Einige
Sommer war `das Brennen ´ Lieblingsspiel der Kinder in Mittelstadt. Julia war
darauf gekommen und sie war die Einzige, die es vollkommen beherrschte. Vor
allem bedurfte es der Konzentration, und eines festen Willens. Julia war
überzeugt, das ihr an beidem nicht mangelte. Entdeckt hatte sie das Spiel ganz
zufällig, als sie eine Abkürzung zu ihrer Freundin nehmen wollte und ihr
Brennesseln den Weg versperrten. Sie hatte sich die Sache ein paar Minuten
überlegt, denn sie trug nur kurze Shorts und eine ärmellose Bluse. Sollte sie
zurück gehen, nur wegen eines bißchen Unkrauts? Das kam gar nicht in Frage. Sie
machte ihr hochmütigstes Gesicht, damit die Pflanzen auch wüßten mit wem sie es
zu tun hatten. „Ihr könnt mich nicht brennen!“ dachte sie, und ging entschlossen
mitten zwischen den Brennesseln hindurch. Es überraschte sie nicht einmal, das
es klappte, sie war überzeugt, das die Nesseln ihr nichts antun würden. So ging
sie fortan, immer wenn es grade paßte, unbeschadet durch sie hindurch.
Natürlich versuchten die anderen Kinder ihr das nachzumachen, Julia fand es
sehr lustig, das die nie auf ihren Trick kamen. Es war doch so einfach! Aber
die anderen Kinder verbrannten sich regelmäßig an den Nesseln, verbrachten alle
schönen Sommertage juckend und kratzend, besonders des nachts im Bett, denn
Julia verriet ihnen ihr Geheimnis nicht. Schließlich wollte sie sich nicht den
Spaß verderben!
„Wer
traut sich?“ rief sie.
Die
Kinder wollten nicht feige sein und liefen Julia, trotz des Brennens hinterher.
Julia
fand bald heraus, das die magischen Worte auch bei Erwachsenen Wunder wirkten.
Bei einer Lehrerin versuchte sie es zuerst. Nachsitzen sollte Julia, weil sie
durch werfen mit Bonbonpapier den Unterricht gestört hatte. Als alle anderen
Kinder den Klassenraum verließen, stand Julia, hocherhobenen Hauptes, vor der
Frau und sagte ihr in Gedanken ganz fest: „Du kannst mich nicht brennen!“
Die
Lehrerin sah einen Moment etwas irritiert aus, aber dann schickte sie Julia den
anderen Schülerinnen hinterher. Nach dieser Erfahrung wandte Julia den Trick
bei ihren Eltern an, wo es auch klappte. Mit den Menschen ging es nicht anders
als mit den Brennesseln. Natürlich gab es ab und zu einen Mißerfolg, aber
Ausnahmen bestätigen die Regeln, das weiß doch jeder. Vielleicht hatte es mit
der Konzentration grade nicht so geklappt, das nächste mal...
Eines
Tages kam ein neues Mädchen nach Mittelstadt. Nachdem die Kinder sie
aufforderten mit ihnen zu spielen und ihr erklärten worauf es beim Brennen
ankam, sagte Carol das wäre ein wirklich doofes Spiel, und nichts für sie. Alle
stimmten ihr zu und Julia war es egal. Ihr machte es nichts aus, denn sie
praktizierte das Spiel täglich, nur eben nicht mit Brennesseln.
Julia
lernte Peter kennen, der ein gutgehendes Geschäft in Mittelstadt eröffnet
hatte. Er verkaufte ihr ganz herrliches Schreibpapier, viel schöner als sie es
anderswo gesehen hatte. Deshalb schrieb Julia jetzt mit Begeisterung viele
Briefe an alle Verwandten und Bekannten, die sich natürlich sehr freuten. Peter
freute sich auch, weil Julia so oft etwas bei ihm kaufte. Es gab auch Zeitungen
und Bücher in Peters Laden und Julia fiel immer etwas ein, das sie unbedingt
haben mußte. Mit ihrem hochmütigen Gesicht überzeugte sie Peter, dass sie etwas
ganz Besonderes sei, und mit ihrem festen Willen, kam es bald zu einer
wunderschönen Hochzeit. Nach den Flitterwochen stand dann auch Julia hinter dem
Ladentisch und verkaufte Zeitungen, Taschenbücher und alles, was in einem guten
Schreibwarenladen zu finden ist. Sie war zu den Kunden sehr freundlich, und
vergaß es hochmütig auszusehen. Sie vergaß auch ihren festen Willen immer
öfter, weil ihre Tage recht gleichmäßig und ohne große Herausforderungen
abliefen. Abends war sie vom vielen Stehen müde und ging früh schlafen, während
Peter, der die meisten Tage in dem kleinen Büro, oder hinter dem Lenkrad verbrachte,
noch ganz munter war und ehe er den Abend beendete, ein Bier kippen ging. Das
sagte er jedenfalls.
Bei einem Klassentreffen mit Julias früheren
Mitschülerinnen, lernte Peter auch Carol kennen. Julia merkte gleich, dass
Carol ihm gut gefiel, aber die wußte ja, dass Julia und Peter glücklich
verheiratet waren. Sicher war Carol so ein Spiel zu doof. Julia ließ sich von
solch einem kleinen Flirt, natürlich nicht jucken!
Leider
blieb es nicht dabei. Carol kam jetzt fast täglich ins Geschäft und Peter kam
aus seinem Büroraum gestürzt, um sie persönlich zu begrüßen und zu bedienen.
Wenn die beiden in einer Ecke des Geschäfts über irgendeinem Buch, oder
Briefpapier tuschelten, dann fühlte Julia ein heftiges, wütendes Brennen in
sich aufsteigen. Peters abendliches Bier dehnte sich nun über viele Stunden
aus. Julia verbrachte unruhige Nächte, in denen sie sich des Juckens und
Brennens kaum erwehren konnte.
Vergeblich,
das sie sich unterdessen der alten Worte erinnerte: „Ihr könnt mich nicht
brennen!“ Es war zu spät, Peter und Carol spielten jetzt ein anderes Spiel, die
magischen Worte hatten keine Kraft mehr.
Julia
entschloß sich zu verändern, der Laden war ihr zu langweilig, sagte sie. Als
sie auszog, machte sie ein hochmütiges Gesicht, und berief sich auf ihre
Willenskraft. Den Taxifahrer fand sie sehr nett anzusehen und dachte,
vielleicht sollte sie ein neues Spiel ersinnen. Vorsorglich flüsterte sie: „Du
kannst mich nicht brennen!“
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Iris Asamoah).
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.02.2006.
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