Stefan Rüesch

Der Weg

Soweit ich
mich erinnern kann – und ich erinnere mich mehr, als mir lieb ist – begegnete
ich  meiner grössten Angst, als ich als
kleiner Junge für meine Grossmutter ins Nachbardorf hatte gehen müssen, um für
sie frische Rosinen einzukaufen. Meine Grossmutter war 90 und ich gerade Mal
Neun, folglich war es nicht verwunderlich, dass ich wesentlich besser zu Fuss war
als sie, aber diese verfluchten Rosinen für diesen verfluchten Kuchen, den sie
jeden Sonntag nach dem Abendessen für uns gebacken hatte.

    Genau diese Rosinen waren
das erste Glied einer dünnen Kette, an der mein damals zartes Kindergemüt
gehangen hatte und ausgerechnet an diesem Tag war Onkel Buck nicht zu Hause
gewesen und so bin ich ausgewählt worden, den zehnminütigen Weg ins
Nachbardorf auf mich zu nehmen. Grossmutter freute sich sehr und weil ich
damals noch nicht wissen konnte, dass ich mit 24 in einer Klapsmühle
enden würde, freute ich mich an ihrem Lächeln und war auch ein kleinwenig
stolz, dass ich den Weg zum ersten Mal ganz allein gehen durfte. Selbst Mutter
hatte es mir erlaubt, nachdem ich ihr versprochen hatte, mich an die
Grundregeln zu halten.

    Die erste dieser
Grundregeln lautete, ich solle nicht mit Fremden sprechen. Die zweite besagte,
dass ich von Fremden nichts annehmen durfte. Letztere – und diese war
die wichtigste – liess verlauten, dass ich unter keinen Umständen vom Weg durch
den Wald abkommen durfte, der die einzige Verbindung zwischen unserem Dorf und
dem Nachbardorf darstellte. Unter keinen Umständen, hatte Mutter immer
nachdrücklich gesagt.

    Jetzt, da ich die Wände
meiner Gummizelle betrachte, wünschte ich, ich hätte auf sie gehört und ich
wünschte mir auch, dass ich damals nicht so ein pflichtbewusster, kleiner Narr
gewesen wäre. Ich wünschte mir, ich hätte diese verfluchten Rosinen und den
verfluchten Sonntagskuchen auf direktem Weg zur Hölle gejagt, auch wenn es
Grossmutter das Herz gebrochen hätte.

    Ich hatte viele Wünsche,
aber vor allem wünschte ich zu vergessen, was sich damals ereignet hatte, als
ich als kleiner Junge mit gerade Mal neun Jahren allein durch den Wald gegangen
war. Es war 15 Jahre her und ich kann es noch immer deutlich vor mir sehen und
die Angst, die ich damals empfunden hatte, liess mich nie mehr los.

    Das eisige Gefühl, dass
mich in seinen Klauen festhielt schien mich zu erdrücken und die Welt blieb
stehen, wenn ich an die Zeit zurückdachte, als ich noch ein Kind gewesen bin.

 

„Also“ sagte Mutter um halb Drei Nachmittags zu
mir „sag mir noch einmal, was du nicht vergessen darfst.“

    Sie sah mir direkt in die
Augen, streng, aber doch liebevoll.

   „Ich darf nicht mit
Fremden sprechen und ich darf von Fremden nichts annehmen, auch nicht, wenn ich
es lecker finde. Auch keine Spielsachen.“ sagte ich.

   „Und?“

   „Und ich darf nur auf dem
Weg durch den Wald laufen, nicht abseits davon.“

   „Das ist das wichtigste,
Tom. Unter keinen Umständen darfst du den Weg verlassen.“ sagte Mutter mit
erhobenem Zeigefinger.

   „Ich verspreche es dir.“

   „Fein. Du bist ein lieber
Junge und Grossmutter freut sich sehr, dass du ihr diese Freude machst. Dafür
bekommst du nachher ein extragrosses Stück von ihrem leckeren Kuchen.“

   „Wirklich?“

   Sie lächelte und gab mir
einen Kuss auf die Wange und versichte mir mit der liebevollen Art, wie sie nur
einen Mutter besitzen kann, dass es sogar riesengross sein würde. Schliesslich reichte
sie mir das Geld für die Rosinen und ich brach auf. Lange sah sie mir noch nach
und gelegentlich drehte ich mich um, damit ich zurück blicken konnte. Ich hatte
meine Mutter sehr lieb. Als sie schliesslich wieder ins Haus ging befand ich
mich bereits am Waldrand. Ich blieb einen Augenblick stehen und horchte in den
Wald hinein. Kein einziger Laut war zu vernehmen, was für einen so warmen
Frühling recht ungewöhnlich schien. Nicht ein einziger Vogel war zu hören.
Selbst den Wind schien der dunkle Wald zu verschlucken, der sich vor mir ausbreitete.
Direkt vor meinen Füssen befand sich der Weg, den ich unter keinen Umständen
verlassen durfte. Es schien, als wäre der mehrere hundert Jahre alte Wald
einfach um diesen Weg herum gewachsen, aber das war natürlich Unsinn. Die
Dorfgründer mussten ihn damals angelegt haben, aber das war auch schon knapp
hundert Jahre her. Matt und kalt lag der Schotterweg im Schatten der
gigantischen Bäume, die sich unnatürlich eng aneinander drängten in ihrer
unbemerkten Gier nach Sonnenlicht in einem ewigen Wettkampf, dem Wachsen der
Sonne entgegen – unwahrgenommen. Dieser Wald sah stets gleich aus und seine
Blätter waren von einem dunkleren Grün, als es sich sonst in einem Wald finden
würde. Es war schon beinahe ein Schwarz, das mit den Schatten verschmolz
und den sonnigen Frühlingstag ausschloss. Die Stämme waren überwuchert mit
grotesk anmutigen Flechten und Pilzen. Geschwüre, die seit Menschengedenken an
diesen Giganten der Pflanzen emporwuchsen. Ich war schon etliche Male mit Mutter gemeinsam durch diesen Wald
gegangen, aber an diesem Tag war ich völlig allein und gerade als sich Angst
breit machen wollte, dachte ich an das extragrosse Stück Kuchen und ging direkt
in den Wald hinein, wobei ich peinlichst genau darauf achtete, in der Mitte des
Schotterwegs zu wandern.

    Nach fünf Minuten und
somit der Hälfte der Strecke hörte ich plötzlich ein Knacken aus dem
gespenstischen Wald und ich blieb wie angewurzelt stehen, um zu lauschen. Mein
Herz klopfte wie wild. Lange zeit blieb es ruhig und gerade als ich den nächsten
Schritt tat, hörte ich wieder dasselbe Geräusch. Das Geräusch von brechenden
Zweigen. Ich riss meinen Kopf herum und blickte in den Wald hinein, wo ich nur
Schatten und modrige Bäume sehen konnte. Der Weg verlief in einer Kurve durch
den Wald und ich konnte weder den Eingang, noch den Ausgang erkennen. Ich war mitten
drin.

    Knack!

    Diesmal kam es von der
anderen Seite und mein Puls schoss in die Höhe wie ein mit Dynamit gefüllter
Elch während eines Waldbrandes. Hektisch blickte ich um mich und bemerkte nur
ansatzweise, wie sich meine Hände in den Hosentaschen verkrampften und als ich
das Knacken zum vierten Mal hörte, rannte ich los.

    Die schwarzen Bäume
rasten an meinem Blickfeld vorbei und das Hämmern meines Herzens gab den Takt
für meinen Sprint an. Ich wagte nicht, zurück zu blicken. Kalter Schweiss lief
mir in kleinen Bächen über die Stirn. Ich hätte schwören können, dass ich
verfolgt wurde und ich spürte hinter mir den Blick stechender, kalter Augen.
Ich rannte noch schneller und als ich schliesslich den Ausgang erreicht hatte,
wirbelte ich herum und stürzte zu Boden. Mit weit geöffneten Augen starrte ich
in den Wald hinter mir.

    Nichts.

    Weder stechende Augen
noch sonst ein Etwas war mir gefolgt und ich atmete erleichtert auf, als mir
klar wurde, dass mir lediglich meine Fantasie einen streich gespielt hatte.
Schnell stand ich auf und ging ins Nachbardorf hinein, wo sich der Laden
befand, der die leckeren Rosinen verkaufte. Gelegentlich ertappte ich mich
dabei, wie ich verstohlen über meine Schulter zurück in den Wald blickte, wo
weiterhin nichts zu sehen war. Ich dachte nicht mehr weiter daran und schritt
direkt auf den Laden zu.

    „Hallo, junger Mann.“
begrüsste mich Mr. Smith, dem der Laden gehörte, während die Türbimmel verklang.

    „Guten Tag, Mr. Smith.“
erwiderte ich den Gruss.

    „Sag mal, Junge, bis du
heute ganz allein hergekommen?“

    „Ja! Ganz allein.“

    Zugegeben, ich war stolz
darauf.

    „Na dann. Was darf es
denn sein?“

    Ich bestellte einen
Beutel Rosinen, so wie es Mutter immer getan hatte, bezahlte und bekam von Mr.
Smith noch einen Schokoriegel geschenkt, weil ich, wie er sagte, so ein
tapferer Junger Mann war. Ich kannte Mr. Smith schon von den Einkäufen mit
Mutter und ich wusste, dass er ein netter Mann war, und da er kein Fremder war,
durfte ich sowohl mit ihm reden, als auch Süsses von ihm annehmen. Nachdem ich
mich bedankt hatte und gerade gehen wollte, rief Mr. Smith noch einmal nach
mir.

    „Sag, Junge, du gehst
doch bestimmt durch den Wald, wenn du hierher zu mir kommst, um Rosinen
einzukaufen, nicht?“ fragte er mich und sein Schnurrbart hüpfte dabei
schelmisch auf und ab. Er musterte mich mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck
und kaute gemütlich auf seiner Unterlippe.

    „Ja. Durch den Wald.“ antwortete
ich zaghaft.

    „Versprich mir eins,
lieber Junge. Wenn du jetzt nach Hause gehst, verlasse nicht den Weg, hörst
du? Geh niemals abseits des Weges durch diesen Wald. Wir Erwachsenen
wissen, dass man das nicht darf, aber dir sage ich es, weil du ein so lieber
Junge bist.“

    „Mutter hat mir gesagt,
dass man unter keinen Umständen vom Weg abkommen darf.“

    „Da hat deine Mutter
recht.“

    „Was ist denn nicht gut
mit dem Wald?“

    Nervös blickte Mr. Smith
um sich und sah mich dann wieder an. Beinahe flüsternd beantwortete er meine
Frage.

    „Der Wald ist böse,
lieber Junge. Leute, die früher durch den Wald gelaufen sind und vom Weg
abkamen, wurden niemals wieder gesehen. Sie sind einfach verschwunden und ich
sage dir, es ist dieser Wald. Er ist sehr alt, weißt du? Und wo etwas so
altes ist, ist auch immer irgendetwas Böses verborgen. Darum ist in diesem Wald
immer Nacht.“

    Er sah, dass mir die
Geschichte Angst machte und setzte Schnell ein breites Lächeln auf.

    „Aber du bist ein braver
Junge und gehst auf dem Weg. Weißt du, auf den Weg kann das Böse nicht und
solange du auf dem Weg bleibst, bleibt das Böse ausgesperrt und du bist in
Sicherheit. Das verspreche ich dir.“

    „Danke, Mr. Smith.“ sagte
ich und als ich den Laden verliess, hatte ich die unheimliche Geschichte
bereits fast vergessen. Ich hielt den Beutel mit den Rosinen in der linken Hand
und mit der rechten ass ich genüsslich den Schokoriegel und bald schon stand
ich wieder vor dem Weg durch den Wald. Auf dem Weg bleiben und alles wird
gut, dachte ich und ging wieder hinein, in die permanente Nacht des Waldes.
Erneut stellte ich fest, dass es Totenstill war. Dennoch beschloss ich, dass
ich meinen Blick starr geradeaus richten und auf leisen Solen den Wald
durchqueren würde. Wieder umhüllte mich die Finsternis der dicht beieinander
stehenden Bäume und ich versuchte, mich nicht an die Geschichte von Mr. Smith
zu erinnern.

    Dieser Wald ist böse.

    Alt.

    Böse.

    Ich nahm einen Bissen vom
Schokoriegel und beachtete meine innere Stimme nicht weiter, da sie mir ohnehin
nur Angst machen wollte, und ich war ja ein junger Mann. So hatte Mr. Smith
mich genannt. Junge Männer fürchteten sich nicht vor Gruselgeschichten oder
dunklen Wäldern. Junge Männer zogen mit einem Lächeln im Gesicht in die
verrücktesten Abenteuer und Junge Männer – zumindest die aus den Geschichten –
gingen immer als Helden aus diesen Abenteuern hervor. Plötzlich empfand ich es
als lächerlich und kindisch, dass ich mich vor dem Wald gefürchtet hatte.
Schliesslich war ich den einen Weg schon völlig unbeschadet gegangen, vom Sturz
auf den Po mal abgesehen. Also lächelte ich – wie die Jungen Männer in ihren Abenteuern
– und trotzte meiner Furcht. Gerade als ich einen weiteren Bissen von der
Leckerei nehmen wollte, stolperte ich und fiel der Länge nach auf den
Schotterweg, was mir fürchterlich wehtat. Einen Augenblick verharrte ich und
sah nach den Rosinen. Der Beutel befand sich noch immer in meiner Hand und war
unversehrt. Unversehrt geblieben waren auch meine Knie, bis auf ein Paar wenige
Schrammen. Einzig der Schokoriegel hatte den Sturz nicht überstanden. Das
feuchtwarme Schokoding hatte sich unappetitlich in den Schotter eingegraben, wo
die nussige Füllung bereits mit Dreck und Sand verschmolz. Ich ärgerte mich, obwohl
ich den Grossteil der Süssigkeit bereits gegessen hatte. Langsam hockte ich
mich hin und sah, worüber ich gestolpert war. Eine Wurzel, die aus dem Erdreich
nach oben gestossen war und aus dem Schotterweg wucherte, hatte mich zu fall
gebracht. So seltsam es auch schien, hätte ich schwören können, dass jene
Wurzel noch nicht da gewesen war, als ich mich auf dem Weg ins Nachbardorf
befand. Ich sah mich um und konnte weder den Eingang, noch den Ausgang des
Waldes sehen, also war ich wieder in der Mitte, wo ich bereits beim Hinweg
stehen geblieben war. Wie hätte ich diese grosse, schwarze Wurzel übersehen
können?

    Knack!

    Direkt vor mir.

    Das blut gefror mir in
den Adern.

    Knick! Knack! Knirsch!

    Ich war plötzlich nicht
mehr in der Lage, mich zu bewegen und starrte entsetzt in die Grabesschwärze
des Waldes, woraus das Geräusch auf mich zukam. Für einen Augenblick sah ich
Mr. Smith in Gedanken vor mir, wie er mir davon erzählte, dass an jedem alten
Ort, auch eine Böse Macht verborgen lag und plötzlich, wie aus heiterem Himmel,
pinkelte ich mich voll. Gebannt starrte ich in den Wald hinein und erkannte,
dass sich die dunklen Sträucher am Wegrand vor mir in Bewegung setzten. Das
Rascheln kam direkt auf mich zu und war nur noch wenige Meter von mir entfernt.
Ich war auf alles vorbereitet, nur nicht auf das, was aus dem Gebüsch herauskam
und direkt auf mich zu rannte.

    Ein Eichhörnchen.

    Es war nichts weiter als
ein einfältiges Eichhörnchen, eine widerliche Baumratte die jedoch so putzig
auf mich zuhüpfte, dass ich gerade genug zeit hatte, zu meiner Besinnung zurück
zu finden, nur um zu erkennen, dass ich mir nebst dem pinkeln, zu allem
Überfluss, auch noch in die Hosen gemacht hatte. Das Eichhörnchen stand direkt
vor mir und richtete sich auf. Nervös schnuppernd sah es mich mit seinen
grossen Knopfaugen von oben bis unten an und hüpfte einen weiteren Satz auf
mich zu. Ich setzte mich und sah auf das Tier herab, das sich jetzt bis auf
wenige Zentimeter genähert hatte. Erstaunlicherweise hatte es keine Angst vor
mir, selbst als ich meine Hand ausstreckte, schnupperte es nur lange an meiner
Hand.

    „Hallo kleines.“ sagte
ich und lächelte.

    Es erschrak nicht, als es
meine Stimme hörte sondern sah mich einfach nur weiter an. Da bemerkte ich,
dass ich noch immer den Beutel mit den Rosinen in der Hand hielt. Nach kurzem
Überlegen nahm ich eine Rosine heraus und reichte sie dem Tier. Es war einfach
zu putzig, als es mit seinen kleinen Händen nach der Rosine griff. Erst
beschnupperte es das Geschenk, dann machte es sich ans verspeisen, wobei es mit
wild hüpfenden Pausbacken daran knabberte.

    „Wie soll ich Mutter nur
erklären, dass ich mir in die Hosen gemacht habe?“ fragte ich das Tier, ohne
wirklich eine Antwort zu erhoffen. Als das Eichhörnchen die Rosine gefressen
hatte, musterte es den Beutel in meiner Hand und gerade als ich ihm eine
weitere geben wollte, sprang es wie vom Blitz getroffen hoch und packte mit
seinen Zähnen den Beutel. Ich war derart fassungslos, dass es dem Tier gelang,
mir den gesamten Beutel zu entreissen und damit zu fliehen. Geschickt sprang es
über die Büsche und verschwand im Wald.

    „Gemeines Vieh!“ schrie
ich und eilte ihm hinterher. Nur wenige Meter vom Weg entfernt sass das
Eichhörnchen auf einem Baumstumpf. Den Beutel hatte es nicht mehr zwischen den
Zähnen sondern provokant neben sich stehen.

    „Verschwinde!“ brüllte
ich es an und klatschte in die Hände. Das Tier blickte mich verständnislos an
ehe es sich weiter in den Wald zurückzog. Den Beutel liess es auf dem Baumstumpf
zurück. Rasch ging ich zur Stelle, wo das Tier eben noch sass und griff nach
dem Beutel, um möglichst schnell wieder auf den Weg zu kommen. Die Wut über den
Diebstahl hatte mich so übermannt, dass ich völlig vergessen hatte, dass ich
mich im Wald befand, wenngleich auch nur wenige Meter vom Weg entfernt.
Ich machte also kehrt und ging wieder zum Weg zurück. Dies war der Augenblick,
als die Dünne Kette, an der mein zartes Kindergemüt hing, erste Risse bekam.

    Der Weg war verschwunden.

    Als ich durch die dunklen
Sträucher schritt, die ich eben noch von der anderen Seite aus betrachtet
hatte, als das Eichhörnchen heraus gewuselt war, befand sich dahinter nichts
als ein endlos scheinender Wald. Ich war fassungslos. Es musste die falsche
Richtung sein. Erneut machte ich kehrt und lief diesmal in auf die andere Seite
des Baumstumpfes. Ich geriet ebenfalls in eine Sackgasse. Der Weg war nicht da.
Er war verschwunden. Da stand ich also inmitten des alten, bösen Waldes, hatte
mit in die Hosen gemacht und besass nichts weiter als einen Beutel Rosinen und
die Sachen die ich anhatte. Ich hatte fürchterliche Angst und sah mich um. Rund
um mich türmten sich schwarze Bäume auf, deren Kronen den Himmel verdunkelten.
Ihre von Geschwüren bewachsenen Stämme schienen mich mit hasserfüllten Fratzen
anzustarren und der moosige, matschige Boden war so schwarz wie alles hier. So
wie es aussah, roch es auch.

    Alt.

    Böse.

    Ich rannte in fester
Überzeugung, den Waldrand zu erreichen, blind in die modrige Schwärze hinein.
Was auch immer in mich gefahren war, es verhinderte, dass ich mich daran
erinnerte, wie lange ich kreuz und quer durch den Wald gerannt war, ehe ich
schreiend und unter Tränen zusammenbrach. Eine Zeit lang sass ich einfach nur
da, zitterte und weinte mit eng an den Körper gezogenen Beinen. Manchmal rief
ich um Hilfe, doch der böse Wald schien selbst das Geräusch meiner Stimme zu
verschlucken. Wie viel Zeit vergangen war, wusste ich nicht genau, aber
schliesslich gab ich es auf. Ich hatte mich hoffnungslos verirrt und ich wusste
von Mutter, dass der Wald zwar nicht besonders breit, aber enorm lang und
verwinkelt war. Hätte ich einen Kompass bei mir gehabt, hätte ich womöglich den
Weg herausgefunden, da ich wusste, dass unser Dorf im Norden lag. Aber ohne
Kompass konnte ich genau so gut die gesamte Länge des Waldes abwandern und
würde mich nur weiter verirren. Was mir fehlte, war ein guter Plan. Vater hat
mir einmal erklärt, dass Bäche oder Flüsse immer aus einem Wald hinaus fliessen
würden, aber ich konnte hier keines von beiden sehen. Auf den Stammbewuchs der
Bäume war ebenfalls kein verlass. Die schwarzen Riesen waren auf allen Seiten
derart verkrustet und überwuchert, dass es zwecklos war. Urplötzlich war ich
der Überzeugung, dass ich in diesem Wald sterben würde und erneut machte sich
Panik in mir breit. Dies war einer der Augenblicke, der mich bis in die
Gummizelle verfolgen würde, doch es war erst der Anfang. Ich ass wenige der
Rosinen, da ich nicht wusste, wie lange ich ohne Nahrung auskommen würden müsste,
aber daran mochte ich gar nicht denken. Es war später Nachmittag und die Sonne
schien. Dennoch war es bereits jetzt finsterer in diesem Wald, als mir lieb
war. Nicht auszurechnen, wie eine Nacht hier sein musste.

    Während ich darüber
nachdachte, wie ich diesen Albtraum überstehen konnte, begann ich wieder zu
weinen und hörte nicht mehr auf. Die Tatsache, dass ich in meiner eigenen
Scheisse und Pisse sass, machte es nur schwerer. Ich hatte schreckliche Angst
und ich vermisste meine Mutter. Nichts wäre mir lieber gewesen, als mein
weiches Bett zu Hause, aber ich lag nicht in meinem Bett, sondern sass auf dem
fauligen Waldboden. Schliesslich weinte ich mich in den Schlaf. Ich träumte von
weiten Wiesen und Feldern an einem Herbsttag. Dabei lief ich wie der Wind und
zog einen Papierdrachen in die Lüfte. Mutter war auch da und wir lachten und
genossen das herrliche Wetter. Eine milde Briese fegte über mein Gesicht und
ich sah Mutter, wie sie mich anlächelte und der Drachen stieg höher und höher.

 

Ich erwachte
mitten in der Nacht.

    Totale Finsternis.

    Schwüle, modrige Wärme.

    Obwohl meine Augen weit
geöffnet waren, konnte ich rein gar nichts erkennen. Würde man sich um
Mitternacht, bei Neumond in einem fensterlosen Raum, der unzählige Meilen unter
dem Boden lag, aufhalten und zudem noch eine Augenbinde tragen, könnte man
beinahe erahnen, wie dunkel sich der Wald um mich herum auftürmte, als wollte
er mich auf eine grausige Art und Weise selbst in Dunkelheit verwandeln. Mein
Gesicht klebte an etwas schleimigen. Ich stiess einen heiseren Schrei aus und
fegte das Etwas von meinem Gesicht. Modrige Pilze vielleicht. Völlig ausser
Atem stellte ich mir vor, dass der verrottende Waldboden mit mir verwachsen
würde und ich schoss in die Höhe, blickte um mich und sah nur sattes Schwarz.
In meiner Angst stolperte ich über etwas und viel zu Boden, wo ich mit einem
ekelerregenden Platschen erneut in einer weichen, organischen Masse landete,
die über die Jahrhunderte am verrotten war. Schnell stiess ich mich mit den
Händen ab und griff dabei in den zerfliessenden Unrat und versank bis zu den
Ellbogen darin. Schreiend riss ich mich davon los, nicht in der Lage, die
schmatzenden Geräusche der Schlacke in der ich steckte, noch weiter zu
ertragen. Blind rannte ich durch den Wald, stürzte immer wieder und zerkratze
mir Arme, Beine und Gesicht, aber ich wollte einfach nur weg. Als ich wild um
mich schlagend mit dem Fuss gegen eine Wurzel prallte, konnte ich mein
Gleichgewicht nicht wieder finden und stürzte. Nur stürzte ich diesmal nicht in
ein verfaulendes Etwas, sondern überschlug mich mehrmals, als ich in der
Finsternis eine Böschung hinunter fiel. Am Fusse dieser Absenkung landete ich
wie erwartet auf einer sumpfigen Fläche und blieb liegen. Nun hatte ich alle
Hoffnung verloren. Mir war zum Schreien zumute, aber ich brachte keinen Ton aus
meiner Kehle. Wozu wäre das denn noch gut gewesen? Während ich auf dem Rücken
lag und langsam meine Augen schloss, konnte ich hören, wie es sich mir näherte.

    Knack!

    Knick, knack, raschel!

    Meine Augen sprangen auf.
Ich war nicht mehr allein. Etwas hatte sich unmittelbar neben mir in Bewegung
gesetzt und diesmal war ich mir ziemlich sicher, dass es kein Eichhörnchen war,
denn ich konnte sein kehliges, gurgelndes Atmen hören. Es war ein tiefes,
rasselndes Geräusch, das sich so grollend anhörte, wie die Rohre einer defekten
Toilettenspühlung. Schaudernd stellte ich mir den Ursprung dieses Geräusches
vor und auch den Rachen, der dazu gehören musste. Gelähmt vor Angst blieb ich liegen,
hoffend, dass Es ebenso wenig sah, wie ich selbst und mich vielleicht nicht
bemerken würde, wenn ich ruhig liegen blieb. Lange zeit horchte ich in die
Dunkelheit hinein und hörte nicht das leiseste Geräusch, aber ich wurde das
Gefühl nicht los, dass ich beobachtet wurde und mein Körper verkrampfte sich
vor Furcht. Die Sekunden schienen sich über Jahre hin zu erstrecken und jede
einzelne davon war eine unerträgliche Tortur. Nichts wäre gnädiger gewesen, als
eine Ohnmacht, doch sie war mir nicht vergönnt. Also blieb ich liegen und
versuchte mich zu beruhigen, indem ich an Mutter dachte.

    Sie hatte einmal zu mir
gesagt, dass ich der liebste Junge auf der ganzen Welt sei. Damals hatte sie
mit mir den Rummelplatz besucht, der in unser Dorf gezogen war. Viele
Karusselle waren aufgebaut worden und es gab Süssigkeiten und Spielsachen.
Mutter hatte mir damals ein ferngesteuertes Auto geschenkt – das schönste
Spielzeug, das ich jemals bekommen hatte. Sie hatte es mir geschenkt, weil sie
eben der Auffassung war, ich wäre der liebste Junge der Welt und ich hatte sie
umarmt und mich so sehr an dem Spielzeug gefreut. Noch mehr Freude hatte ich
aber empfunden, weil sie es mir gegeben hatte. War ich der liebste Junge der
Welt, so war sie für mich auch die beste Mutter der Welt. Damals hatte ich viel
mit dem ferngesteuerten Auto gespielt und Mutter hatte mir dabei zugesehen und
gelacht.

    Als ich mich daran
erinnerte, brachte ich sogar ein Lächeln zustande und vermutlich hat die
Kreatur gespürt, wie sich meine Gesichtsmuskeln bewegten. plötzlich geschah
alles sehr schnell.

    Ich wurde am Bein gepackt
und in die Höhe gerissen. Eine weitere Hand, die unmöglich von einem Tier hätte
stammen können, packte mich mit aller Gewalt an meinem Arm und wirbelte mich
herum, liess wieder los und ich schlug bäuchlings auf dem Boden auf. Für einen
Moment raubte mir der Aufprall den Atem. Ich versuchte keuchend aufzustehen
doch der Angreifer befand sich bereits über mir und drückte mich mit seinen
langfingrigen Händen nach unten. Ich konnte seine Haut spüren, die glitschig an
meinem Arm rieb und sich anfühlte, wie ein alter Käse, der lange Zeit im
Kühlschrank vergessen angefangen hatte zu schwitzen. Ich schrie auf und zeitgleich
schlug die Kreatur nach mir. Ein brutaler hieb traf mich an der Schulter und
zeitgleich ging mir die Kreatur mit der anderen Hand an die Gurgel und drückte
meinen Kopf auf den feuchten Boden.

    Ich röchelte nach der
immer knapper werdenden Luft, während sich das Biest über mich hermachte. Die
Atmung dieser Bestie ging schneller, beinahe erregt und rasselte über meinem
Gesicht. Sein Kopf war unmittelbar über meinem und es hielt mich nun mit beiden
Händen, mit denen es meine Handgelenke gepackt hatte, am Boden gedrückt,
während ich seinen heissen, stinkenden Atem auf meinem Gesicht fühlte. Die
Kreatur schien zu knurren und fixierte mich nun mit ihrem gesamten
Körpergewicht auf dem Boden. Dabei beschnupperte es mich und ich konnte fühlen,
wie etwas schwammig Nasses über mein Gesicht strich. Zweifellos war es die
lange Zunge der Bestie. Erneut versuchte ich zu schreien, brachte aber nur ein
heiseres Krächzen zustande.

    Es musste sich um einen
Albtraum handeln. Ich würde jeden Augenblick schweissgebadet in meinem Zimmer
erwachen und Mutter käme herein und würde mich trösten. Doch ein Erwachen war
mir nicht vergönnt. Ich war dieser unmenschlichen Kreatur schutzlos
ausgeliefert, die damit begonnen hatte, beunruhigend an meinem Hals zu lecken.
Dabei stiess es die unwirklichsten Geräusche aus, die allesamt kehlig und
knurrend aus ihm herausbrachen. Ich war mir sicher, dass es in den nächsten
Augenblicken damit anfangen würde, mit spitzen Zähnen und Krallen das Fleisch
aus meinem Körper herauszureissen und mich langsam auffressen würde, während
ich noch am leben war.

    Etwas zischte durch die
Luft. Das Monster liess von mir ab und bäumte sich zornig brüllend auf. Ich
werde dieses Geräusch nie vergessen, so ganz und gar fremd, so unbegreiflich
nicht menschlich. Ein weiteres Zischen erklang und erneut musste ich den Schrei
der Kreatur hören. Es zischte noch drei Mal und schliesslich hörte ich, wie das
Monster neben mir zu Boden fiel und nach Atem rang, während es beinahe
verzweifelt Knurrte und Stöhnte. Rein Zufällig glitt meine Hand dabei über
seine Haut und ich fühlte, dass etwas Hölzernes in der Kreatur zu stecken
schien. Möglicherweise ein grosser Pfeil oder Speer. Das hätte zumindest das
Zischen erklärt. Wütend knurrend, aber offensichtlich erschöpft und schwer
verletzt, entfernte sich die Kreatur von mir und bald herrschte wieder die
unheimliche Stille, die bereits vor dem Angriff geherrscht hatte. Endlich war
mir eine Ohnmacht vergönnt. Ich sackte zusammen und war weg.

 

Als ich
wieder zu mir fand, war es wieder Tag. Zu meinem Unglück befand ich mich noch
immer im Wald, jedoch war es nun wieder möglich, etwas zu erkennen. Zuerst
bemerkte ich meine Schmerzen. Die Arme taten mir weh und was eben noch wie ein
böser Traum schien, schoss mir erneut durch den Kopf. Es hatte mich an den
Armen festgehalten, als es sich an meinem Fleisch laben wollte. Rasch blickte
ich um mich, konnte aber zu meiner Erleichterung nichts von der Kreatur
erkennen, die mich vergangene Nacht überfallen und zu töten versucht hatte. Ich
war darüber sehr froh, denn es wäre wahrscheinlich noch viel schwerer zu
ertragen gewesen, wenn ich gewusst hätte, wie diese Bestie aussehen würde. Rund
um mich waren noch die Spuren des Kampfes zu erkennen. Der matschige Boden war
eingedrückt und aufgewühlt wie ein frisch gepflügtes Feld. Stellenweise konnte
ich an den Bäumen, die mich umgaben, Kratzspuren sehen. Es waren immer drei
Kratzer, die parallel zueinander verliefen. Ein Schauer durchlief mich, als ich
mir die Hand vorstellte, die solch tiefe Wunden verursachen konnte. Als ich an
mir herabblickte, bemerkte ich, dass auch ich Kratzer an armen und Beinen
hatte, jedoch die meisten davon von Ästen und Dornen stammten und nicht von der
Pranke des Monsters. Kaum auszurechnen, was die Kreatur mit mir hätte anstellen
können, aber ich vermutete, dass sie mir mit ihren scharfen Krallen ohne Mühe
das Fleisch hätte von den Knochen schälen können. Verängstigt dachte ich an die
höllischen Schreie und das Wehklagen des Biestes zurück und mir wurde klar,
dass ich doch noch ein Quäntchen Glück besass, in der ohnehin schon hoffnungslosen
Situation, allein in diesem verfluchten Wald zu verbleiben.

    Etwas weiter links von
mir lag ein Pfeil im Unrat. Sofort erinnerte ich mich wieder an das Zischen der
Luft. Der Pfeil wies eine ungefähre Länge von 50 Zentimetern auf und seine Spitze
schien metallisch zu sein. Eine dunkle Kruste klebte daran, vermutlich das Blut
der Bestie. Mir wurde plötzlich klar, dass mir jemand das Leben gerettet hatte
und ich war heilfroh darüber, obwohl ich mich noch gut erinnern konnte, bereits
aufgegeben zu haben. Der Drang eines jeden Menschen, das unvermeidbare zu
bekämpfen schenkte mir wieder Hoffnung. Ich war nicht allein in diesem Wald und
was immer diese Pfeile auf das Untier geschossen hatte, schien freundlicher
Natur zu sein. Dennoch war meinem wachen Kinderverstand eine Tatsache nicht
entgangen. Die Pfeile hatten trotz der undurchdringlichen Finsternis ihr Ziel
gefunden, selbst der, der vor mir auf dem Boden lag und den die Kreatur wohl
aus ihren durchbohrten Muskeln gezogen hatte. Blieb die Frage, wer oder was bei
solch einer Dunkelheit in der Lage war, mehrere Pfeile so zielgenau zum Einsatz
zu bringen. Vater hatte mir einmal erklärt, dass blind geborene Menschen ihre
Umgebung genau so gut wahrnehmen würden, wie die sehenden, weil ihre anderen
Sinne enorm geschärft seien. Es war unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich,
einen Pfeil in der Dunkelheit zum Ziel zu bringen, oder auch mehrere, wenn man
sich an den Geräuschen orientierte, aber das Biest hatte sich die ganze Zeit
dicht an mich gedrängt und ich hätte selbst zum Ziel werden können. Mich blind
zu verfehlen, wäre sehr unwahrscheinlich gewesen. Ich war mir sicher, dass der
Schütze gesehen hatte, worauf er schoss. Folglich musste es sich auch
beim Schützen um etwas Fremdes gehandelt haben. Nichts desto Trotz hatte man
mich gerettet und dieser Schütze war eine Chance, aus dem Wald zu gelangen,
oder zumindest länger darin zu überleben. Immerhin war die Kreatur zwar massiv
getroffen worden, hatte aber doch die Flucht ergriffen. Ich stand auf und nahm den
Pfeil mit mir. Es war besser um mich bestückt, wenn ich eine Waffe – wenngleich
auch eine primitive – bei mir hatte. Würde mir die verletzte Monstrosität über
den Weg laufen, so könnte ich mich wenigstens verteidigen und wenn das Wesen
stark genug verletzt wäre, es vielleicht sogar unschädlich machen. Schliesslich
fasste ich allen Mut und die Hoffnung zusammen und ging weiter durch den
schrecklichen Wald, der  offenbar
schreckliche Geheimnisse in sich trug. Mir war damals noch nicht klar, dass es
für einen erwachsenen Menschen kaum nachvollziehbar gewesen wäre, dass ich den
Verstand nicht verloren hatte. Aber ich war ein Kind und als Kind war man immer
bereitwillig genug, gewisse Dinge einfach zu glauben und sie zu akzeptieren.

    Bei meinem Weg durch den
fürchterlichen Wald dachte ich über verscheidende Dinge nach. Einerseits wollte
ich, obwohl ich mich zu Tode geängstigt hatte, wissen, was mich letzte Nacht
angegriffen hatte. Was mich aber weit aus mehr interessierte, war der Schütze.
Ich war mich nicht sicher, aber ich ging davon aus, dass er sich in meiner Nähe
aufhalten musste. Schliesslich war er flott zur Stelle gewesen, als ich nachts
mit dem unbekannten Wesen zusammen gewesen war. Ob mich der Bogenschütze
begleitete? Vielleicht war er ein Held, ein Abenteurer wie in meinen
Comicheften, einer dieser jungen Männer, die sich nach der Herausforderung
sehnten. Ich versuchte ihn mir vorzustellen, wie er allein in dem Wald steht
und stolz lächelt, gekleidet ein eine Rüstung mit Cape und bewaffnet mit Pfeil
und Bogen, als wäre er der Fleisch gewordene Robin Hood. Dann stellte ich mir
vor, er wäre ein weiser alter Mann mit weissem Bart, der Hüter des Waldes und
ein Beschützer der Unschuldigen, insbesondere der im Wald verirrten Kinder.
Möglicherweise war der Schütze einst selbst ein Kind gewesen, das vom Weg durch
den Wald abgekommen war und seither hier lebte und die Unglücklichen vor dem
Scheusal rettete. Das Scheusal, das in den Wäldern auf frisches Fleisch
lauerte, ein namenloses Etwas, heimtückisch, voller Bosheit und unendlich alt.
In Gedanken versunken achtete ich nicht, wohin ich trat und ehe ich es sah, lag
ich bereits wieder mit dem Gesicht im Dreck.

    Es war kaum zu erkennen,
aber ich sah es genau. Immerhin hatte es mich zu fall gebracht. Aus dem sumpfigen
Boden ragte ein würfelförmiger Stein, dessen Seiten mit merkwürdigen Zeichen
versehen waren. Genau betrachtete ich das gefundene Objekt und versuchte es zu
bewegen. Es war völlig im Boden fixiert, vermutlich die Spitze einer steinernen
Säule. Die Schrift konnte ich nicht lesen, aber ich erkannte deutlich einen
eingemeisselten Pfeil. Mein Herz schlug wie wild. Ich hatte womöglich einen
Wegweiser entdeckt.

    Der Pfeil wies in eine
mir unbekannte Richtung, aber das war egal, da mir hier alle Richtungen absolut
unbekannt waren. Von Bedeutung war lediglich, dass es sich um eine Richtung
handelte, vielleicht nicht aus dem Wald hinaus, aber vermutlich auch nicht ohne
Destination. Ich ging weiter in der Richtung, die der Stein mir wies und etwa
nach hundert Metern, entdeckte ich einen weiteren solchen Stein. Das Gelände
fiel hier leicht ab und diesmal war der Stein deutlich höher als breit und
tief. Es musste sich tatsächlich um Säulen handeln, die hier eingegraben worden
waren – oder überwachsen von Schlamm und schwarzem Geäst. Wieder war ein Pfeil
eingraviert und ich ging weiter auf Kurs. Nach drei weiteren Säulen, die nun
fast zwei Meter in die Höhe ragten, kam ich schliesslich an einen Weg.

    Der Weg war anders, als
der, der von meinem Dorf zum Nachbardorf führte. So wurde er nicht aus Schotter
gefertigt, sondern bestand aus grossen Steinplatten, die zusammen ein etwa
einen Meter breites, grobes Mosaik aus Grautönen ergaben. Verwunderlich war die
Tatsache, dass der Weg völlig sauber war. Nur wenige Äste lagen darauf, aber
kein Schlamm oder sonstiger Unrat. Ausserdem begann dieser Weg genau an der
Stelle, wo ich jetzt stand.

    Ich liess meinen Blick in
die Ferne schweifen, wo ich sah, dass sich der Weg über eine sehr lange Strecke
durch den unliebsamen Wald führte, wie eine Steinerne Schlange inmitten der
Finsternis. Ich vergass Hunger und Durst augenblicklich und betrat den
steinernen Weg. Es war eine Wohltat auf festem Boden zu gehen, wo keine Wurzeln
darauf warten, dass man mit dem Gesicht nach unten in einer Pilzkultur zu
liegen kommt. Gleichzeitig bedeutete dieser Weg auch Hoffnung, Trost und vor
allem konnte dieser Weg in meiner Lage auch Leben bedeuten. Mein Mut war völlig
wiederhergestellt und ich ging schnellen Schrittes dem unbekannten Ziel
entgegen.

 

Stunden waren
vergangen und es dunkelte bereits wieder. Der Weg hatte sich unbeirrt durch den
Wald geschlängelt und der Marsch zehrte an meinen Kräften. Die Rosinen hatte
ich während des Angriffes verloren und Essbares gab es hier nicht. Gelegentlich
passierte ich Säulen, die links und rechts vom Weg in die Höhe ragten und oft
ging ich auch unter steinernen Viadukten hindurch, die sich mit gotischer Anmut
über mir schlossen wie freistehende Türrahmen eines sehr alten Domes. In
manchen Vertiefungen dieser Gemäuer hatte sich von vergangenen Regengüssen
Wasser gesammelt und obwohl es scheusslich abgestanden schmeckte, trank ich es
in vollen Zügen aus. Ich wusste, dass ein Mensch zwar längere Zeit ohne Nahrung
existieren kann, aber nicht ohne Wasser und folglich war es mir auch recht,
wenn ich altes Wasser von einem noch älteren Stein lecken musste, um mich bei
Kräften zu halten. Auf diese Weise hielt ich lange genug durch, um schliesslich
bei einem Gemäuer anzukommen. Dabei handelte es sich um eine eingestürzte
Mauer, die an ihrer höchsten Stelle etwa fünf Meter mass. Der Weg führte durch
diese Mauer und durch ein mit Schriftzeichen verziertes Viadukt hindurch. Links
und Rechts konnte ich die Überreste zweier Gebäude erkennen, die vermutlich
Wachtürme oder dergleichen gewesen waren. Nun waren davon lediglich noch die
Grundmauern übrig, zwei Steinquadrate, gerade mal einen halben Meter hoch. Ich
blickte mich um und wusste, dass es in wenigen Minuten bereits wieder absolut
Finster sein würde und beschloss, hier Rast zu machen. Dazu legte ich mich in
das Mauerwerk rechts vom Weg. Der Boden war hart, aber wesentlich willkommener
als ein weiterer Haufen Unrat. Ich hatte eine Nacht in Pilzen und vergammelndem
Holz zugebracht und es sollte bei einer Nacht bleiben. Endlich hatte ich Zeit,
eine Situationsaufnahme zu machen. Meine sämtlichen Gliedmassen waren
zerkratzt. Zudem stank ich wie eine Fuhre Hundescheisse, wegen des
unglücklichen Zwischenfalls mit dem Eichhörnchen. Meine Kehle Brannte und mein
Magen knurrte. Ausserdem tat mir der Kopf weh und die Muskeln in meinen Beinen
spannten sich unter der zerkratzten Haut. Am schlimmsten war jedoch der Dreck.
Ich war von oben bis unten voller Schlamm, Pilzen, Moos und undefinierbar
modrigem Unrat. Hätte mich Mutter derartig mit Schmutz verschmiert gesehen, so
wäre sie bestimmt in Ohnmacht gefallen. Bei dem Gedanken an Mutter bekam ich
wieder Hoffnung. Ich war mir ziemlich sicher, dass sich dieser Weg etwas
zivilisiertem nähern würde. Ich war den ganzen Tag darauf gegangen, die Säulen
und Viadukte hatten dabei immer viel versprechender ausgesehen und jetzt lag
ich in einem Bauwerk. Zugegeben, es war zerstört, aber es war ein Bauwerk, ein
Teil der zivilisierten Welt, die ich kannte und so sehr vermisste. Dann schlief
ich ein.

    In meinem Traum flog ich
dahin über den Wolken der Sonne entgegen. Die Luft war warm und fegte angenehm
über mein Gesicht. Mit ausgebreiteten Armen blickte ich auf die Welt unter mir,
sah Häuser, Felder und alle Menschen, die ich erblickte, winkten mir zu und
riefen meinen Namen. Elegant Kreiste ich über wunderschönen Städten aus
Kristall, die in der Sonne funkelten wie Diamanten. Anmutige Menschen in
weissen Gewändern zogen durch die hellen Strassen dieser Städte und blickten
hoch zu mir, wie ich mit der Agilität eines Adlers über ihren Köpfen
emporstieg, den Weiten entgegen. Ich flog auch über unser Dorf und blickte zu
Mutter herab, die mich mit ihrem warmen Lächeln ansah, so schön, so verträumt.
Eine milde, orange Sonne verwandelte das Tal in ein Märchen aus Gold und
Kristall und während ich zur Erde herabschwebte, Mutter entgegen, rief die
Stimme des Windes meinen Namen.

    Frei von jedem Gewicht
setzte ich auf dem Boden auf und trat vor Mutter. In meiner Hand hielt ich den
Beutel mit den Rosinen und reichte ihn ihr hin. Sie dankte mir und sagte, ich
wäre wirklich der liebste Junge in der ganzen, weiten Welt. Dann umarmten wir
uns und sie gab mir einen Kuss auf die Wange. Bei ihr zu sein war des Lebens
schönster Lohn und ich lächelte übers ganze Gesicht. Ich war zu Hause. Mr.
Smith kam hinzu und strich mir mit der Hand durchs Haar. Fröhlich sah er mich
an und sein Schnurrbart verzog sich über seinem bärigen Lächeln. Auch Papa war
da. Er kam auf mich zu und lachte mir entgegen. Durchs Fenster konnte ich
Grossmutter sehen, die mir ebenfalls zulächelte und bereits den Teig ihres
leckeren Kuchens vorbereitete, während sie auf die Rosinen wartete. Ich nahm
Mutters Hand und gemeinsam gingen wir auf das Haus zu, während mein Blick
langsam nach links unten abglitt, obwohl ich da nicht hinsehen wollte. Ich
wollte es nicht sehen, nein, ich wollte es um keinen Preis der Welt sehen, doch
mein Kopf drehte sich ohne meinen Einfluss immer weiter nach links.

    Die Zeit schien sich zu
verlangsamen und gemächlich zogen auch Schwarze Wolken am Himmel auf, als ich
es schliesslich erblickte. Es war ein totes Eichhörnchen. Das leblose Tier lag
starr auf dem Rasen, den Mund zu einem grotesken Grinsen verzerrt und starrte
mich mit leeren Augen an. Dann brach die Zeitstille und der Boden riss auf.
Mutter schrie. Schwarze Bäume schossen aus dem Boden, entfalteten ihre Blätter
und drängten sich dicht an dicht. Rund um mich geschah dasselbe. Ich wollte
aufsteigen, wieder fliegen um dem schrecklichen Ereignis zu entkommen, breitete
meine Arme aus und begann damit zu wackeln. Langsam erhob ich mich in die Luft,
aber nach wenigen Metern verlor ich an Höhe, glitt auf  den Boden zurück, der immer schwärzer und
verfaulter wurde. Immer wieder versuchte ich wegzufliegen, doch die schwarzen
Bäume schlossen mich immer mehr ein. Wurzeln und knorriges Geäst schlangen sich
um meine Fussgelenke und zogen mich bis zu den Hüften in den Morast, wo sie
mich unbarmherzig festhielten. Dann war es vorbei. Ich war wieder im Wald und
alle waren weg. Mutter, Vater, Grossmutter und Mr. Smith waren einfach
verschwunden, wie auch das gesamte Dorf. Doch ich war nicht allein. Ich sah
geradeaus und erkannte, wie ein massiges Etwas auf mich zu rannte. Ein Schatten
in der Dunkelheit. Immer näher kam die Bedrohung und ich war wehrlos im Boden
verankert. Kein Zischen von Pfeilen war zu hören und kein Held mit Cape
erschien mit gezogenem Schwert. Da waren nur ich und der Schatten und der Wald,
der uns umgab mit all seiner alten Boshaftigkeit. Als ich wieder nach vorn
blickte, sah ich, wie der Schatten mit einer riesigen Klaue zum Schlag ausholte
und ich konnte nur noch schreien und wahnsinnig werden.

    Ich erwachte aus dem
Traum und schoss sofort hoch. Mein belastetes Herz raste erneut und schlug mir
bis zum Hals. Mein Atem rasselte und mir brannten die Augen. Wieder war es um
mich herum stockfinster geworden. langsam ertastete ich meine Umgebung und
fühlte dabei die Mauern, die mich umgaben. Es war schwer sich vom Traum zu
lösen, wenn man an einem solchen Ort erwacht. Mit der anderen Hand suchte ich
den Pfeil, den ich vor dem Schlaf neben mich gelegt hatte. Der Pfeil lag noch
an Ort und Stelle. Ich nahm ihn fest in die Hand, fühlte mich deswegen aber
keineswegs sicher. Der Traum hatte mich völlig verstört und ich war noch immer
so sehr ausser  Atem, dass meine Lungen
schmerzten. Ich setzte mich auf und wollte aufstehen, dabei Tastete ich mich
der Mauer entlang nach oben, als ich mit meiner Hand plötzlich auf etwas
Fleischiges stiess. Noch bevor ich es realisiert hatte, war es bereits zu spät.
Mit einem unmenschlichen, erschütternden Schrei ging das Biest auf mich los,
riss mich mit seinen enormen Kräften auf den Boden und kam über mich.

    Mein ansetzender Schrei
erstickte sofort, als mir das Biest mit einer Klaue an die Gurgel ging und
zudrückte. Ob es dasselbe Monster wie vergangene Nacht war, wusste ich nicht,
aber falls dem so war, hatte es sich erstaunlich schnell wieder erholt.
Scheinbar hatte es gelernt, keine Zeit zu vertrödeln und ich fühlte, wie sich
spitze Zähne wie kleine Dolche in meiner Schulter vergruben. Ich trat nach dem
Angreifer, mobilisierte alle Kräfte und rammte den Pfeil mit voller wucht in
das stinkende Fleisch der Bestie. Diese öffnete ihre Kiefer und schrie lauthals
auf. Es tat höllisch weh, als es seine Zähne wieder aus meinem Körper zog und
ich fühlte, wie etwas Warmes, Dickflüssiges über meine Haut floss. Dann geschah
etwas Unerwartetes. Ich wurde wütend, weil mich das Untier verletzt hatte, zog
den Pfeil aus dessen Körper und stiess erneut zu, wieder und wieder. Dabei
schrie die Bestie wie am Spiess und Fauchte mich wütend an, wobei sein heisser,
schwefliger Atem mich würgen liess. Gerade als mein Körper genug Adrenalin
produziert hatte um mich vollends auf die angreifende Bestie zu stürzen, wurde
ich brutal an der Hüfte getroffen und gegen die Mauer geschleudert, wo ich erst
einmal liegen blieb. Benommen horchte ich in die Finsternis, doch es war wieder
zu spät. Das Monster stürzte sich schreiend und fauchend auf mich und drückte
mich mit seinen Klauenhänden auf den Boden. Dabei bemerkte ich, dass ich den
Pfeil verloren hatte und es war im selben Augenblick, als die Kreatur über mir
begann ein weiteres Geräusch von sich zu geben. Es lachte. Das Geräusch war so
ganz und gar unnatürlich, dass ich davon sofort erstarrte. Wenn Hunde Sprechen
könnten, dann würde es sich weit weniger surrealer anhören, als dieses nicht
menschliche Lachen.

    „Was willst du von mir?“
fragte ich und war überrascht, den Klang meiner eigenen Stimme in der
Finsternis hörte. Anstatt einer Antwort fauchte mich das Biest nur noch
heftiger an und gerade als ich mich aufgegeben hatte, hagelten die Pfeile aus
allen Himmelsrichtungen auf meinen Angreifer ein. Sofort liess stiess es mich
unter sich weg und wollte fliehen, doch diesmal hatte es keine Chance. Ich
hielt den Kopf unten und hörte mit an, wie das Vieh unter entsetzlichen
Schreien im Pfeilhagen sein Leben aushauchte und schliesslich mit einem
unappetitlichen, schmatzenden Geräusch auf den Boden aufschlug, wo es unmittelbar
neben mir an seinen Wunden starb. Um mich zu vergewissern, dass es auch
wirklich tot war, griff ich in die Dunkelheit und ertastete den toten Körper.
Seine Haut war nun mit klebriger Flüssigkeit verschmiert und während ich
angewidert mit der Hand über seine schleimige Haut glitt, bemerkte ich immer
wieder die Pfeile, die sehr tief im Fleisch steckten. Das Mistvieh war
regelrecht mit Pfeilen gespickt worden, aber es regte sich nicht mehr. Nicht
der leiseste Atemzug war zu vernehmen und schliesslich zog ich meine Hand
zurück und wischte sie an meiner Hose ab, wo sein Blut zu einem weiteren
Schmutzfleck verkrusten würde. Dann versuchte ich aufzustehen. Meine Schulter,
wo mich die Bestie mit den Zähnen erwischt hatte brannte wie Feuer und ich
malte mir aus, wie stark ich bluten musste. Trotz der Schmerzen gelang es mir,
mich von dem einen zerstörten Wachturm zum anderen zu tasten, wo ich
schliesslich erschöpft auf den Boden sank und flach atmend liegen blieb. War
dies mein Ende? würde ich auf diese Art und Weise an jenem Fremden Ort sterben?
Würde man mich eines Tages finden? Ich stellte mir das Bild vor, wie eine
Expedition von Wissenschaftlern einst hier her kommen würde und die Wachtürme
vorfänden. In dem einen würden sie mein Skelett vorfinden und in dem anderen
die Reliquie eines Fleisch gewordenen Albtraums. Dann fiel ich in eine noch
tiefere Dunkelheit als die des Waldes.

 

Mein Leben
hatte ich nicht verloren. Als ich erwachte, fielen mir zwei Dinge auf. Zum
einen war meine verletzte Schulter sauber eingebunden und zum anderen stand
neben mir eine Schale mit Trauben und eine Flasche mit einer dunkelroten
Flüssigkeit darin. Ohne zu überlegen griff ich nach der Flasche, öffnete sie
und ehe ich mich versehen hatte, war sie zur Hälfte leer. Frischer Traubensaft
verwöhnte meine geschundene Kehle und ich griff nach den roten Trauben in der
Schale. Sie schmeckten wunderbar und wiesen praktisch keine bitteren Kerne auf.
Bald schon waren Schale und Flasche leer und ich betrachtete den Verband an
meiner Schulter. Es war ein feiner Stoff, der fachgerecht angebracht worden
war. Gewiss stammte die Bandage von dem Bogenschützen, wobei ich mir nicht mehr
sicher war, ob es sich dabei nur um eine Person handeln würde. Immerhin waren
die Pfeile von allen Seiten in den Körper der Bestie eingedrungen. Also gab es
in diesem Wald Menschen oder Wesen, die mich beschützten und mir halfen, wenn ich
in der Klemme steckte. Die Nahrung und der Traubensaft, sowie auch das
verbinden meiner Wunde waren ein Zeichen der Freundschaft, ein Zeichen der
Fürsorge. Doch wer waren meine Freunde? Und wer war mein Feind?

    Plötzlich wurde mir klar,
dass die tote Bestie noch unmittelbar in meiner Nähe liegen musste. Innerlich
entbrannte ein Kampf. Einerseits wollte ich es sehen, andererseits fühlte ich,
dass ich den Anblick dieses Monstrums nicht ertragen würde. Ich fürchtete,
augenblicklich meinen Verstand zu verlieren, sollte ich es zu Gesicht bekommen.
Dann erinnerte ich mich daran, wie wütend ich gewesen war, als ich auf die
Bestie eingestochen hatte und schliesslich gewann die Neugierde die Oberhand
und ich stand auf. Bemerkenswert war, dass ich enorm bei Kräften war, was wahrscheinlich
an der Mahlzeit lag, die ich gerade gegessen hatte. Ich stand auf und ging
langsam auf die benachbarte Turmruine zu. Ich schloss meine Augen und tastete
mich bis zu den Grundmauern des Turmes durch, wo ich erst einmal stehen blieb
und mich noch einmal fragte, ob ich es wirklich sehen wollte und bevor ich mich
noch mehr hintersinnen konnte, öffnete ich die Augen.

    Es war nicht da. Zuerst
war ich froh darüber, aber dann überlegte ich mir, was das zu bedeuten hatte.
Vielleicht war das Monster nicht tot. Vielleicht hatte es sich während ich
schlief davongestohlen und lauerte mir weiter vorn bereits wieder auf. Dann
erkannte ich, dass das Unsinn war. Hätte es überlebt, wäre es bestimmt in der
Nacht zu mir gekommen und hätte mich schliesslich doch noch getötet, um seinen
Heilungsprozess durch frisches Blut zu beschleunigen vielleicht. Am
wahrscheinlichsten war es, dass der oder die Schützen es während ich schlief,
von hier fort gebracht hatten. So musste auch der Verband an meiner Schulter
entstanden sein. Vielleicht waren sie ja noch in der Nähe.

    „Hallo?“ rief ich in die
Düsternis hinein.

    „Ist da jemand?“

    Ich vernahm keine Antwort
aus der Ferne.

    Irgendwie wusste ich
nicht, was ich davon halten sollte. Natürlich war ich froh, dass meine Wunde
versorgt worden war und man mir etwas zu Essen und zum Trinken gegeben hatte,
aber weshalb hatten sie mich nicht gleich mitgenommen?  Schliesslich, als ich keinen Sinn in
weiterem Nachdenken sah, ging ich wieder auf den Steinweg zurück und folgte
diesem weiterhin. Oft fragte ich mich, wie gross dieser Wald wohl sein konnte.
Eigentlich war er doch in knapp zehn Minuten zu durchqueren und doch war dies
bereits mein dritter Tag in dieser unwirklichen Welt voller Dunkelheit,
lauernder Bestien und geheimnisvoller Bogenschützen. Ich war erst neun Jahre
alt und hatte bereits mehr erlebt, als alle abenteuerlichen jungen Männer die
ich aus den Geschichten kannte, wobei ich meine Geschichte, hätte ich sie in
einem Buch gelesen, schlicht und einfach nicht geglaubt hätte. Das Problem mit
Geschichten war, dass die Person, welche sie las, niemals dabei war und
folglich nur erahnen kann, wie schrecklich das sein müsste, in dieser Situation
zu sein. Meine Situation war immer noch dieselbe, von der Mahlzeit und dem
Verband mal abgesehen. Ich hatte mich inzwischen an die surreale Kulisse des
rabenschwarzen Waldes gewöhnt und auch ein plötzlicher Monsterangriff hätte
mich nicht sonderlich überrascht, wenngleich dieser Gedanke auch fürchterlich
war und mir schon allein deswegen eine Höllenangst einjagte, weil ich schon
zwei dieser Attacken hinter mir hatte. Ich fragte mich, ob es vielleicht für
immer so bleiben würde. Ob ich jede Nacht ein Deja Vu erleben müsste, während
sich diese Bestie von mir zu ernähren versuchte. Der Gedanke, immer wieder
nachts aus dem Schlaf gerissen und beinahe zerfetzt zu werden machte mir Angst.
Die Kreatur machte mir Angst.

    Die Zeit verging und ich
gelangte an immer beeindruckendere Bauwerke. So stiess ich etwa auf zwei
weitere Wachtürme, die jedoch im Gegensatz zu meinem letzten Nachtquartier
völlig intakt waren. Allerdings waren sie nicht besetzt. Ich rief zwar hinein,
in der Hoffnung, ein Bogenschütze würde die Treppe heruntersteigen und mich
willkommen heissen, aber die Antwort blieb aus. Auf dem Steinernen weg geriet
ich noch weitere drei Mal an solche Wachtürme, während das letzte Gebäude sogar
sechs dieser Vorposten enthielt. Die gotischen Gemäuer waren mit Figuren und
Symbolen verziert und erinnerten mich an die Bilder von Rom, die mir Vater
immer in Büchern gezeigt hatte. Die meisten Figuren dieser Reliefs zeigten nur
wirre Muster und nichts davon lies auf ihre Erbauer schliessen. Einige von den
Mustern sahen ähnlich aus wie die berüchtigten Kornkreise, die angeblich von
Ausserirdischen hinterlassen wurden, die zufällig mit ihrer Flotte über ein
Maisfeld flogen. Ich war ein Kind und als Kind war ich auch hier bereit, an
Marsmenschen und Kornkreise zu glauben, allerdings bezweifelte ich, dass
Ausserirdische diese Wachtürme gebaut hatten. Bei dem Bauwerk mit den sechs
Türmen stoppte ich meine Reise und betrat den Turm, der am höchsten im Wald
empor ragte. Zu meinem Glück fand ich die hölzerne Tür unverschlossen vor,
während sie ganz einfach von innen mit einem Querbalken geschlossen werden
konnte. Folglich konnte ich mich hier vor weiteren Attacken der Bestie in
Sicherheit bringen. Im inneren des Eckigen Turms führte an den Wänden entlang
eine steinerne Treppe nach oben, wo ich eine Falltür vorfand. Auch diese war
offen und von innen zu verriegeln. Dahinter befand sich ein würfelförmiger
Raum.

    An einer der vier Wände
befand sich ein geschlossenes, vergittertes Fenster, was mich sehr freute, da
die Kreatur auf diesem Weg nicht hineinkommen würde – immer vorausgesetzt, dass
es nebst der getöteten Kreatur noch andere davon gab, was ich stark vermutete.
An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein bezogenes Bett und ich
vollführte einen innerlichen Freudensprung, als ich die weichen Kissen, die
Decke und die Matratze sah. Die Wände waren allesamt mit bezaubernden
Wandteppichen geschmückt, die ebenso kuriose Formen aufwiesen, wie die
Aussenwände der Wachtürme, falls es sich tatsächlich um Wachtürme handelte und
nicht um Gemäuer einer kleinen Burg. Am schönsten war jedoch der Tisch in der
Mitte des Raumes. Eigentlich war es ein gewöhnlicher Holztisch der eine
mittelalterlich anmutende, wirklich massive Tischplatte aufwies, aber sie war
bedeckt mit Schalen voller Früchten und Obst. Daneben standen mehrere Flaschen
verschiedenster Getränke. Alles schien frisch. Und was noch weitaus
beglückender wirkte, waren die Kerzen und die Streichhölzer daneben. Ausserdem
befand sich auf dem Tisch ein goldener Kerzenständer, der platz für acht Kerzen
bot und ein etwa 70 Zentimeter langes, silbernes Schwert mit gerader Klinge.

    Als erstes machte ich
mich über die Lebensmittel her. Äpfel, saftige Pfirsiche, Orangen, Bananen und
weitere vegetarische Köstlichkeiten fielen der Reihe nach meinem unersättlichen
Appetit zum Opfer. Nebenbei trank ich eine honigsüsse, trübe Flüssigkeit von
gelblicher Farbe, die meinen Gaumen verwöhnte. Als ich mich satt gegessen
hatte, steckte ich acht Kerzen in den Kerzenständer und benutzte die
Streichhölzer. Die Kerzen verbreiteten ein schummrig flackerndes, heimeliges
Licht in dem geräumigen Turmzimmer und verströmten einen angenehmen Duft, der
nach Frühling roch. Es war mir ein Rätsel, wie all das hier draussen überhaupt
existieren konnte, aber ich würde im Verlauf meiner Reise noch auf ein weitaus
grösseres Wunder treffen, von dessen atemberaubender Realität ich noch gar
nichts ahnen konnte.

    Während ich still da sass
und die Flammen dabei beobachtete, wie sie das Kerzenwachs zum schmelzen
brachten, dachte ich darüber nach, ob dieser Raum für mich hergerichtet worden
war, oder ob ich bloss zufällig in jemandes Heim eingedrungen war und dem
Besitzer dieser Köstlichkeiten das Abendbrot gestohlen hatte. Als ich mich
jedoch an die Trauben und den milden Traubensaft erinnerte, entschied ich mich,
an die erste Version meiner Gedanken zu glauben. Allerdings war es erneut
seltsam, dass ich zwar nach strich und Faden verwöhnt wurde, jedoch niemand
hier war, um die Situation zu klären, oder mich – was mein innigster
Herzenswunsch war – aus dem Wald zu führen. Vielleicht hatten sich die Schützen
ja selbst in dem Wald verirrt und lebten seither in dieser unwirklich
verwitterten Umgebung, immer im Kampf mit der Schattenkreatur, die auf Beute
lauernd im Unterholz lag, bereit einem jeden das Fleisch von den Knochen zu
nagen. Dann stellte ich mir selbst die Frage, ob die Schützen überhaupt für das
Festmahl im Turm und mein geheimnisvolles Frühstück, sowie den Verband,
verantwortlich waren, oder ob es sich bei dem Gastgeber um eine dritte Partei
handeln konnte.

    Demnach hätte ich es
möglicherweise mit einem oder mehreren Monstern zu tun, zielgenauen
Nachtschützen und guten Seelen, die mir Nahrung und Heilung boten. Die ganze
Geschichte entwickelte sich langsam fantastischer, als dass ich sie hätte ernst
nehmen können, aber genau das tat ich. Dies hatte in meinem Falle weniger mit
kindlicher Fantasie, als mir Tatsachen zu tun, die mich in dieser Situation
stets umgaben. Aber warum? Warum sollten mich Unbekannte in zwei stockfinsteren
Nächten unter dem Einsatz ihres eigenen Lebens vor Schaden durch das Monster
bewahren und sich dann nicht zeigen? Und warum sollten weitere Menschen – oder Wesen
– mir seit ich den Weg betreten hatte mit Verpflegung entgegen kommen und sich
ebenfalls nicht enthüllen? Ich sah mich mit Zusammenhängen konfrontiert, die
ich mit meiner Welt und meinen Erfahrungen unmöglich unter einen Hut bringen
konnte.

    Das einzig vernünftige
Element dieser Geschichte war das Biest, auch wenn es die schrecklichste
Erkenntnis war, die ich in diesem Wald gemacht hatte und noch machen würde. Es
tat genau das, was man von einem Raubtier – und das war es mit Sicherheit,
wenngleich auch völlig abartig – erwarten würde. Es jagte. Ich versuchte nicht
mehr an die Bestie zu denken und rief mir ins Gedächtnis, dass es im Gegensatz
zu mir, die letzte Nacht nicht überlebt hatte. Allerdings war ich mir dessen
nicht völlig sicher, da es ja bereits in der Vornacht dieses Ereignisses schwer
getroffen wurde und niemand konnte mir versichern, dass es in diesem Wald nicht
von diesen Biestern wimmelte und ich womöglich noch Glück gehabt hatte, nur
zweien davon über den Weg gelaufen zu sein.

    Vor meinem inneren Auge
lief ein Film ab, der mir nur zu deutlich zeigte, was es bedeutete, von einer
ganzen Horde dieser Monster überfallen zu werden. Ich visualisierte, wie sie
sich um die letzten Brocken Fleisch stritten, während ihr Opfer immer noch
lebte. Es würde nicht genug Pfeile geben, um einer derartig tollkühnen Blutgier
Herr zu werden. Mir lief es kalt den Rücken hinunter und ich nahm einen roten
Apfel aus der Schale und versuchte nicht an Schneewittchen zu denken, als ich
ein grosses Stück davon abbiss. Nichts war gewiss in diesem Wald.

 

Wenig später
hatte ich es mir in dem bequemen Bett gemütlich gemacht. Durch das vergitterte
Fenster konnte ich nur sehen, dass man draussen nichts mehr zu sehen vermochte.
Die Finsternis hatte sich um das Castel geschlungen wie eine fremdartige,
gigantische Amöbe, welche nie ein lebender Mensch begreifen würde. Auf dem
Tisch flackerten noch immer die massigen Kerzen und versuchten mit ihrem warmen
Licht, die Substanz gewordene Dunkelheit auszusperren, wobei ihr flackernder
Tanz dem Turmzimmer ein gespenstisches Eigenleben verlieh. Ich war ein Kind und
ich war gänzlich allein in einem unbekannten Bauwerk, dass erbaut worden war
von unbekannten Architekten und darüber hinaus noch mitten in einem ebenso
unbekannten Wald ruhte, worin Dinge lauerten, von denen ich nie im Leben auch
nur geträumt hätte – und auch nicht davon zu träumen gewagt hätte.

    Als ich so allein in dem
grossen Bett lag, war mir das Herz wieder schwer geworden. Ich hatte Heimweh
und wollte zurück zu meiner Familie, wollte Mutter wieder umarmen, Vaters
milde, tiefe Stimme hören, wenn er mir etwas von der Welt berichtete, mit
meinem ferngesteuerten Auto spielen und ich wollte  leckeren Kuchen essen, den Grossmutter gebacken hatte. Leise
begann ich zu weinen. Ich vermisste sie alle schrecklich und ich vermisste die
Sonne über dem Dorf genau so wie ich das Plätschern des Baches, der neben
unserem Haus talwärts floss und ich sehnte mich nach der frischen Morgenluft,
die einem begrüsste, wenn man frisch in seinem Bett aus den schönsten Träumen
erwachte. Hier roch alles alt und nach Stein und wenn ich hier das Fenster
geöffnet hätte, wäre nur stickige, modrige Luft aus dem Wald in den Raum
eingedrungen. Innerlich hoffte ich noch immer, dass es sich bei meinem Erlebnis
um einen Albtraum handeln würde und ich einfach wieder aufwachte und alles beim
alten war. Ich würde Vater am nächsten Tag mit grossen Augen über den Traum
berichten und er würde mich trösten und mir erzählen, dass der Wald nur sehr
alt sei und nichts Böses darin lebte. Er würde mir genau erklären, dass der Weg
nicht einfach verschwinden konnte, selbst wenn man ihn verliess und mir davon
erzählen, dass Mutter und Mr. Smith mir nur darum so oft gesagt hatten, ich
solle den Weg nicht verlassen, weil sie sich sorgten, ich könne mich verlaufen,
wenn ich zu weit in den Wald hinein gehen würde. Dann würde er mir auch
erzählen, dass schon Leute in dem Wald gewesen waren, die eine gute Ausrüstung
zur Orientierung mit sich führten und dass sie in dem Wald weder Monster,
Bogenschützen noch seltsam anmutende Bauwerke entdeckt hatten.

    Nichts desto Trotz lag
ich in einem Bett, dass sich in einem dieser Bauwerke befand und nichts davon
war ein Traum. Ich war vom Weg abgekommen, hatte mir wegen eines Eichhörnchens
in die Hose gemacht und – was noch immer in meinen Knochen sass – ich war
angegriffen worden. Aber ich war auch jedes Mal gerettet worden und jetzt
hatten sich meine Chancen deutlich verbessert. Jemand hatte mir Nahrung hier
gelassen und auch eine Waffe, die zwar schwerer als der Pfeil in der Hand lag,
aber dafür wesentlich wirksamer zur Verteidigung gegen Feinde eingesetzt werden
konnte. Ich blickte flüchtig zum Tisch hinüber, wo die stählerne Waffe noch
immer griffbereit im Kerzenlicht funkelte. Ich hoffte, sie nicht benutzen zu müssen.
Eigentlich hatte ich sogar Angst davor. Während ich mich in die bauschige Decke
hüllte und meinen Kopf in die weichen Kissen drückte, überlegte ich, wie es nun
weitergehen sollte. Natürlich würde ich dem Weg weiterfolgen, denn immerhin
hatte er mich hierher geführt. Wer wusste schon, wo er mich noch hinführen
würde? Es war eine Chance und mit diesem tröstenden Gedanken schlief ich zum
ersten Mal seit zwei Nächten satt – und vor allem – komfortabel ein.

    Peng!

    Ich erschrak fürchterlich
und war sofort wieder wach. Wie lange hatte ich geschlafen? Minuten? Stunden?
Eilig blickte ich um mich, da ich völlig desorientiert war und schneller als
mir lieb war, erkannte ich, wo ich dass ich nicht zu Hause in meinem Bett lag,
sondern immer noch im Turmzimmer und gerade etwas dabei war, die erste Tür am
Fusse der Treppe einzuschlagen.

    Peng!

    Deutlich vernahm ich das
splittern von Holz und sofort schoss das Adrenalin durch meinen Körper und
versetzte mich in einen animalischen Rausch der Furcht. Von unten war ein
grässliches Kratzen, Knallen und Knirschen zu tun, unterbrochen von zornigen
Schreien, die in blindem Hass die Stille zerrissen. Erneut erklang ein ohrenbetäubender,
dumpfer Knall und ich wusste, dass die Bestie sich mit ihrem gesamten Körpergewicht
gegen die Tür geworfen hatte. Schwer zu sagen, wie lange die Tür und der Riegel
dieser Tortur standhalten konnten. Bei jedem Schlag hörte ich, wie das Holz
knirschte und splitterte und versuchte mir auszumalen, wie lange es dauern
würde, bis die Tür brach und das Biest rauf kommen und mich holen würde. In
meiner Angst drückte ich mich aufs Bett und zog mir die Decke über den Kopf.
Zitternd und unfähig mich zu bewegen verharrte ich mit eng an den Körper
gezogenen Beinen in der Hoffnung, es würde einfach aufhören, doch es hörte
nicht auf. Wieder und wieder schlug das Biest gegen die Tür, vergrub seine
Krallen darin und Zerrte an dem immer schwächer werdenden Hindernis. Dann, mit
einem gewaltigen Schlag hörte ich, wie die Tür brach, aus der Angel fiel und in
den Turm hinein krachte. Ich vernahm den triumphierenden Schrei des Monsters, das
sich nun im Inneren der Gemäuer aufhielt und ich fragte mich, welcher Schrei
der schlimmste war. Der wütende, der schmerzverzerrte oder der freudige Schrei?

    Von draussen hörte ich
die Schritte auf der Treppe – krallende, unangenehme Geräusche – und mir wurde
plötzlich klar, dass ich mich nicht in Sicherheit, sondern in einer Sackgasse
befand. Klar, die Falltür war mit zwei massiven Riegeln von innen heraus
verschlossen, während die Aussentür des Turms lediglich einen Riegel zum Schutz
vorwies und auch von nicht unwesentlich schwächerer Statur war, aber sollte es
der Kreatur gelingen, das Zimmer zu betreten, hätte ich keine Chance mehr. Das
Fenster war vergittert und selbst wenn Bogenschützen in der Nähe waren, befand
ich mich nicht mehr im Freien und somit auch nicht in einem möglichen
Schussfeld. Plötzlich wurde mir sternenklar, dass ich verloren wäre, wenn ich
nicht selbst etwas dagegen tun würde und neuerlich schoss mir eine Welle des
Adrenalins durch den Leib, was mich augenblicklich aus meiner Starre befreite
und zum Handeln anspornte. Rasch riss ich die Decke beiseite und stürzte mich
auf das Schwert, packte den Griff und im selben Augenblick schlug die Kreatur
bereits gegen die Falltür. Sie hüpfte und knarrte leicht unter der enormen
Belastung, aber sie hielt der Gewalt des Angreifers vorerst stand. Wieder tat
es einen Knall, der noch heftiger war, als der vorhergehende und ich zuckte
zusammen, als ich die wütenden Schreie jenseits der Tür vernahm, doch diese
hielt weiterhin stand.

   Mit schweissnassen Händen
hielt ich den Schwertgriff so fest umklammert, dass meine Knöchel weiss
hervortraten. Das Herz pochte und meine Augen brannten, so weit riss ich sie
auf, wartend auf den Moment, wo die Falltür in tausend Splitter zerbersten und
ich Auge in Auge dem Schatten gegenüber stehen würde, dessen Gesicht ich noch
nie gesehen hatte. Abermals verkrampften sich meine Muskeln, als ich mit ansah,
wie sich die beiden Balken während des Knalles leicht in den Raum bogen.
Brüllend vor Zorn, Hunger oder vielleicht beidem begann die Kreatur nun an der
Tür zu kratzen. Es klang, als ob sich jemand mit einer Axt am Holz zu schaffen
machte und ich vermochte eine unbeschreibliche Schärfe aus diesem Geräusch zu
erkennen. Ich hoffte, dass das Mistvieh schmerzhafte Holzsplitter in den Händen
haben würde. Es hörte auf und warf sich wieder gegen den hölzernen Schutzwall,
gleich mehrmals hintereinander und das mit voller Wucht. Tobend und kreischend
hämmerte es scheinbar von Trieben und Instinkten gezwungen gegen das Holz und
auch gegen meine schwindende Hoffnung. Der eine Balken hatte sich schon
drastisch verformt und ich konnte auch bereits die ersten Splitter sehen, wo
sich der Balken langsam bog und drohte in zwei Hälften zu brechen. Dann hörte
es auf. Gespannt horchte ich auf die andere Seite der Tür und zu meiner
Überraschung stellte ich fest, dass sich die klappernden Schritte entfernten.
Gelegentlich war ein Schnauben zu hören und bald schon war es wieder völlig
ruhig in dem Turm. Die Festung hatte gehalten.

    Erleichtert atmete ich
auf und liess das Schwert zu Boden sinken. Gleichzeitig fragte ich mich, wie
mich das Monster hier gefunden hatte und ob es vielleicht gleich wieder kommen
würde. Ich wollte daran glauben, dass es seinen Angriff abgebrochen hatte und
es für aussichtslos hielt, die Tür weiter zu malträtieren, aber irgendwie
gelang es mir nicht mal ansatzweise, mich davon zu überzeugen. Dennoch war es,
wenn ich es mir logisch überlegte, höchst unwahrscheinlich, denn wenn das Biest
vorgehabt hatte, hier herein zu gelangen, hätte es bestimmt nicht den Rückzug
angetreten. Was aber war, wenn es nur gegangen war, um Verstärkung zu holen?
Würde die Tür standhalten, wenn zwei oder mehrere dieser Biester sie mit aller
Gewalt bearbeiteten? Allein der Gedanke lies mich erschaudern. Möglicherweise
umkreisten sie gerade auf dieselbe Weise den Turm, wie ein Tintenfisch die
Flasche umkreiste, in der ein Fisch gefangen war. Hinausgehen und mich auf den
Weg machen konnte ich nicht, dessen war ich mir sicher. Sobald ich die Falltür
öffnen und die Treppe hinunter steigen würde, käme die Bestie zurück und würde
mich zerfleischen. Wenngleich auch die Hoffnung auf Bogenschützen bestand, die
im Freien ebenso lauerten wie das Biest, wollte ich mich nicht auf blosse
Theorien verlassen. Nein. Das Zimmer war wesentlich sicherer und sollte es
dennoch hart auf hart kommen, hätte ich immer noch das Schwert griffbereit. Ich
war erst neun Jahre alt und dennoch dazu bereit, mein Leben zu schützen. Die
vergangenen Tage hatten meine Seele altern lassen, dessen war ich mir sicher.
Kindheit schien nur ein Wort zu sein, dass weit zurücklag, genau wie das Wort
Sorgenfrei und Glücklich. Menschen verändern sich, wenn sie sich regelmässig
mit Gewalt konfrontiert sehen. Manche zerbrechen daran, andere wiederum werden
stärker. Ich war einer der wenigen Menschen, die gleichzeitig erstarkten und
dabei dennoch innerlich in Scherben zerbrachen.

    Die Konfrontation hatte
mich durstig gemacht und ich ging wieder zum Tisch, wo ich einen grossen
Schluck des Honiggetränks zu mir nahm. Es war unverändert köstlich und ich
gönnte mir noch einen Schluck davon und schätzte mich trotz meiner widrigen
Lage glücklich, dass ich noch am Leben war und wenigstens eine Nacht erleben
durfte, in der kein Monster über mich kam und mir weh tat. Als ich daran
dachte, wie ich meine Nächte vor dem Wald erlebt hatte, wurde ich wieder
traurig und dachte erneut an meine Familie. Ob ich sie wieder sehen würde? Wie
mochte es ihnen gehen? Gewiss ging es ihnen ähnlich schlecht wie mir, nur dass
sie keine Gewissheit darüber hatten, ob ich noch am Leben war. Kaum zu glauben,
dass ich inzwischen schon drei Tage im Wald lebte. Vielleicht hatte mich meine
Familie bereits aufgegeben. Vielleicht war ich für sie längst tot, während ich
in Wahrheit hier weiterlebte in dieser irdischen Hölle.

    Jäh zerbarst das Fenster
hinter mir und ich wurde aus meinen Gedanken gerissen. Die Glasscherben flogen
ins Zimmer und zerbrachen lautstark auf dem Fussboden. Die nachfolgenden
Augenblicke würden zu jenen gehören, die ich niemals vergessen sollte. Was sich
in Sekunden abspielte, schien Stunden zu dauern. Mit geweiteten Augen
beobachtete ich fassungslos, wie ein langer, knorriger Arm durch das Gitter in
den Raum griff. Am Ende des Armes ragte mir eine sehnige Hand entgegen, dessen
Finger irreal lang schienen und an jedem Ende dieser drei Finger, befand sich
eine leicht gebogene Kralle. Insektenartig bewegten sich die Krallenfinger auf
mich zu und ich sah, dass da auch ein deformierter, viel zu langer Daumen war.
Das unheimliche dabei war die Tatsache, dass der Arm obwohl total fremd,
entfernt an den Arm eines Menschen erinnerte, nur wesentlich grösser und
hagerer ausfiel. Wild tastete es in den Raum hinein und unter der grauen,
porösen haut spannten sich die Sehnen. Ich sah, wie die Hand sich an der
Innenseite der Mauer festkrallte und im selben Augenblick schoss eine weitere
Klaue durch das Fenster, umklammerte das Eisengitter und begann mit ruckenden
Bewegungen, daran zu zerren. Bestürzt erkannte ich, dass sich das Metall unter
der Last zaghaft zu verbiegen begann und ich tat das einzige, was ich noch tun
konnte, packte das Schwert und schlug mit aller Kraft die ich aufbringen konnte
nach dem grässlichen Arm, mit dem sich die Bestie am Mauerwerk festgekrallt
hatte.

    Augenblicklich ertönte
ein entsetzlicher, gequälter Schrei und ich wich vom Fenster zurück. Entsetzt
betrachtete ich den abgetrennten Unterarm, der sich zuckend bei mir im Raum am
Boden wand, und damit begann, zu einer dunklen Flüssigkeit zu zerlaufen. Als
schliesslich nur noch eine matte Brühe davon übrig war, blickte ich wieder zum
Fenster, wo ich mit ansehen musste, wie sich aus dem scheusslichen Armstumpf
der Bestie fleischige Sehnen wanden, als ob sich windende Würmer der Wunde
entsprangen. Ich verfolgte das grausige Spektakel lange genug, um zu erkennen,
dass die Kreatur dabei war, sich zu regenerieren und vor meinen Augen wuchs dem
Biest ein komplett neuer Unterarm aus der abstossenden Wunde. Krallen schossen
aus dem frischen Fleisch und sofort setzte die Bestie diese ein. Erst schlug
sie mit den Klauen nach mir, dann krallte sie sich wieder im Mauerwerk fest und
begann unter zornigem Brüllen erneut damit, am Fenstergitter zu rütteln. In
meiner Panik griff ich zum Kerzenleuchter und hielt die Flammen an das neue
Fleisch der Kreatur. Dies zeigte die erhoffte Wirkung. Sofort liess das Biest
von dem Fenster ab und ich hörte, wie es ausserhalb des Turms am Boden aufschlug
und mit lauten, stampfenden Schritten in den Wald floh.  Wenige Augenblicke später begann sich am
Boden des Raumes die schwarze Flüssigkeit, die einmal der Arm dieser Bestie
gewesen war, in Bewegung zu setzen. Ich wich erschrocken zwei Schritte zurück und
beobachtete, wie sich die zähflüssige Brühe erst über den Boden und
schliesslich an der Wand entlang aus dem Fenster verflüchtigte. Erst dann fiel
ich der Erschöpfung zum Opfer und liess mich zurück ins Bett fallen, wo ich
schliesslich das Bewusstsein verlor.

 

Während ich
am frühen Morgengrauen erwachte, fielen mir zwei Dinge auf. Zuerst erkannte
ich, dass ich nicht zu Hause in meinem Bett lag – erwacht aus einem
bizarren Albtraum. Das zweite was mir auffiel, und das führte zu noch grösserem
Unbehagen, war das unangenehme Gefühl, dass ich nicht allein war. Irgendjemand
– oder irgendein Etwas – befand sich mit mir zusammen in dem dunklen Zimmer.
Die Kerzen waren längst erloschen und so konnte ich, obschon ich meine Augen
weit aufgerissen hatte und ein hauch des Lichtes der Morgendämmerung in den
Raum fiel, nur schemenhafte Schatten erkennen. So undeutlich wie ich es sah, so
deutlich konnte ich es hören. Langsame Atemzüge. Jeder davon klang, als würde
man langsam mit einer rostigen Gabel über die einstürzenden Gemäuer einer aus
Sandstein gebauten Schreckensvision einer Fabrik kratzen. Gleichzeitig hörte
ich auch ein klirrendes Geräusch, dass von Metall oder Keramik hätte stammen
können – oder auch von beidem zugleich.

    Ein kalter Schatten
huschte an mir vorbei und ich wollte schreien, brachte aber nur ein müdes
Krächzen heraus. Erneut überkam mich eine Lähmung und ich war nicht fähig, mich
dem Klammergriff der Angst zu entziehen. Das kalte Atmen geriet einen Moment
ins stocken, setzte aber sofort wieder ein und diesmal so nahe, dass ich es auf
meinem Gesicht fühlen konnte. Dennoch wagte ich es nicht, meinen Blick in diese
Richtung zu drehen, selbst wenn es meine Lähmung erlaubt hätte. Soweit ich mich
erinnern kann, waren es die darauf folgenden Ereignisse, die den kalten und
dauerhaften Grundstein für meinen Wahnsinn gelegt hatten. Was auch immer da mit
mir im Raum war, begann plötzlich damit, meinen Kopf zu streicheln. Ich spürte
seine rissige, kalte Haut auf meiner, während es beinahe mechanisch mit seiner Hand
über meine Wange fuhr. Trotz aller Zärtlichkeit – und vermutlich war ich gar
nicht so unglücklich darüber, dass es mich nicht in Stücke riss – fürchtete ich
mich vor dieser Berührung weit mehr, als vor dem Monster, dass ich heute Nacht
geschlagen hatte. Die kalte Hand roch nach Erde. Wieder und wieder streichelte
es mich und ich konnte mich dem nicht entziehen.

    Dann begann es zu
sprechen.

    Es sprach.

    Natürlich war mir die
Sprache völlig unbekannt und mir schien es auch mehr ein Gurgeln und Husten zu
sein, aber es war eindeutig das Muster einer differenzierten Sprache, wie sie
höher entwickelte Lebewesen überall besitzen. Eine Zweite Stimme, ebenfalls
völlig fremdartig, antwortete der ersten. Es klang weder besonders aggressiv,
noch klang es freundlich. In den Stimmen lagen überhaupt keine
Emotionen. Während das zweite Ding im hinteren Bereich des Raumes mit
erstickter Stimme weiter sprach, fasste mich die Hand des anderen an der Wange
und wollte meinen Kopf in seine Richtung drehen. Innerlich verkrampfte ich
mich, doch meine Muskeln wollten nicht gehorchen und so drehte es meinen Kopf
immer weiter. Ich zwang mich, die Augen zu schliessen und war erleichtert, dass
mir wenigstens das gelang. Mein Kopf war mittlerweile zur Seite geneigt, als
ich plötzlich zwei Finger auf meinen Lidern spürte, die versuchten, mir die
Augen zu öffnen. Anfänglich sanft, verstärkte es den Druck mit jeder Sekunde,
die ich mich widersetzte und ich begann, ein Wirrwarr von Mustern und Farben zu
sehen, als es mir schmerzhaft auf die Augen drückte. Bald schon, würde ich es
ansehen müssen.

    „Aufhören!“ schrie ich.

    Und es hörte tatsächlich
auf, zumindest Kurz. Das Wesen im Hintergrund sagte etwas und es hörte sich
lauter und erregter an, als zuvor. Sein Gefährte antwortete ihm und dabei
hustete er zweimal trocken. Schliesslich setzte es den versuch fort, mir die
Augen zu öffnen und diesmal war es ziemlich schmerzhaft.

    Von draussen ertönte
plötzlich ein vertrautes Geräusch. Es war das Gebrüll des Monsters und der Fremde
liess sofort von mir ab. Ich konnte hören, wie er sich erhob und nervöse Worte
mit seinem Begleiter wechselte. Beide schritten nun durch den Raum und obwohl
ich es nicht wollte, fühlte ich eine Neugierde in mir aufsteigen und hätte
beinahe die Augen geöffnet um zu sehen, was da passierte, auch wenn es noch
sehr Dunkel war. Ich tat es dennoch nicht. Irgendwie wusste ich, dass ich es
nicht sehen sollte – dass ich die beiden Wesen nicht sehen sollte. Ein Knall im
Raum durchbrach die Stille, gefolgt von einem Zischen in der Luft. Von draussen
hörte ich ein schmerzhaftes Jammern der Kreatur. Noch ein Knall und wieder
gefolgt von einem Zischen, dass die Luft zerschnitt. Es waren Pfeile, doch der
zweite Schuss ging wohl ins Leere, da ich von draussen kein Geräusch vernehmen
konnte. Entweder das, oder die verfluchte Kreatur hatte sich langsam daran
gewöhnt, ständig von Pfeilen durchbohrt zu werden. Ein weiterer Pfeil wurde
abgeschossen und diesmal hörte ich das Monstrum schreien vor Schmerz. Es
brüllte wie am Spiess und ehe der Laut verklang, wurde auch bereits ein vierter
Pfeil darauf abgeschossen. Diesmal klang der Schmerzenslaut so kläglich, dass
es mir schon beinahe Leid tat. Dann erinnerte ich mich jedoch daran, was mir
dieses Scheusal bereits angetan hatte und noch antun würde, käme es in meine
Nähe. Dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, dass die Bogenschützen bei mir im
Raum ebenfalls eine Gefahr für mich darstellten. Ich wartete erstmal ab und
stellte erschrocken fest, dass ich mich langsam – wirklich sehr langsam – an
diese neue, veränderte Realität zu gewöhnen begann.

    Zunächst geschah nichts.
Dann hörte ich erneut metallische Geräusche neben dem Bett. Unwillentlich
zuckte ich zusammen, als mich die rissige Hand ein weiteres Mal am Gesicht
berührte. Ich war heilfroh, dass es so abrupt endete, wie es begonnen hatte und
schon nach wenigen Sekunden hörte ich kein Geräusch mehr innerhalb des Raumes.
Das Atmen war verstummt und auch die Furcht schlich sich davon, als ich endlich
wieder die Herrschaft über meinen Körper erlangte. Ich beschloss in kindlicher
Naivität, einfach weiterzuschlafen und nicht mehr an die kalte, rissige Hand zu
denken, die nach tiefer Erde roch. Es war meine letzte Nacht in dem Wald, aber
nicht die letzte Nacht in Begleitung der Angst.

 

Draussen war
es Hell geworden (und dass ich es als Hell empfand, hing wohl damit zusammen,
dass sich meine Augen nun endgültig auf diese düstere Umgebung eingestellt
hatten) und ich erwachte. Ich war allein. Ich blickte auf das kleine Tischchen
neben mich und sah eine mit frischen Früchten gefüllte Schale vor mir stehen.
Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich das nicht erwartet hätte. Ich
verzichtete diesmal auf den Verzehr dieser Früchte und ich wusste auch, warum
ich das tat. In Gedanken sah ich kalte, ledrige Hände, die langsam – so
unwahrscheinlich es auch sein mochte – saftige Früchte aus dem schwarzen
Erdreich zogen, während sie sich in einer fremden Sprache unterhielten. Es
stiess mir auf, als ich mich daran entsinnte, wie viele dieser Früchte ich
bereits gegessen hatte. Lange sass ich noch in dem fremden Bett und fiel in
einen lethargischen Zustand. Viel Hoffnung war nicht mehr übrig und mir wurde
schon damals klar, dass wenn ich hier draussen nicht zu Tode kam, mit
Sicherheit völlig und irreparabel Verrückt werden würde. Tod oder Wahnsinn, so
sahen meine Karten aus und das bereits mit neun Jahren Erdendasein. Nichts
desto Trotz setzte ich meine Reise in den Wald hinein Fort. Ich kam sehr weit
während des Tages. Der Weg führte mich an Ruinen von Wachtürmen vorbei hinein
in verlassene Dörfer voller toter Gemäuer. Wo ich auch hinkam war ich das
einzige lebende Geschöpf, denn ich war mittlerweile davon überzeugt, dass
selbst die Bäume, die mich umgaben, tot waren und nur noch existierten, weil die
bösartige, alte Macht es ihnen nicht gestattete, vollständig zu vermodern.
Alles in diesem Wald gehörte dem Tod an. Zuletzt kam ich durch eine Stadt mit
gigantischen Ausmassen, die mich im Nachhinein an eine der fantastischen und
monumentalen Bauten aus den Erzählungen J.R.R. Tolkien’s erinnerten. Nebst
zahlreichen prächtigen Gebäuden, zierten endlos hohe Türme diese Stadt und ich
konnte mir lebhaft vorstellen, dass es vor unzähligen Tagen wunderschön gewesen
sein mochte, hier aufzuwachen und der Sonne entgegen zu lächeln, während das
Leben um einem erblühte, ehe dieser Wald wuchs und alles verschlungen hatte.
Ich hielt mich mit dieser Stadt nicht lange auf und bald schon lag sie weit
hinter mir. Der Weg führte unbeirrbar weiter durch den Wald, der wohl doch
endlos weit über das Angesicht der Erde wucherte. In Gedanken versunken
bemerkte ich nicht, dass ich längst verfolgt wurde.

    Ich kam schliesslich zu
einer Lichtung (für die Verhältnisse in diesem Wald war es eine) und konnte
seit langer Zeit zum ersten mal wieder die Sonne auf meiner Haut fühlen. Mir
schien, als fühlte ich einen prickelnden, angenehmen Schmerz auf der Haut. Langsam schloss ich die Augen und
streckte mich der Sonne entgegen, fühlte ihre Wärme auf meinem Gesicht und
spürte, wie  mich ihr freundliches Licht
umspielte, als ich weit hinter mir plötzlich dieses unverhofft eindringende,
unsägliche Brüllen hörte. Es war eine Reflexbewegung, die ich nicht vermeiden
konnte. Ich vergass die Sonne und wirbelte mit weit offenen Augen herum und da
stand es, keine fünfzehn Meter von mir entfernt. Gebannt starrte ich das
Monstrum an – meinen alten Feind, der mich des Nachts heimgesucht hatte.
Blankes Entsetzen packte mich, denn was schon schlimm genug war, wenn man es
nicht sehen konnte, bekam eine völlig andere Note, wenn man es erst Mal sah und
wahrlich, ich konnte es sehen.

    Das wirklich
erschreckende und bizarre an der Kreatur war ihre auffällige Ähnlichkeit mit
einem Menschen. Es sah nicht halb so kräftig aus, wie es eigentlich war. Sein
Rücken war gekrümmt und die Hüften leicht nach vorne Gedrückt, während seine
überlangen Arme bis zum Boden hingen. Die Schultern wirkten eingefallen und
wurden durch das Gewicht der arme ebenfalls nach hinten gezogen. Im Gegensatz
zu den Armen wirkten die Beine geradezu Kurz. Das Ganze erinnerte von der
Statur her an einen magersüchtigen Schimpansen, wobei auch dieser völlig
entstellt sein musste, um nur annähernd hätte mit diesem Monstrum verglichen
werden. Ein unwirklich aufgedunsenes, männliches Geschlechtsteil hing leblos
zwischen den mit Adern überzogenen Beinen des Geschöpfes. In etwa zweieinhalb
Metern Höhe sass der Kopf, der nahtlos in den Oberkörper überging. Der Schädel
schien mit dem Rückgrat verwachsen zu sein. Ausserdem hatte das Biest weder
Wangen noch Lippen und ich blickte auf mehrere Reihen nadelartiger Zähne,
während der Unterkiefer des Monsters beinahe bist zur Bauchmitte durchhing. Das
schlimmste Jedoch war die Tatsache, dass es keine Augen besass. Es besass nicht
einmal Augenhöhlen. Die Schädeldecke zog sich in einem beinahe elegant
anmutenden Bogen direkt zum Oberkiefer. Somit war das Monstrum nichts weiter
als ein deformierter, grauhäutiger und sehniger Körper, der ein Maul voller
Rasierklingen spazieren führte. Es verkörperte den reinen Instinkt, zu töten
und zu fressen und allein der Anblick dieser Kreatur reichte aus, um das
Heranstürmen eines hungrigen Löwen’s, in eine angenehme – ja gerade zu bildhaft
kuschelige – Vorstellung zu verwandeln. Es musste mich gewittert haben und
zaghaft begann es sich mir zu nähern. Entgegen aller Erwartungen dachte ich
weder an Flucht, noch daran, dem Wesen entgegenzutreten. Ich dachte an Mutter.

 

In Gedanken
versunken erinnerte ich mich an einen vergangenen Albtraum. Während dieses
Traumes war ich allein in einem unheimlichen Keller gewesen. Ich glaube, dass
es der Keller unserer Schule war, bin mir jedoch nicht mehr sicher. Jedenfalls hatte
ich von diesem Keller geträumt und dem unheimlichen Mann darin. Der unheimliche
Mann in meinen Träumen hatte ebenso wie die Bestie, die nun in dem Wald auf
mich losging, kein Gesicht. Er trug stets einen schwarzen Mantel und einen dazu
passenden schwarzen Hut. In seiner Hand hielt er einen kleinen – ebenfalls
schwarzen – Koffer. Der Traum war immer wie folgt verlaufen. Der Mann ohne
Gesicht kam mit dem Koffer auf mich zu und wollte mir desseb Inhalt zeigen.
Weil der Keller verschlossen war, konnte ich dem Mann nicht entkommen und ich
wusste innerhalb des Traumes, dass etwas Scheussliches in dem Koffer war, etwas
Unaussprechliches, dass mir grauenhafte Dinge antun würde, sollte ich es jemals
erblicken.

    Jedes Mal war ich
schweissgebadet erwacht und als ich den Traum das letzte Mal hatte, war Mutter
zu mir ins Zimmer gekommen. Ich erzählte ihr unter Tränen von dem Traum mit dem
Mann ohne Gesicht und sie tröstete mich, wie es nur eine Mutter konnte und
schliesslich erzählte sie mir von dem grossen Geheimnis der Träume. Dieses
Geheimnis sollte ein Geschenk für mich sein und ich lauschte gespannt der
Stimme meiner Mutter, während sie es mir erklärte.

    „Weisst du, mein lieber
Junge, warum der schwarze Mann so böse zu kleinen Kindern ist?“ hatte sie mich
gefragt.

    Ich hatte den Kopf
geschüttelt.

    „Weil der schwarze Mann
niemals, wirklich niemals, aus diesem Keller in deinem Traum raus kann. Er ist
darin gefangen, weisst du und darum ist er so böse geworden. Du aber, kannst
jederzeit aus dem Keller heraus und auch aus dem Traum, mein lieber Junge.“
hatte sie erzählt.

    „Aber er will mir den
Koffer zeigen. Da hat er schlimme Sachen drin. Ich weiss es.“ hatte ich damals
erwidert und mir lebhaft die schauerlichen Dinge vorgestellt, die ich in dem
Koffer vermutet hatte.

    „Ich weiss, was in dem
Koffer ist. Es ist die Furcht. Nichts ist schlimmer und beängstigender, als die
Furcht selbst zu fürchten, denn die Furcht kann tausende Gesichter haben und
dennoch werden wir niemals ihr wahres Gesicht sehen. Und weil sie uns so fremd
ist, fürchten wir sie. Weisst du, was du tun musst, wenn du das nächste mal von
dem bösen Mann träumst?“

    Erneut hatte ich den Kopf
geschüttelt und gelauscht.

    „Du siehst ihm direkt in
sein Gesicht und beginnst von zehn an rückwärts zu zählen. Jedes Mal, wenn du
eine Zahl aussprichst, gehst du einen Schritt zurück und egal was der Mann tut,
konzentriere dich ganz auf das Zählen und stell dir vor, wie du bei jeder Zahl
einem schönen Ort näher kommst. Den schönen Ort, darfst du dir sogar
aussuchen.“ sie hatte mir zugezwinkert und dabei spielten die Fältchen um ihre
Augen, was mir immer sehr gefallen hatte. „Wenn du bei Null angelangt bist,
klatschst du laut in die Hände und der Mann wird weg sein. Probier es beim
nächsten Mal gleich aus, ja?“

    Ich hatte es probiert und
es hatte wunderbar geklappt. Von diesem Tag an träumte ich nie mehr von dem
Mann ohne Gesicht. Es schien weit weg zu sein aber ich konnte die Stimme meiner
Mutter immer noch hören.

    Ich sah das Monstrum an
und begann zu zählen.

    „Zehn.“

    Gleichzeitig setzte ich
meinen rechten Fuss hinter den Linken, während ich die scheussliche Kreatur
nicht aus den Augen lies. Das Monstrum – obwohl es keine Augen hatte – schien
mich ebenfalls zu fixieren, während es unaufhaltsam auf mich zuging.

    „Neun.“

    Ich setzte meinen linken
Fuss hinter den rechten.

    „Acht, Sieben, Sechs.“

    Das Monstrum war
unweigerlich näher gekommen und ich konnte die organischen Strukturen auf
seiner feucht anmutenden Haut erkennen. Geplatzte Adern gehörten ebenso dazu,
wie sumpfig anmutende Tumore. Ich versuchte mich zu konzentrieren und mir den
schönen Ort vorzustellen, ungeachtet des Grauens, das Meter für Meter auf mich
zukam. Selbst als es triumphierend zu brüllen begann und noch mehr Zähne
entblösste, behielt ich die Kontrolle über meinen Körper. Alles schien nun weit
weg zu sein.

    „Fünf, Vier, Drei, Zwei.“

    Nur noch vier Meter und
die Kreatur würde ihre Zähne in meinen Körper schlagen und sich an meinem
Fleisch vergnügen, falls sie überhaupt dazu in der Lage war, eine derartige
Emotion zu fühlen. Ich behielt die Ruhe, während ich den Endspurt anging.

   „Eins.“

    Ich konnte seinen Kopf
schon über mir sehen und wie es seine Kiefer öffnete, ähnlich einer Schlange,
die ein Beutetier auf einen Bissen verschlucken wollte. Die silbernen Zähne
funkelten im Licht der Sonne und ich roch seinen fauligen Atem.

   „Null“

    Ich klatschte in die
Hände.

    Bevor ich merkte, was
geschah, stürzte ich rückwärts und überschlug mich dreimal. Ich stiess mir
meinen Hinterkopf an etwas unangenehm harten. Fassungslos blickte ich mich um.
Das Monstrum war verschwunden und ich stellte erleichtert fest, dass ich mich
wieder auf dem Weg befand, der unser Dorf mit dem Nachbardorf verband. Ich
atmete die Luft ein und genoss jeden Zug davon. Neben mir sah ich die Wurzel,
auf der ich gestürzt war, bevor das Eichhörnchen aufgetaucht war und mich in
diesen Schlamassel geführt hatte. Dann wurde mir seltsam zumute. Neben mir lag
ein Beutel Rosinen auf dem Schotterweg. Es war mein Beutel, der eigentlich gar
nicht mehr hätte existieren dürfen und er war voll. Nach einiger Zeit stellte
ich zudem fest, dass meine Kleidung noch völlig frisch und unberührt war.
Dasselbe traf auch auf meinen Körper zu. Von den Kampfspuren und Bisswunden,
die das Monster verursacht hatte fehlte jede Spur. Das einzige, was mir wehtat,
war mein Hinterkopf von Sturz eben. Schliesslich tat ich das einzige, was ein
Kind in so einer Situation tun konnte, ich schnappte mir den Beutel mit den
Rosinen und rannte aus dem Wald hinaus in die Sonne unseres Dorfes.

 

Die folgende
Zeit veränderte mich für immer. Als ich damals zuhause ankam, musste ich
feststellen, dass es derselbe Tag war, an dem ich losgelaufen war, um die
verdammten Rosinen zu kaufen. Mein Erlebnis in dem Wald hatte scheinbar nicht
stattgefunden und obwohl ich mich an alles erinnerte, begann ich langsam daran
zu zweifeln. Natürlich erzählte ich es Mutter und ich glaubte, in ihren Augen
nebst den Zweifeln, auch eine grosse Sorge ablesen zu können. Nicht der Hauch
eines Beweises war mir geblieben und es war nicht verwunderlich, dass mir
Mutter nicht geglaubt hatte. Im Verlaufe des Abends resignierte ich und
beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Für mich war es Realität
gewesen, was sich in dem Wald zugetragen hatte und ich dankte Gott, dass ich
wieder bei meiner geliebten Mutter war.

    In meinem eigenen Bett zu
schlafen war ungewohnt, aber ich genoss es dennoch. Mir war die Gnade vergönnt,
schnell einzuschlafen und in ein tiefes, warmes Dunkel zu fallen. Während
dieser ersten Nacht nach dem Wald, schreckte ich einige Male hoch, weil ich
geglaubt hatte, Stimmen zu hören, die sich in fremden, gurgelnden Sprachen
unterhielten und ich machte stets das Licht an, weil ich mich davor fürchtete,
plötzlich eine kalte Hand an meinem Körper zu fühlen. Mir wurde klar, dass ein
Lichtschalter einem mir fremden Luxus gleich kam und ich war heilfroh darüber.
Leichtgläubig wie man es als Kind nun mal war – zum hundertsten Mal gesagt –
schlief ich ein und machte mir keine Gedanken mehr.

    Als ich damals erwachte,
fiel mir nur eine Sache auf. Neben meinem Bett befand sich auf dem Nachttisch
eine Schüssel, prall gefüllt mit frischen Früchten und das Unheil hatte seinen
Lauf genommen. Jeder konnte die Schüssel sehen und als es schliesslich jeden
Morgen geschah, dass diese erschien, begann Mutter sich zu verändern. Sie wurde
zusehends stiller und zog sich mehr und mehr aus dem Leben zurück – und auch
vor mir. Auch der Rest meiner Familie begann sich zu verändern und mir war, als
wäre die Angst, die ich damals in dem Wald empfunden hatte, zu etwas greifbarem
geworden.

   Die Ereignisse begannen sich zu häufen. Nebst seltsamen
Kratzspuren an den Häusern, begannen auch die Tiere und Pflanzen im Dorf zu
sterben – gerade noch schnell genug, um es zu bemerken. Die Menschen im Dorf
betrachteten uns – ins besondere Mich – mit Argwohn. Viele munkelten von
Hexerei und Teufelwerk und die Leute begannen uns zu meiden und während ich
jeden Morgen eine Schüssel Früchte in meinem Zimmer vorfand, begann auch bald
das sterben unter den Menschen. Bei uns hat es angefangen.

    Ich kann mich nicht mehr
im Detail erinnern, weil es vermutlich zu grauenhaft gewesen war, aber ich
erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich meine Familie gefunden hatte. Ich
war eines Morgens erwacht, ignorierte die Schüssel und ging nach unten ins
Wohnzimmer, als mir der Geruch in die Nase stieg. Es roch nach Kupfer und
Mandeln. Grossmutter, Onkel Buck, Vater und Mutter lagen unheimlich verrenkt
auf dem Boden und alle waren umgeben von ihrem Blut. Ihre Körper waren
zerrissen worden. Wo einst Mutters strahlendes Gesicht gewesen war, klaffte nur
noch ein mit Blut verkurstetes Loch. Fleisch war aus all ihren Körpern gerissen
worden und ich musste es nicht gesehen haben um zu wissen, was für ein Ding
solche Wunden zurücklässt. Gezackte Schneidelinien verliefen durch die Häute
und das Gewebe meiner Familie. Alle waren Tot.

    Ich wurde von der Polizei
weggebracht und bekam einen gesetzlichen Vormund. Zu meinem Glück wohnte der
liebe Kerl, der mich aufnahm weit weg vom Wald in einer mittelgrossen Stadt.
Der Mann hiess Charles, aber ich durfte ihn Chuck nennen. Er war um die vierzig
und lebte zusammen mit seiner Frau Beth. Während der schweren Zeit wurde ich
von Kinderpsychologen behandelt. Was die Ereignisse im Wald angeht, so habe ich
mich gegenüber den Psychologen und meinen Pflegeeltern ausgeschwiegen. Die
Tatsache, dass meine gesamte Familie ermordet wurde, schien ihnen schon zu
genügen. Sie hätten mir ohnehin nicht geglaubt und die Psychologen hätten mich
bereits damals in eine Klapsmühle gesteckt, hätte ich ihnen von Wäldern und
lauernden Monstern erzählt.

    Mit der Zeit glaubte ich,
darüber hinweg zu sein. Ich war 18 Jahre alt geworden und zog bei meinen
Pflegeeltern aus. Während der Zeit, die ich bei ihnen verbracht hatte, hatte
ich die Früchteschalen, die noch immer in meinem Zimmer auftauchten, stets
beseitigt und nie ein Wort darüber verloren. Ich trennte mich von Chuck und
Beth und war ihnen auf immer dankbar. Leider wurde ihnen kein gutes Schicksal
zuteil. Nachdem ich zwei Monate weg war, wurden sie Tot aufgefunden. Laut
Polizeibericht waren Einbrecher in die Wohnung eingedrungen und hatten das Paar
im Schlaf überrascht und getötet. Über Details schwiegen sich die Cops aus. Es
gab einige Ungereimtheiten in dem Fall. So war man sich zum Beispiel nicht
sicher, warum die Einbrecher eine Kettensäge benutzt haben, um die Leichen zu
zerstückeln – Eine Kettensäge übrigens, die man niemals gefunden hatte. Ich
wusste es besser, aber ich lernte mit 18, dass es besser war, mein Wissen in
Fusel und Bier zu ersäufen. Schliesslich verlor ich meinen Job als Kurier und
landete in der Gosse. Ich war gerade mal 22 Jahre alt und lebte auf der
Strasse, wo ich nur noch den Gestank des Alkohols zum Freund hatte und
Erinnerungen voller Wahnsinn und Angst. Natürlich hatte ich auch auf der
Strasse jeden Morgen eine Schale mit Obst und Früchten neben mir und ich begann
schliesslich wieder damit, das Zeug zu essen, weil es die Situation erforderte.

    Doch das Glück hatte mich
nicht verlassen – noch nicht. Eines Abends, als ich in den Gassen der Stadt
herumgammelte um nach etwas essbaren (oder noch lieber, einer Pulle Jack)
Ausschau hielt, fand ich einen kleinen, schwarzen Koffer in einer Mülltonne.
Natürlich erinnerte ich mich an den Traum mit dem Mann ohne Gesicht, aber
Kinder, dessen Familie von einem namenlosen Grauen zerfetzt werden, fürchten
sich als Erwachsene nicht mehr vor dem schwarzen Mann. Ich öffnete den Koffer
und fand mehr Geld, als ich jemals zuvor gesehen hatte.  Am nächsten Tag trug ich bereits einen Anzug
und war rasiert, während auf meinem neuen Bankkonto zwei Millionen darauf
warteten, von mir genossen zu werden. Ich lebte entsprechend verschwenderisch.
So kaufte ich mir ein grosses Haus, einen tollen Sportwagen und vögelte mit den
schönsten Frauen weit und breit. Eine Zeit lang ging das auch ganz gut, bis ich
24 wurde.

   Immer öfter wurde ich im
Schlaf gestört. Gelegentlich sah ich, wie entstellte Schatten durch die leeren
Gänge meines Hauses huschten und verschiedene Male glaubte ich sogar, dass ich
ein Knurren aus dem Vorgarten vernahm. Das Knurren. Die Schüssel war wie
gewohnt jeden Tag hier und manchmal wenn ich morgens in den Spiegel sah, war
mein Gesicht mit schwarzer Erde befleckt.

    Nach meinem
Selbstmordversuch wurde ich schliesslich hierher eingeliefert. Die örtliche
Klapsmühle hörte sich nicht schlecht an, als ich noch auf der Strasse gelebt
habe, aber es ist ein Gefängnis. Die Medikamente helfen mir nicht, aber
wenigstens vernebeln sie all meine Gedanken. Ich sehe noch immer die Schatten
und ich kann sie auch immer hören, wenn sie kommen, um mir meine Mahlzeit zu
bringen. Früchte in einer Schüssel. Gelegentlich sprechen mich meine
sadistischen Pfleger darauf an, wie ich das nur jeden Morgen hinbekomme, aber
es interessiert sie nicht wirklich und wenn sie dann damit beginnen, mich zu
schlagen und mich zu demütigen, bin ich schon weit weg an einem schönen Ort.
Irgendwann werde ich aufwachen und alle in dieser Anstalt werden tot sein, in
Stücke gerissen und mit schrecklichen, starren Gesichtern, doch während es ihr
Schicksal ist, grauenvoll zu sterben, ist es mein Fluch, am Leben zu bleiben,
umgeben von den Fremden und der Furcht, die ich zu fürchten gelehrt habe.
 
 
 
c 2005  by S.Rüesch

"Der Weg" hat eine eigentümliche, aber sehr banale Entstehungsgeschichte. Den Anfang nahm es, als ich relativ verdutzt und mit einer Dose kaltem Bier in meiner Hand dem Bus hinterher sah, den ich gerade verpasst hatte, und der mich eigentlich in den Feierabend hätte bringen sollen. Zwischen meinem Arbeitsplatz und dem nächten Bahnhof befindet sich ein kleiner Wald. Die Strecke war in etwa 20 Minuten zu bewältigen. Also zog ich es vor, anstelle der 30 minütigen Wartezeit, lieber den Fussweg zu nehmen. Etwa auf halbem Weg kam mir der Gedanke, wie ich wohl reagieren würde, wenn ein Dachs oder ein ähnliches Raubtier plötzlich aus den Büschen käme, und eifrig auf mich zu wuseln würde. Aus dem gedanklichen Dachs wurde schliesslich ein gedanklicher, tollwütiger Bär und als ich den Gedanken zuende gedacht hatte, fragte ich mich, wie ich wohl reagieren würde, sollte ein in jeder Hinsicht übermächtiges, bösartiges Monster - bizarr anmutig - aus dem Wald steigen und mich, fern jedem Intellekt, aus einem Augenlosen Gesicht anstarren.
Den Gedanken fand ich so faszinierend, dass er mich nicht mehr loslies. Ich erinnerte mich, wie mich einst - als ich selbst noch ein Kind war - auf einem Spielplatz nahe meines Elternhauses, ein ziemlich grosser Hund zu boden gedrückt hatte. Ich erinnere mich an die Ohnmacht, die ich angesichts des viel grösseren Tiers empfunden hatte, und auch die Angst. Also entschied ich mich in der Geschichte für die Erfahrung eines Kindes.
Was die Bogenschützen betrifft, so habe ich selbst keine konkrete Vorstellung davon, was sie sind. Vielleicht die gefallenen Menschen der alten Städte, aufgestanden und unfähig, Ruhe zu finden? Vielleicht aber auch lebende Bürger? Oder am ende vielleicht doch etwas leidig ähnliches, wie die Bestie, die den armen Protagonisten heimsuchte?
Nun, ich überlasse da jedem seine Eigenen Gedanken, aber wirklich schauerlich hat mich meine eigene Interpretation erwischt: "Was auch immer man versucht, um das Geschehene, die Erinnerung und die Wesen zu vergessen, man erwacht und erhält jeden Morgen die Bestätigung (wenngleich auch eine Früchteschale sicherlich angenehm erscheinen mag), dass man selbst weder von dem Geschehenen, noch der Erinnerung und ganz besonders von den Wesen, vergessen wurde.


Für Sonya. Hab dank.
(S.Rüesch, 2006 - Volketswil, Schweiz)
Stefan Rüesch, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.02.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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