Vadim Pryde

Die letzte Welt (Teil VI)

Ich erwachte langsam und spürte die innere Wärme meiner Welt. Sie hat in mich zurückgefunden und ich richtete mich auf um den Tag zu empfangen. Serene war schon fort, hat aber ein Gefühl des Wohlseins hinterlassen das ich den ganzen Tag mit mir und in mir tragen konnte. Ich nährte mich an ihrer Hingabe, ließ unsere Verbindung und die endlose Ruhe die darauf folgte noch einmal meinen Geist in Beschlag nehmen. Eine Weile Schwelgens später nahm ich solide Gestalt an und begab mich zum Zollhaus.
            Es war ein Morgen wie ich ihn selten so verspielt erlebt hatte, selbst die Steine wussten eine Geschichte zu erzählen. Das leise Rauschen der See und die Wogen die langsam und unaufhörlich den Sand hin und her schaukelten ließen mich an meinen Gast denken. Er hatte noch nicht an mich gedacht seit er hier war, das hätte ich gespürt. Aber er war nicht in Sorge oder Trauer, er war – so hatte es zumindest den Anschein – zufrieden.
 
Als ich am Zollhaus angekommen war, sah ich Serene und einige andere die Aushänge lesen. Die meisten waren nur für die Reisenden von Belang, aber einer hatte wohl ihre Aufmerksamkeit erregt. Ein Hüter war verschwunden, kurz nachdem er seinen Dienst angetreten hatte. Eigentlich nichts ungewöhnliches, da die Hüter sich oft in den Zwischenwelten aufhalten um den einen oder anderen verunglückten wieder dahin zu schicken wo er hingehört. Seltsam war nur die Tatsache, daß sein Entsprecher – sein Verbindungswesen in dieser Welt – den Griff nach ihm verloren hat. Wenn so etwas passiert, wird er für gewöhnlich zurückgerufen, aber dieses Mal konnte niemand so recht sagen wo er sich befand. Und ohne Ziel ist ein Rückruf praktisch von vorneherein zum Scheitern verurteilt.
            „Es ist das erste Mal seit über 400 Jahren das so etwas passiert ist!“, sagte mir Serene als wir wieder ein wenig unter uns waren. Ich spürte ihre Besorgnis, ließ mir diesmal allerdings nichts anmerken. „Man hat bestimmt schon alles versucht um ihn zu finden, oder? Ich kann mir nicht vorstellen, daß er einfach so verschwunden ist.“ „Der Entsprecher hat gesagt, der Kontakt wurde einfach abgerissen. Als wären sie in einem Moment noch verbunden und im nächsten – er war einfach weg!“, sie wurde blasser. Kein gutes Zeichen. „Was ist das letzte Mal passiert als einer der Hüter verschwunden ist?“, hakte ich nach. Eigentlich wollte ich nicht weiter fragen aber die Neugierde ist eine meiner Misstugenden die ich nie so wirklich überwunden habe. Einen Augenblick ist sie still als wäre sie nur ein Ausgedachtes – wie ein Wort dessen Bedeutung man kennt, im nächsten ist sie wie ein Anker der unaufhörlich an mir zu zerren scheint. „Davon wissen nicht viele, kaum einer hier ist alt genug als das er es selbst erlebt hat. Ich habe es von zwei Älteren erspürt, wie eine Vorahnung, aber doch nicht mehr als ein verirrter Gedanke. Sie suchten ihn beide zu vergessen, wie ein Kind eine Schauergeschichte vor dem Einschlafen vergessen will.“
            Ich spielte mit dem Gedanken den Weisen zu befragen, aber er selbst würde mit Sicherheit nichts als Rätsel von sich geben. Warum sollte jemand der fast so alt ist wie diese Welt sich die Mühe machen, seine Worte für die Jugend in kleine verdaubare Häppchen zu reißen die sie für sich alleine genommen sowieso nicht voll erfassen könnten? Und doch wollte ich es wissen und es gab einen Ort an dem ich die Antwort erfahren würde. „Du musst mir helfen einen Sprung durchzuführen!“, gab ich recht verschlossen von mir. „Einen Sprung? Du doch hast eben erst einen hinter Dich gebracht. Keiner wird Dir einen Sprung erlauben!“, klang es von ihr, doch eigentlich wusste ich das sie mir in Wirklichkeit die Verschlossenen Gedanken wesentlich übler nahm als alles worum ich sie je hätte bitten können.
            „Ich kenne unsere Gesetze, ich weiß, daß ich nicht springen darf und ich werde Dich bitten sie für mich außer Acht zu lassen. Nach meiner Rückkehr werden wir vielleicht endlich wissen warum oder gar wohin der Hüter verschwunden ist.“, sagte ich mit Entschlossenheit über mich gezogen, als wäre sie ein Mantel den man ab- und anlegen konnte wie es einem eben einfiel. Es wäre sinnlos gewesen ihr meine Idee vorzuenthalten wenn ich ihre Hilfe brauchen würde, sie würde spätestens beim Austritt aus dieser Welt merken was ich vorhatte.
 
Wir warteten bis die Meute der Fragenden und Besorgten gewichen war und glitten unbemerkt in einen der Reiseräume. Sie schloss die Tür und versiegelte sie mit ihrem Zeichen, ich begann mich zu entkleiden und aus mir selbst heraus die Dinge zu formen die ich benötigen würde. Wärmende, aber auch ziervolle Kleidungsstücke, ein schwerer Ledergurt und ein Krug aus Holz mit dem reinsten der Wasser unserer Welt. Stellte mich vor Serene und sie vollzog mit einer halben Handbewegung die Verbindung der Reisenden. Ich schloss meine Augen und sie begann mit tiefen Atemzügen im Wechsel einige Worte erklingen zu lassen, Worte die sie selbst waren.
            Ich schloss meine Augen und verlor mich sogleich in der absoluten Wärme der samtweichen Flüssigkeit, die mich umgab und durchdrang. Wie ein Tuch mit dem man nach einer Massage abgerieben wird, doch immer schneller und heißer kletterte sie an mir entlang, bis ich mich vollends in ihr eingehüllt und von ihr durchdrungen fühlte. Ich passte den Moment ab mich auf mein Ziel zu fokussieren und spürte sogleich das derbe ziehen und Rütteln der Welten wie sie an mir vorbeiglitten. Aus Schwärze begannen wie Regentropfen auf sonnengewärmtem Beton Flecken zu sprießen, erst grau, dann immer heller werdend, bis sie zunächst weiß wurden und mich dann schließlich in ihrem Lichtermeer ertränken wollten.
            In diesem Moment ließ ich mich zwischen diese Lichter stürzen, ich entsagte mit einem Schlag der ganzen Kontrolle und zog mich in mich selbst hinein um in einem Meer endloser Farben den Lichtern entgegenzutreten. Irgendwo zwischen Rot und Blau stand um mich alles Still.
 
Ein langer Gang aus Farben, bunten Blitzen und funkelndem Licht, kein Ende in Sicht weder zur einen, noch zur anderen Seite. Aber ich wusste wo ich war und ich wusste wo ich hin wollte. Ich war bisher noch nie dazu gekommen diese Welt zu betreten, obwohl ich schon so einige Reisen abgeschlossen habe, allerdings habe ich viel von ihr gehört und wusste wie man hingelangt, genau wie eine Brieftaube weiß wie sie an ihren Bestimmungsort kommt.
            Als ich dem schier endlosen Gang folgte, wollte ich ihn treffen und traf ihn auch. „Weder wirst Du erwartet, noch kenne ich Dich – was suchst Du hier, denn Du bist nicht von dieser Welt?“, hallte eine Stimme die schmalen Wände entlang, fast schon einen Deut zu laut als das sie noch angenehm hätte klingen können. „Ich habe ein Geschenk für Dich und Dein Volk. Unser Wasser ist das als reinstes aller Welten gepriesen. Ich machte die Reise auf meinen eigenen Wunsch, so lasse sie mich vollführen. Das Wasser sei Dein und mein Wort das ich keine Böse Absicht in mir hege.“, erklärte ich ihm. „Was Du sprichst ist wahr, so mögest Du als Gast meiner selbst und meines Volkes willkommen sein!“
Ich reichte ihm den Krug und nickte leicht schräg mit dem Kopf wie es bei mir und meinesgleichen zum Gruß und Wohlwollen Sitte ist. Er nahm Gestalt an, nahm den Krug entgegen und lächelte mich an: „Dies Wasser ist für wahr sehr rein und auch wenn es den Durst vieler Kehlen zu stillen vermag, stillt es meine Neugier nicht. Was treibt einen Aussenweltler, unsere Welt zu besuchen?“, blickte er mich mit einem durchdringenden Funkeln in den Augen an. Ich wusste warum er der einzige Wächter für diesen Zugang war – er der die Gabe hatte Wahrheit von Lüge zu trennen und Dreck von Reinheit zu unterscheiden. „Eben die Neugierde treibt mich, jedoch nicht nach dem hier.“, gab ich von mir ohne viel über mein Vorhaben auszusagen. Mein Gegenüber lächelte weiterhin, hieß mich mit einer einladenden Geste ebenfalls willkommen und ließ mich hinter ihn treten.
 
Ich spürte die Verbindung zu Serene noch immer, was ein gutes Zeichen war. Erstens hatte keiner bemerkt, daß ich fort war und zweitens war ich nicht auf mich allein gestellt. Von jetzt an würden meine Aufgaben einfacher sein. Ich musste nur ein Wesen finden, das ich weder kenne noch spüren kann in einer Welt in der ich noch nie zuvor gewesen bin. Aber darauf würden Antworten folgen und wenn Serene mit ihrem Gefühl wieder ins Schwarze getroffen hat, dann ist Zeit das letzte was unsere Welten noch haben. Langsam kam ich mir vor wie ein Sandkorn, das versucht in die obere Hälfte des Glases zu kommen um dort zu erfahren wie viele Sandkörner noch folgen würden. Wohin mich diese Antworten auch führen wurden, ich war mir fast sicher, daß es mir nicht gefallen würde. Aber das musste es auch nicht, was ich wirklich suchte – war Gewissheit.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.02.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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