Jürgen Behr

Die geheimnisvollen Zeichen Teil I

Die Abendnachrichten im Fernsehen übermitteln fast Unglaubliches. Die Mauer fällt.
 
"Hast du gehört, Jonathan, die öffnen die Grenze. Mit Spitzhammer und Meissel zerstören sie ein Stück Geschichte".
"Unsere Geschichte", sagt Jonathan, "komm lass uns wenigstens versuchen, unser Stück Mauer zu retten".
Beide rannten sie aus dem Haus, ebenfalls gerüstet mit Spitzhammer und Meissel.
Nach
allerdenklicher Mühe hatte sie ihr Mauerteil gelockert und auf einer
schnell angefertigten Bahre aus dem herumliegenden Abbruchholz an einen
sicherer Hort gebracht.
Mark und Jonathan, beide kaum mehr
als siebzehn, standen für einen Augenblick in stummer Andacht um das
kostbare Stück Mauer. Dann murmelte Jonathan: "Seltsam Wunderbares wird
sich ereignen, aber auch Blut wird fliessen, viel Blut".
Nach
dieser stummen Andacht eilten sie in Schlangenlinie ziehend, hüpfend
und galoppierend zurück zur Mauer, wo derweil ein grosser Jubel
herrschte. Voll jugendlichem Übermut klettern sie auf die Mauer und
Jonathan ruft mit durchdringender Stimme in die jubelnde, ausgelassene
Menschenmenge: "Ich möchte nie sterben, ich möchte ewig leben" und Mark
fügte hinzu: "Unsere Taten werden uns unsterblich machen".
Ausgelassen
hüpfen und tanzen die beiden auf der Mauer und reissen sich voll
Inbrunst das Hemd vom Leib. Sie denken gar nicht daran aufzuhören. Sie
mischen sich unbefleckten Oberkörpers in die frohe, tanzende Schar.
Alle fühlen sich zurückversetzt in unbeschwerte Jugendtage.
Schliesslich
ergreift Julius, ebenfalls kaum siebzehn, Marks rechten Arm: "Ich weiss
es nicht, die Narbe auf eurer Brust, ein ähnliches Zeichen habe ich
schon mal irgendwo gesehen. Ah, ich glaube, das war an der Mauer".
Jonathan spürt, wie der junge Julius nach der Rätsels Lösung fiebert und erwidert: "Spuren einer Verletzung".
Mark und Jonathan beginnen sich wieder anzuziehen. Ihr Geheimnis bleibt weiterhin verborgen.
 
Früher
Morgen. Mark hat sich schon zur Ruhe gelegt. Jonathan sieht wie er
friedlich die Augen geschlossen hält. Und auch Jonathan entledigt sich
seiner Kleider, legt sich neben Mark und lässt die Erlebnisse der Nacht
vor seinen geschlossenen Augen vorüberziehen.
 
Julius
grübelt noch lange nach, wie es dazu kam, dass Mark und Jonathan
jeweils die gleiche Narbe auf der rechten oberen Brust tragen und über
die Ähnlichkeit der Narben mit den Zeichen an der Mauer.
"Irgendwann werde ich hinter das Geheimnis der beiden kommen", denkt Julius.
 
Zur
Mittagszeit nach einem ausgedehnten Schlaf, Jonathan hatte geschnarcht
wie ein Brummbär, wollte der tatendurstige Mark sofort wieder zur
Grenze eilen. Doch Jonathan konnte er nicht dazu animieren.
Jonathan: "Nein, ich mag nicht. Ich möchte lieber zu unserem Stück Mauer gehen".
Mark konnte diesen Wunsch dem geistig niveauvollen Jonathan nicht abschlagen.
Sie nahmen gemeinsam einen kleinen Imbiss ein und zogen dann gemütlich los.
Darauf
überlegten sie sich, ob sie Julius doch ihr Geheimnis einweihen und
schmiedeten unheimliche Pläne bis sie schliesslich durch ein Geräusch
unterbrochen wurden.
Jonathan: "Hast du das Knacken von Ästen
auch gerade gehört. Psst! Da muss noch jemand hier sein. Ich schleiche
mich leise mal raus".
Sanft ergreift Jonathan mit seiner rechten Hand die Schulter eines jungen Körpers, der unerwartet aufschreckt.
"Julius, du?"
Schon will Julius etwas sagen.
"Schweig noch, komm erst mal mit rein!"
Julius: "Aber da ist ja das Mauerstück mit den Zeichen".
Jonathan:
"Schau Julius, der Priester spricht davon, Gott sei zu loben. Natürlich
ist das Wesen zu loben, das so Grosses geschaffen hat wie das All mit
all dem darin. Aber ein Prediger tut, als ob er Gott ganz genau kenne,
und würde man ihn fragen, sagte er womöglich immer noch so, wie es im
Katechismus gelehrt wurde: "Es gibt Gottvater, Sohn und Heiliger Geist
- Gott ist die Dreieinigkeit". Unsicheres als wahr hinzustellen, ist
das nicht die perfekte lebenslüge? Wenn es einen Teufel gibt, muss er
diese Infamie erfunden haben.
Und Jonathan fährt fort:
"Julius, wir haben uns eine andere Dreieinigkeit ausgedacht. Und
deswegen wollen wir dich heute Abend in unser Geheimnis einweihen".
Julius Augen betrachten immer noch dieses besondere Zeichen, das das Mauerteil trägt.
"Die Narben auf eurer Brust haben sehr viel Ähnlichkeit mit diesem Zeichen".
Mark:
"Wir haben damals vor unserer Flucht aus der DDR einen Eid geschworen,
dass wir nie auseinandergehen werden, bis der Tod uns
auseinanderreisst. Und damit wir immer daran denken, haben wir uns die
Zeichen in die Haut geritzt und uns brüderlich mit dicht aneinander
gedrückten Oberkörpern umarmt, sodass sich unser Blut vereinigte. Um
unsere Treue zueinander auf die Probe zu stellen, flohen wir in den
Westen. Später haben wir unsere Zeichen der Treue und Freundschaft in
die Mauer geritzt".
Julius: "Aber das Mauerstück trägt ein
Zeichen mehr". Zutiefst verwundert will er nun wissen, was es mit dem
Zeichen auf sich hat: "Was bedeutet dieses?"
Jonathan
lächelte: "Ich wusste, dass diese Frage kommen würde. Wir glauben an
einen Schöpfer, aber wir kennen ihn nicht, wir wissen nicht wie er
aussieht. Eine Person kann es nicht sein, sonst müssten wir uns fragen,
wer dann diese Person geschaffen hat. Für uns ist es eine unbekannte
Grösse. Für diese unbekannte Grösse steht das dritte Zeichen. Ihr haben
wir unsere Zeichen geweiht".
Julius: "Nun verstehe ich auch, warum ihr das gute Stück aus der Mauer herausgelöst habt":
Jonathan: "Wir verehren diese unbekannte Grösse und sie hat uns hier zusammengeführt".
Jonathans
Worte dringen tief in Julius Verstand und Herz hinein. Ehrfurchtsvoll
umgreift Julius das Mauerteil und seine Augen leuchten. Es ist kein
gewöhnliches Leuchten. Es ist ein glückliches Aufleuchten seiner Augen.
Dann wendet er seinen Kopf wieder zu den beiden. Sein Herz dankt der
unbekannten Grösse, die ihn schicksalhaft hierher geführt hat.
Für
einen Augenblick schweigen alle, bis Mark und Jonathan aufstehen. Mark
holt aus einer Lade einen Dolch ähnlichen Gegenstand hervor. "Mit
diesem Gegenstand haben wir die Zeichen in unsere Haut eingeritzt".
Julius
fühlt heisses Blut in seinen Adern und spricht: "Ich möchte in den
ewigen Bund der Treue und Freundschaft eingehen". Und Jonathan fügt
hinzu: "Unsere Taten sind erst dann voll edlem Sinn, wenn sie durch
Freundschaft geheiligt und besiegelt sind".
 
jpb. 
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.02.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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