: „Du kannst mich nicht brennen!“

Die Lehrerin sah einen Moment etwas irritiert aus, aber dann schickte sie Julia den anderen Schülerinnen hinterher. Nach dieser Erfahrung wandte Julia den Trick bei ihren Eltern an, wo es auch klappte. Mit den Menschen ging es nicht anders als mit den Brennesseln. Natürlich gab es ab und zu einen Mißerfolg, aber Ausnahmen bestätigen die Regeln, das weiß doch jeder. Vielleicht hatte es mit der Konzentration grade nicht so geklappt, das nächste mal...

 

Eines Tages kam ein neues Mädchen nach Mittelstadt. Nachdem die Kinder sie aufforderten mit ihnen zu spielen und ihr erklärten worauf es beim Brennen ankam, sagte Carol das wäre ein wirklich doofes Spiel, und nichts für sie. Alle stimmten ihr zu und Julia war es egal. Ihr machte es nichts aus, denn sie praktizierte das Spiel täglich, nur eben nicht mit Brennesseln.

 

Ein paar Jahre später stellte Julia fest, daß das Brennen ganz ausgezeichnet bei jungen Männern funktionierte. Andere Mädchen bekamen es mit Liebeskummer zu tun, aber nicht sie, denn sie hatte auf die magischen Worte vertraut, und richtig, die Männer konnten sie nicht brennen.
Irgendwann einmal, Julia wurde immer erwachsener, vergaß sie das Spiel. Es reichte ja offensichtlich aus, ein hochmütiges Gesicht zu machen und selbstbewußt aufzutreten. Mit ihrem festen Willen erreichte sie fast immer ihre Ziele und wenn mal nicht, na ja, Ausnahmen.

 

Julia lernte Peter kennen, der ein gutgehendes Geschäft in Mittelstadt eröffnet hatte. Er verkaufte ihr ganz herrliches Schreibpapier, viel schöner als sie es anderswo gesehen hatte. Deshalb schrieb Julia jetzt mit Begeisterung viele Briefe an alle Verwandten und Bekannten, die sich natürlich sehr freuten. Peter freute sich auch, weil Julia so oft etwas bei ihm kaufte. Es gab auch Zeitungen und Bücher in Peters Laden und Julia fiel immer etwas ein, das sie unbedingt haben mußte. Mit ihrem hochmütigen Gesicht überzeugte sie Peter, dass sie etwas ganz Besonderes sei, und mit ihrem festen Willen, kam es bald zu einer wunderschönen Hochzeit. Nach den Flitterwochen stand dann auch Julia hinter dem Ladentisch und verkaufte Zeitungen, Taschenbücher und alles, was in einem guten Schreibwarenladen zu finden ist. Sie war zu den Kunden sehr freundlich, und vergaß es hochmütig auszusehen. Sie vergaß auch ihren festen Willen immer öfter, weil ihre Tage recht gleichmäßig und ohne große Herausforderungen abliefen. Abends war sie vom vielen Stehen müde und ging früh schlafen, während Peter, der die meisten Tage in dem kleinen Büro, oder hinter dem Lenkrad verbrachte, noch ganz munter war und ehe er den Abend beendete, ein Bier kippen ging. Das sagte er jedenfalls.

 

 Bei einem Klassentreffen mit Julias früheren Mitschülerinnen, lernte Peter auch Carol kennen. Julia merkte gleich, dass Carol ihm gut gefiel, aber die wußte ja, dass Julia und Peter glücklich verheiratet waren. Sicher war Carol so ein Spiel zu doof. Julia ließ sich von solch einem kleinen Flirt, natürlich nicht jucken!

 

Leider blieb es nicht dabei. Carol kam jetzt fast täglich ins Geschäft und Peter kam aus seinem Büroraum gestürzt, um sie persönlich zu begrüßen und zu bedienen. Wenn die beiden in einer Ecke des Geschäfts über irgendeinem Buch, oder Briefpapier tuschelten, dann fühlte Julia ein heftiges, wütendes Brennen in sich aufsteigen. Peters abendliches Bier dehnte sich nun über viele Stunden aus. Julia verbrachte unruhige Nächte, in denen sie sich des Juckens und Brennens kaum erwehren konnte.

 

Vergeblich, das sie sich unterdessen der alten Worte erinnerte: „Ihr könnt mich nicht brennen!“ Es war zu spät, Peter und Carol spielten jetzt ein anderes Spiel, die magischen Worte hatten keine Kraft mehr.

 

Julia entschloß sich zu verändern, der Laden war ihr zu langweilig, sagte sie. Als sie auszog, machte sie ein hochmütiges Gesicht, und berief sich auf ihre Willenskraft. Den Taxifahrer fand sie sehr nett anzusehen und dachte, vielleicht sollte sie ein neues Spiel ersinnen. Vorsorglich flüsterte sie: „Du kannst mich nicht brennen!“

 

 

 

 

 

 

 

 
















 










 

 
   


 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.02.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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