Ronny Meyer

David

David saß neben seinem Vater auf einer Bank im Garten der Anstalt und betrachtete ihn lange und aufmerksam.
Seit er auf Entzug war, schien er sich verändert zu haben. Nicht nur rein körperlich, sondern auch vom Charakter her. Seine ehemals eingefallenen Wangen waren verschwunden, er sah lebenslustiger aus und überhaupt schien er dem Leben mehr zugetan als früher.
Und dann hatte sich da noch was verändert. Sein Wesen im Allgemeinen. Er saß nun nicht mehr tagelang vor Flaschen voll mit Whiskey und Schnaps und drehte sich einen Joint nach dem anderen, sondern fing an, seine Muse zu entfalten, das heißt, dass er anfing zu lesen, Gedichte zu schreiben und Bilder zu malen.
„Hast du schon mal in den Himmel geschaut und die Schönheit der Sterne bestaunt?“ David schüttelte den Kopf, aber sein Vater hatte es augenscheinlich nicht mitgekriegt. Trotzdem redete dieser weiter.
„Mit jedem Menschen, der geboren wird oder stirbt, entsteht ein neuer Stern oder verlischt einer.
Dave, hast du schon mal versucht, deine Gefühle zu zählen?“ David schüttelte wieder den Kopf.
„Es macht genau so viel Sinn, als ob du die Sterne zählen willst. Jeden Moment verschwindet eines und taucht auch wieder ein’s auf.‘
Auch wenn er mal clean war, laberte er manchmal Mist. Für David hörte es sich jedenfalls wie Mist an.
Aber das machte nichts, denn er musste nur clean bleiben. Wenn er nüchtern war, schlug er Davids Mutter nicht ständig, sondern respektierte sie.
Und er vermisste seine Mutter wirklich sehr.
Sie war damals abgehauen, als sie von dem ganzen Müll und den Schlägen genug gehabt hatte.
Er vermisste sie sehr. Doch sein Vater vermisste sie noch mehr.
Er sagte ständig, dass alles wieder in Ordnung kommen würde, wenn sie alle wieder zusammen sein würden.
Sie würden ihre Probleme schon bewältigt kriegen. Das Alkoholproblem und auch das Problem von David. David war autistisch, das heißt, dass er manchmal in seiner Welt lebte und nichts von der außerhalb seines Körpers mitkriegte.
Die Arzte hatten immer gesagt, dass es etwas damit zu tun hatte, dass seine Mutter während der Schwangerschaft geschlagen wurde und dadurch immer öfter zur Flasche gegriffen hat.
Doch David machte weder seiner Mutter, noch seinem Vater Vorwürfe.
Einer der Therapeuten hatte ihm einmal gesagt, dass er, so wie er ist, einzigartig sei. Und David glaubte ihm das. So oft, wie David bei den Therapiestunden anwesend gewesen war, erschien ihm der Doktor sehr nett und hilfsbereit.
David lebte in einer Welt, die völlig frei von Gewalt gegen ihn war, und in der er endlich das sein konnte, was er wollte. Er wollte schon immer Polizist werden, denn er hatte schon immer die Polizisten total cool“ gefunden. Jenen, der ihn damals aus dem Haus gerettet hat, als ein Junkie sich in die Luft sprengen wollte. Damals kam der Polizist durch die Hintertür und schoss dem Junkie, er hieß Jim und war ein Freund seiner Mutter, direkt in das Bein, bevor dieser den Tisch erreichen konnte, auf dem die Bombe lag.
David war jetzt schon wieder in seiner Welt. Diesmal jagte er einen Dieb, der das Halsband seiner Mutter geklaut hatte.
Dort war dies sein einziges Problem.

Steckt in uns allen nicht ein kleiner David?Ronny Meyer, Anmerkung zur Geschichte

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Ronny Meyer).
Der Beitrag wurde von Ronny Meyer auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.06.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Ronny Meyer als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Abartige Geschichten: Baker Street von Doris E. M. Bulenda



Oftmals nimmt das Abartige im Leben der Menschen einen deutlich größeren Raum ein, als man auf den ersten Blick meint.
Verschleiert hinter ihren Masken tragen sie vielerlei Dinge in sich, die wir nicht für möglich halten. Einige dieser Dinge halten sie selbst nicht für möglich. Es bedarf äußerster Vorsicht, hinter diese Masken zu sehen, damit die Menschen keinen Schaden nehmen.

Markus Lawo hat eine Reihe namhafter und noch nicht namhafter Autor*innen gefunden, um diese Abgründe zu ergründen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Alltag" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Ronny Meyer

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

kein erkennen von Ronny Meyer (Sonstige)
Gott von Julia Russau (Alltag)
TINI von Christine Wolny (Tiergeschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen