Irmgard Schöndorf Welch

MINOU 4. Buch: Die Odyssee geht weiter ( Roman )

 

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Während die 3 vorhergehenden Bücher meines Romans MINOU  schon überarbeitet sind, ist dieser noch ziemlich   'im Rohbau'. Ich poste ihn trotzdem, weil einige Leute mich in Emails gefragt haben, wie Minous Geschichte sich denn nun weiter entwickelt. :-)


 

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Nach:



Minou

Der Sizilianer

Erfahrungen




 beginnt hier das 4. Buch meines Romans


 

 Die Odyssee geht weiter


Hier führe ich die Kapitel des Romans im Vorhinein auf – damit Du, lieber Leser, es leichter hast, Dich durchzufinden.
 


Die Kapitel:


Prolog beim Psychiater
Jassu, Griechenland
In Rom
Fremdenführerin
Mannequin
Ruggiero
Kolleginnen
Modeschau
Fotomodell
Ruggieros Angelegenheiten
Plötzlich ist Nikos da
Abschied von Rom

*

München: Ares for ever
Wieder eine Reise
In Griechenland ... von neuem

*

Alles wird gut
Oder doch nicht

*

Lotti
Die Lösung
Die Attacke
Hilfe
Auf dem Meer

Angst
Trennung von Robi
Kasernierte Frauen
Besuch bei Robi. Säuglingsheim
Robis Taufe
Volksfest

Ein Zimmer in der Altstadt
Gerichtsvollzieher

Im Klara - Stift
Klinik Dr. Binderer

Der (Glamour)Job





wird fortgesetzt

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PROLOG BEIM PSYCHIATER

 

 

"Ach Herr Dr. Goldberg, ich hatte von Anfang an Probleme im Umgang mit Menschen", sagt Minou bei einem ihrer Telefongespräche. "Meine wechselnden Krankheitszustände machten mich labil, ich konnte mich nie auf die Kraft meiner eigenen Person verlassen und durch diese Labilität bin ich auch meinen Bekannten gegenüber immer unzuverlässig gewesen. Ich glaube, ich hatte zu viel mit mir selbst zu tun, als dass ich mich wirklich in die Probleme anderer hätte einfühlen können. Ich war ja ständig mit dem Überleben beschäftigt, wirklich ... einfach nur dem puren Überleben. Es fiel mir ziemlich schwer, halbwegs heil über die Tage zu kommen!"

"Sie haben mir erzählt, dass sie einmal im Campeggio in Sizilien einer Köchin ihr wertvolles Armband schenkten, an dem sie sehr hingen ... nur, weil sie Ihnen gesagt hatte, dass es ihr gefiele. Also ... scheinen Sie ja soo egoistisch doch nicht zu sein!"
"Ach damals ... ja, sie hieß Maria ... die waren alle ungeheuer arm da unten ... Nachher hat mich ihr Mann immer argwöhnisch angesehen. Ich war ihm nicht geheuer. Vielleicht dachte er, ich wolle etwas von seiner Frau, die wirklich jung und hübsch war. Und Maria ging mir von da an errötend aus dem Weg!"

"Das war schon eine sonderbare Idee, das Armband so einfach wegzugeben."
"Noch dazu, wo ich es von Ernando bekommen hatte. Ich tat es aus der Stimmung eines Augenblicks heraus", sagt Minou, "aber ich glaube, ich hatte kein wirkliches Talent zur Freundschaft und gab nicht genug von mir. Doch ich war auch nicht fordernd anderen Menschen gegenüber ... das kann ich ehrlich behaupten."

"Na ja." Der Doktor räuspert sich.

"Sie haben es versäumt, sich Netzwerke aufzubauen", sagt Dr. Goldberg, "Sie hätten sich einen festen, sicheren Freundeskreis schaffen müssen. Den braucht man im Leben. Menschen, denen man einmal einen Gefallen getan hat, werden das normalerweise eines Tages zurückgeben. Eine Hand wäscht die andere.

"Ich hab‘ nie über sowas nachgedacht", sagt Minou. "Manchmal wundere ich mich überhaupt, wie ich bis jetzt überlebt habe! Als ich jung war, hatte ich   kein Gefühl für Materielles, auch nicht den Wunsch, an Dingen oder Menschen festzuhalten und war schon gar nicht fähig, mein Leben zu planen ... ich glaube, ich war von innen her ohnehin nicht überzeugt, dass ich es schaffen würde."

"Aha", sagt der Therapeut.

....

 



Was vorherging:



Was vorherging:

 

Hermine Kern ( Minou ) ist 21 Jahre alt. Schon früh - mit 17 - reißt sie von Zuhause aus. Es folgen Aufenthalte in Sizilien, London und auf einigen Inseln in der Ägäis. Nun ist sie auf Paros. Das Jahr 1960......

 

 



 

Jassu, Griechenland



Jerry und Tomas sind am Morgen mit dem Schiff von Paros  in Richtung Ägypten abgereist. Erst wollte Minou mitfahren. Auf halbem Weg zum Hafen verließ sie aber doch der Mut  und  sie  floh zurück  in die Pension, wo sie nach durchwachter Nacht  endlich erschöpft einschlief.  

Als Minou am Nachmittag aufwacht, ist ihr Leben verändert. Sie ist allein ..
Ich werde auch in Zukunft allein sein. Was mache ich überhaupt noch hier? schießt es ihr durch den Kopf und schon fällt die Einsamkeit über sie wie ein kaltes, weißes Tuch. Und Panik ...

Sie muss weg hier, weg aus Griechenland. Ihre Sachen sind ohnehin schon gepackt. Sie verabschiedet sich nicht von Mary und Edith, auch nicht von Sofia oder den Amerikanern, mit denen sie zu Jerrys Zeiten doch fast täglich unterwegs gewesen ist. Sie interessierten sich ohnehin nur für den Mann aus Alexandria ... mich haben sie eher als sein kleines Anhängsel in Kauf genommen, denkt sie. Dann fährt ihr noch der Gedanke an den rotgesichtigen Mister Munt ins Hirn, mit dem ihr Geliebter sie am Ende hatte zusammenbringen - nein verkuppeln - wollen. Und er hatte erwartet, dass sie es ihm vielleicht sogar danken sollte.  War das die Macho-Art, eine zurückgelassene Geliebte zu versorgen? Eine, derer man sich zu sicher ist und die man nicht mehr respektiert.  Minou ist   verletzt und  ratlos. Und überhaupt ... die Probleme, die sie im Zusammensein mit anderen Menschen ohnehin hat, türmen sich in ihren Gedanken wieder himmelhoch. Ihre Trauer um Jerry, aber auch Scham und Minderwertigkeitsgefühle, gepaart mit dem Wissen um ihr schreckliches, krankes Aussehen !! halten sie von jedem Versuch ab, die alten Bekannten noch einmal zu treffen und sich zu verabschieden. Dazu kommt die Furcht, allzu aufmerksam beobachtet, doch nicht verstanden und auch nicht geliebt zu werden UND ... den anderen unterlegen zu sein.

Sie macht sich also heimlich mit der Nachmittagsfähre davon.

Am Piräus angekommen, fährt sie nicht nach Athen hinein, sucht weder Kontakt zu Christina, noch holt sie das restliche Geld, das der Avvocato für sie aufbewahrt. Sie schafft es einfach nicht. Ihr Selbstbewusstsein ist jetzt auf dem Nullpunkt. Sie findet sich zu hässlich, zu sehr gebeutelt, um auch nur einer Person, die sie kennt, in diesem Zustand unter die Augen zu treten. In direkter finanzieller Not ist sie ja nicht. Sie hat noch genug Mittel, um einige Monate zu überleben. Irgendwann später würde sie Kontakt mit dem Avvocato ...

Auf einem dieser weißen Passagierschiffe - diesmal in der Ökonomieklasse - fährt sie zurück nach Brindisi - oder ist es Bari? - Sie weiß es nicht mehr. Ist auch gleich. Und dann nimmt sie den Zug nach


Rom. 

 

 

Dort angekommen, sitzt sie erst unter der Glaskuppel am phänomenalen Hauptbahnhof, später unter einem unglaublich verheißungsvollen Himmel in einem Straßencafé nah beim Petersdom und trinkt Espresso, während das Leben in seiner   Fülle um sie brandet. Die Stadt verlockt Minou  zu neuer Hoffnung. Die Straßen quellen über von Geschäftigkeit und prallem Leben. Hier wird sie eine Weile bleiben.  Dann kann sie immer noch weiter sehen. Sie verliert sich derart in die Betrachtung der Umwelt, dass sie die eigene Person ganz vergisst. 
Sonderbar wie man die Touristen aus allen Ländern – männliche und weibliche - sofort erkennt. Sie sind geschmacklos angezogen, mit Schlabbersandalen, Bermuda-Shorts die fast keinem von ihnen stehen, mit Blusen oder Hemden, die immer irgendwie um Brust und Bauch aufgebauscht und hochgerutscht sind, Leute, deren Körperproportionen unästhetisch wirken. Die Einheimischen dagegen tragen normale Straßenkleidung: elegant, dezent.
Groß und schön sind viele dieser römischen Männer, adleräugig, hochmütig, mit klassischen Profilen, edlen, scharfgeschnittenen Nasen.

  Minou ist schon einmal in der ewigen Stadt  gewesen. Sie zieht sofort in die Jugendherberge ... dort sind Unterkunft und Essen billig.  Gleich am ersten Abend gerät sie in eine Schar  romantischer Landsleute, Party im Freien, Lagerfeuer, ganz germanisch mit Wanderliedern und Klampfenklang: Jenseits des Tales standen ihre Zelte ... zum roten Abendhimmel ... und so ...

Es geht unter den abgebrannten Rucksack-Touristen die Kunde um, ein Veranstalter von Stadtrundfahrten suche deutschsprachige Fremdenführer/ innen. Man müsse nur in einer Prüfung Kenntnisse über 'Römisches' vorweisen. Geschichte, Kultur. Also, das kann man sich ja anlesen. Minou kauft einen ‚Rom-Führer‘ und weil damals ihr Kurzzeit-Gedächtnis extrem gut funktioniert, prägt sie sich in zwei Tagen eine Menge Daten ein,  alles Wissenswerte über Päpste, Monumente, berühmte Baumeister, Wissen, das sie ebenso schnell und ebenso radikal bald wieder vergessen wird. Und sie legt sich ein paar - hoffentlich unterhaltsame - Anekdoten für die Touristen zurecht, Material, das sie ebenfalls in dem Buch gefunden hat. Sie ist geradezu euphorisch, als sie sich zu der Agentur aufmacht.

*


FREMDENFÜHRERIN

Man stellt sie tatsächlich ein. Ihr neuer Job lässt sich gut an. Sie fährt im Bus einer Reisegesellschaft mit und gibt durch ein Mikrophon kurze Erläuterungen über die Sehenswürdigkeiten, an denen man im Schrittempo vorbeirollt. Beim Petersdom, dem Forum Romanum, der Engelsburg, dem Colosseum steigt sie mit ihren Touristen aus.

Nun führt Minou die Gruppe. Wenn einer der Leute eine komplizierte Frage hat, wirft sie rasch ein- zwei Blicke in ihr schlaues Büchlein, bekommt dann unter fröhlichem Gelächter ihrer Schutzbefohlenen irgendwie eine Antwort, mit Jahreszahlen und allem, zustande. Sonderbar, wie leicht das alles geht. Sie fühlt sich akzeptiert, sogar ein bisschen bewundert und ihr Selbstbewusstsein erholt sich wieder. Und dass sie noch einige Lücken in ihrer Rom-Bildung hat, macht nichts, die große Mehrzahl der deutschen Touristen kann ohnehin nicht schnell genug von einer Sehenswürdigkeit zur anderen rasen. Fotografieren ist ihnen anscheinend wichtiger als  Erklärungen.   Da bleibt Minou kaum Zeit, die launischen Anekdoten und Extras vorzubringen, die sie einstudiert hat. Aber aufregend ist der Job. Endlich wieder ist sie Teil des bunten,  vielfältigen Lebens, ein nützliches, respektiertes Mitglied der Gesellschaft. Die Fremdenführer-Tätigkeit, sogar die Hektik,  bereitet ihr  großen Spaß.

Dann macht ihre Gesundheit wieder einmal schlapp.

Diese Durchfälle! Wie soll sie nach übler, schlafloser Nacht und von Darmkrämpfen  gebeutelt mit einer täglich wechselnden Schar energiegeladener, wissensdurstiger Landsleute in der Hitze Roms von Monument zu Monument rasen? Sie muss sich schon nach knapp zwei Wochen krank melden. Natürlich ohne Arztbesuch, ohne Absicherung.

*

 

 

MANNEQUIN

Eine Woche später sieht sie zufällig eine Annonce in der Zeitung. Geht zur angegebenen Adresse und tatsächlich ... innerhalb von fünf Minuten hat sie einen neuen Job. Als Haus-Mannequin bei einem Modeschöpfer! Das überrascht sie, macht sie aber keineswegs nur froh oder stolz. Vage Angst hat sie schon vor den Anforderungen, auch weil sie weiß, dass sie nur manchmal schön ist und schon am  Tag darauf wieder furchtbar krank und hässlich aussehen und sich entsprechend fühlen kann.

Leicht unsicher, doch sehr neugierig, tritt sie am nächsten Morgen   pünktlich um halb zehn Uhr morgens ihre Arbeit in der exquisiten kleinen Via dei Condotti an bei der Spanischen Treppe, nahe dem Café Greco. Die vornehmen Räumlichkeiten sind in einem hochherrschaftlichen Haus untergebracht, fast schon einem Palast .

Im zweiten Stock das Prunk-Entree mit deckenhohen, barocken Goldspiegeln! Dort werden den Kundinnen die Roben vorgeführt, dort vor all den Spiegeln muss Minou zum erstenmal im Leben ihr Aussehen und ihre Bewegungen genau überprüfen und stundenlang und immer wieder von allen Seiten kontrollieren. Dort muss sie erst einmal inmitten anderer junger Mädchen, das richtige Gehen auf hochhackigen Pumps üben.
Bald kann sie ziemlich zufrieden sein, was ihr Gesicht, was das anmutiges Schreiten auf überhohen Stöckelabsätzen und die Dünne ihrer Taille betrifft. Nur ihre Hüften machen ihr zu schaffen. Sie sind nicht so knabenhaft eng wie die der Kolleginnen. Gut, es handelt sich nur um wenige Zentimeter Unterschied ... aber immerhin. Minou muss von da ab, wie die anderen auch, beim Job stets ein schwarzes Mieder tragen, ein harsches Korsett. Zwei identische Exemplare lässt die Chefin genau nach ihren Maßen in einer Dessous-Firma für sie arbeiten. Nun wirkt Minou sehr dünn.

Mannequins müssen nicht sehr hoch gewachsen sein, damals. Die beiden anderen fest angestellten Mädchen, die Römerinnen Cecilia (Sissi ) und Lucia erreichen ohne high heels knapp 170 cm. Minou misst gerade einmal 168 cm. Das ist normal. Nicht nur für Haus-Mannequins. Auch die berühmten, schon arrivierten Models, die für die wichtigen Shows gebucht werden, sind selten größer.

Die Chefin, zirka fünfundvierzig Jahre alt, mit üppigem, schwarzem Haarknoten, klein, sehr schlank und immer in elegante, dunkle Kostümchen gekleidet, spielt ihr eigenes, gutes Aussehen dezent herunter, trägt kaum Schmuck und kein Make-up, damit die Individualität und Farbigkeit ihrer exzentrischen Kundinnen desto augenfälliger zur Geltung kommt. Die Chefin betreibt das, was man heute ‚public relations‘ nennt, während sich die eigentliche Hauptperson, ihr Vater, der berühmte Modeschöpfer - ein altes, mageres, freundliches Männlein - mit seinem Team von Schneidern und Näherinnen im Hintergrund verborgen hält.

Minous Wirkungsbereich ist die weitläufige, mit malvenfarbenem Teppichboden und einer exquisiten Sitzlandschaft ausgestattete Empfangshalle. Dort führen die beiden römischen Mädchen und sie den Kundinnen die Roben vor.

Aber sie müssen auch – weit weniger glamourös – in den Ateliers als wahre ‚Mannequins‘, als lebende Schneiderpuppen herhalten. An ihnen werden die neuesten Entwürfe immer wieder verändert, verbessert. Stundenlang müssen Minou und ihre Kolleginnen dabei stehen, während der Padrone und seine Leute den Werdegang eines neuen Modellkleids an und auf ihren Körpern ausprobieren.

Ständig wuselt jemand mit Nadelkissen und Schere um die Mädchen herum, steckt hier einen Saum ab, näht dort ein Accessoire fest.
Angenehm dagegen ist das Warten und Nichtstun in der Aufenthaltskabine. In Zeiten des Leerlaufs sitzen die drei, eine jede nur mit Mieder und Stöckelschuhen bekleidet, vor dem Frisierspiegel, beäugen akribisch ihr Make-up, probieren an ihrem Lächeln herum, um es noch verheißungsvoller leuchten zu lassen, testen die Attraktivität und Beherrschung ihrer Gesichtszüge, die Makellosigkeit von Zähnen und Decolleté. Minou ist mit ihrem Anblick zufrieden. Ihre Brüste sind perfekt, größer als die der beiden anderen, das stellen die lachend fest. "Meravigliose", sagt Lucia.

Sie rauchen Zigaretten, unterhalten sich über Gott und die Welt - also über alles, von dem sie keine Ahnung haben und warten, bis es wieder ans Kleider-Vorführen geht. Minou spricht etwas englisch, dolmetscht manchmal bei den Verkaufsgesprächen zwischen Chefin und Amerikanerinnen.

Die Stammkundinnen aus Übersee, teils erfrischend originelle Ladies, haben einen äußerst merkwürdigen Geschmack, der den der jungen Models und auch der eleganten Römerinnen auf der Straße in nichts trifft. Diesen Geschmack bedient der Maestro Padrone aber bedingungslos und unterstützt ihn sogar noch tatkräftig. Die Kleider und Hüte, die man den schnattersamen Matronen verkauft, reizen Minou und ihre Gefährtinnen oft zu Lachattacken, wenn sie nachher unter sich sind. Und doch haben solche Frauen eine positive, kraftvolle Aura um sich, eine Erhabenheit und Souveränität, die nur ein nie verebbender Geldsegen und ein bis in alle Einzelheiten abgesichertes Leben schaffen können, denkt Minou.

Der Modesalon liegt auf der engen Via dei Condotti etwas schräg gegenüber dem weltberühmten Laden eines Juweliers, wo die Mädchen auch einmal zu einer abendlichen Party eingeladen werden. Als schmückendes Beiwerk sozusagen. Zur verborgenen Freude der anwesenden Herren , die fast alle mit Gattinnen oder Damen gekommen sind. ‚La dolce vita‘ macht sich höchstens in der Eleganz der Gäste, dem kostbaren, kulinarischen Aufgebot am Buffet und den Gesangseinlagen einer Operndiva bemerkbar. Sissi, Lucia, Minou und auch die Models eines anderen Salons, erscheinen samt ihren Chefinnen im kleinen Schwarzen und werden mit hauseigenem Schmuck der Firma reichlich behängt, den sie dann bei einem Défilé präsentieren, aber auch den Rest des Abends über tragen dürfen. Gut ... die jungen Mode-Mädchen werden im Lauf der wenigen Stunden hofiert, es gibt züchtige Komplimente ... Die Veranstaltung ist eine äußerst ästhetische, seriöse.

Sissi, Lucia und Minou verlassen um Mitternacht, ehrbar und ohne Männerbegleitung gemeinsam mit der Signora das Fest. Ohne Schmuck natürlich auch, den man ihnen mit viel weniger Aufwand als beim Anlegen, kühl und rasch wieder abnimmt.

Minou wohnt in einem einfachen Hotel. Einem billigen Hotel. Ihr Zimmer ist mit abgenutzten Möbeln bestückt, der Blick aus den beiden Fenstern jedoch überwältigend. Besonders am Abend, wenn unter ihren ungläubigen Blicken das lichtdurchflutete Band der Via Veneto leuchtet. Der Flanierstraße. Straße der gleißenden Cafés, deren Tische und Stühle sich, eng zusammengeschoben, draußen auf den Bürgersteigen fortsetzen und bis zum letzten Platz besetzt sind mit jenen schillernden Leuten, die sehen und gesehen werden wollen. Treffpunkt der Schickeria, der Nachtschwärmer, Flaneure. Und dazu der unaufhörlich vorbeifließende Corso der edlen Luxus-Cabriolets mit ihren unternehmungslustigen Besitzern.

Später dann in der Nacht, wenn sich die Straßencafés so ziemlich geleert haben und die Flaneure und Rom-Reisenden endlich schlafen gegangen sind, schlägt die Stunde der aufgestylten, königlichen Huren. Vielleicht ist es aber auch so, dass ihr lebhaftes Tun erst dann augenfällig wird, wenn der größte Menschenpulk sich verflüchtigt hat. Minou - am Fenster im zweiten Stock ihres Hotels hat den reinsten Logenplatz, ganz nah am Geschehen. Von Dekadenz und düster- verkommener Straßenstrich-Atmosphäre - wie sie sich so etwas immer vorgestellt hat - ist dort nichts zu spüren. Im Gegenteil ... als sie einmal über eine Stunde lang neugierig das Treiben beobachtet, beneidet sie diese Frauen um ihren vitalen Charme, ihre gute Laune, die Anmut und Lockerheit ... Huren, die den Wirbel, den man um sie macht, richtig gut finden. Übersprudelnde Lust an ihrem Rollenspiel und unbeschwertes, auch sehr lautes Gelächter, dringt zu Minous Fenster hoch. Na ja ... die potentiellen Kunden, die hier mit ihren teuren Machinas vorfahren, sind ansehnlich, braungebrannt und gut gelaunt. .Die leichten Damen und ihre Freier scheinen schon im Vorfeld der Vereinigung, während noch die 'Geschäftsverhandlungen' laufen, auf der gleichen Wellenlänge. Alles tönt wie ein großer Spaß. Übrigens sieht Minou sowohl die Mädchen, als auch die Kunden nur in kleinen Grüppchen. Niemand ist ganz allein auf der Pirsch.. Ja, da sind wirklich Freudenmädchen im wahrsten Sinn des Wortes beisammen, die anscheinend nicht aus Drogensucht oder materieller Not hier stehen, sondern aus Liebe zum Beruf. Souverän wie Herrscherinnen lassen sie sich umwerben ... die Atmosphäre wirkt extrem positiv, denkt Minou überrascht. Oder kommt ihr das Treiben nur so vor, weil sie selbst in so guter Stimmung ist?

Denn, so interessant die Vorgänge auf der Via Veneto um halb zwei Uhr nachts auch sein mögen, sie hat wenig Zeit, sie voyeuristisch zu genießen, denn sie ist nicht mehr allein. Da ist Ruggiero.

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RUGGIERO



Sie wohnen beide auf der gleichen Etage dieses Via-Veneto-Hotels. Der Zufall weht ihn ihr über den Weg. Eines Morgens sieht sie ihn im Flur, als er im weißen Frotteemantel aus der Gemeinschaftsdusche kommt. Einer dieser sehr hochgewachsenen Römer mit einer Haltung, die sie augenblicklich an einen Gladiator in italienischen Historienfilmen erinnert. Bei seinem Anblick hüpft ihr das Herz fast aus dem Hals. Ganz Schönheit und Kraft ist er, seine Haut latino-dunkel, das Haar schwarz, üppig, gelockt, kurz und stilvoll geschnitten. Brust und Unterarme von reichlich schwarzem Flaum bedeckt, ohne den Minou sich Männlichkeit nicht denken kann. Ein hartes, interessantes Gesicht. Er hat alles ... er ist ein Wunder! Verliebt sie sich auf den ersten Blick? Oder ist es nur Begehren? Und wie fühlt er? Denn er sieht sie ernst an ... Spürt er ihre Einsamkeit, ihre tiefe Verunsicherung? Er nimmt sie mit kaum merkbarem Lächeln in die Arme, einfach so, sie, die ihm ebenfalls im Morgenmantel, klein, fast schüchtern mit ihrem Toilettenbündel in der Hand über den Weg läuft. Er nimmt sie, trägt sie in sein Zimmer und auf sein Bett. Sie wehrt sich kaum, er lässt ihr auch keine Zeit zum Überlegen. Nach dem Liebesakt weint sie. Erschüttert. Es ist, als habe er sie erlöst. All die Spannung der letzten Wochen ist von ihr abgefallen . Es war schön, es war schön mit ihm. Minou fühlt sich leicht und glücklich.

Später lässt er Espresso und ein Frühstück für sie beide heraufkommen und sie liegt entspannt und in seine Arme gekuschelt. "Ich bin nicht der böse Wolf, für den du mich jetzt halten musst", sagt er.
"Ich glaube aber doch", sagt sie und fühlt sich auf unglaubliche Weise geborgen in seinen Armen. Ein Mann, der alles hat, was sie braucht. Von da an sieht sie ausschließlich ihn. Nichts und niemand sonst zählt.
"Du bist so leicht zu lieben", sagt er. So ist es wohl. Jetzt sind in Minou die Gedanken an Jerry und sogar an Ernando wie weggeschwemmt..

Sex, Sex! Aufwühlenden, überaus wirkungsvollen Sex schenkt er ihr. Das heißt, er bumst mich, dass mir Hören und Sehen vergeht, das wäre drastischer, doch ehrlicher ausgedrückt, denkt sie. Aber nein, sie schämt sich, so etwas zuzugeben, sogar vor sich selbst. Für sie ist es ja viel wichtiger, dass sie von ihm geliebt wird, dass sie seine menschliche Wärme spürt. Sex ohne innige Liebe wäre für sie undenkbar. Die reine Katastrophe. Und wenn es von seiner Seite vielleicht doch nicht die große, ernste Liebe ist, so will sie das nicht wahrhaben. Allzu bedürftig ist sie nach seelischer Berührung, nach Aufgehobensein. Diese Wünsche erfüllt er. Bildet sie sich ein. Minous Anlehnungsbereitschaft wächst mit der Zahl der gemeinsamen Nächte. Sein Umgang mit der Sinnlichkeit ist frei, leicht, unproblematisch.

Auch er ist Dauermieter hier im Hotel. Dauermieter, vorübergehend, wie sie, haha. Er lädt Minou abends häufig zum Essen nach Trastevere ein. Er ist witzig. Voller Leben. Und er kennt Gott und die Welt. Ruggiero. Sie weiß nicht einmal, ob er mit Vor- oder Familienname so heißt. Alle nennen ihn so. Ruggiero.

Einmal kommen sie auf die Insel Sizilien und auf Siracusa zu sprechen, wo Verwandte von ihm wohnen. Sie erzählt ihm mit plötzlich aufflammender Wehmut von Ernando. Da will er alles genau wissen. Ernandos Lebens- und Vermögensumstände. Seine Familienverhältnisse. Mit neugierigen Fragen irritiert er sie.
"Warum kommst Du immer wieder auf ihn zu sprechen?"
"Ich werde Kontakt zu ihm aufnehmen", meint Ruggiero, "werde mit ihm reden. So von Italiener zu Italiener. Deinetwegen."
"Hör auf ... was hast denn DU mit ihm zu schaffen?"
"Ich werde ihn so weit bringen, dass er herkommt, dein sizilianischer Graf!"
"Was soll das? Er will schon lang nichts mehr von mir!"
"Wetten, dass er doch ... Gib mir Namen und Adresse!"

Natürlich tut Minou das nicht. Freundlich hat sein Interesse für Ernando nicht geklungen. Von was lebt Ruggiero eigentlich? Und warum will er Kontakt mit dem Conte aufnehmen? Sie traut ihm Sonderbares zu, will aber nicht wirklich darüber nachdenken. Zu angenehm ist sein Körper, zu aufwühlend sein Liebemachen, zu sehr hat sie sich an das Beschützsein in seinen Armen gewöhnt, wenn sie abends von ihrem Job und neuen Erlebnissen heimkommt.

Aber echte Seelenwärme bekommt Minou von ihm nicht. Nicht jene, die sie ersehnt und die sie dann doch nicht näher definieren könnte. Er flunkert ihr nicht einmal vor, dass er sie liebt. Er mag sie gern, das spürt sie, er akzeptiert sie bis zu einem gewissen Grad. Übersieht großzügig ihre Schwächen. Er akzeptiert das Kleine, Hilflose in ihr. Wenn sie ihre irgendwie ungestillte Gier nach Halt und größerer Nähe durchblicken lässt, tut er väterlich, wird aber unsicher.

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KOLLEGINNEN

Die Wochen vergehen. Minou und ihre beiden Kolleginnen haben sich eng aneinander angeschlossen und erleben auch privat in ihrer Freizeit viel miteinander. Wie herrlich ist es, in den Mittagspausen auf der Spanischen Treppe oder im Café Greco zu sitzen, stets umringt von reichen Söhnchen, die mit ihren Luxusautos prahlen und sie zu Vergnügungsfahrten einladen. Dass die drei Mädchen Models sind ‘delle belle Modelle’, hat sich unter den jungen Lebenskünstlern herumgesprochen. Mit so einer möchte sich jeder gern schmücken, ganz gleich wie die Tussi sonst ist ... schon das Zauberwort ‚Modella‘ macht sie zu etwas Besonderem. ‚Una modella’ oder gleich zwei, drei im Cabrio spazieren zu fahren und mit ihnen durch die Via Veneto zu kurven, das gibt einem aufstrebenden jungen Macho erst die offizielle Weihe. Da ist es ganz gleich, wie zickig und spröde  die Damen sich auch sonst verhalten,

Sissi, Minous jüngste Kollegin, ist noch nicht achtzehn. Die blond gefärbte Römerin kommt aus ärmlichen Verhältnissen. Für sie zählen in erster Linie ihr– kranker- Vater und die kleineren Geschwister, denen sie zuhause mehr schlecht als recht, aber mit großem Ernst die verstorbene Mutter zu ersetzen sucht. Sie kommt nur halbtags in den Modesalon und sieht den Job eher als Erholung von der Hausarbeit und tägliche Flucht in eine schönere Welt. Mit dem Lohn hilft sie, die Familie über Wasser zu halten. Außerdem hofft sie, dass ihr dieser relative Glamour und die bessere Garderobe, die sie inzwischen trägt, vielleicht dazu verhelfen, einen wohlhabenden Mann auf sich aufmerksam zu machen. Dio mio, sie ist so vernünftig! Ihr Ziel ist Heirat, sind eigene Kinder und ein bisschen Luxus für Vater und die Geschwister. Sie kommt morgens mit roten, rauen Händen und gesplitteten Fingernägeln, die sie dann schnell im Ankleideraum mit Lanolin-Creme und Nagellack halbwegs auf die Reihe zu bringen versucht. Wegen ihrer Hände wurde sie schon von der Chefin wütend angeschrien. Sie sagt aber, sie müsse zuhause täglich kochen, spülen, putzen. Das sei nun einmal so. Minou hält Sissi - ihr eigentlicher Name ist Cecilia - für eine Jungfrau und das ist sie bestimmt auch. Ihre moralischen Grundsätze sind geradezu ... archaisch. Dieses Mädchen flirtet auf Teufel komm heraus und bleibt doch keusch. Aber wirklich keusch. Sie ist eine, die sich von ihren Verehrern nicht einmal ‚befummeln‘ lässt.  Sie hat auch schon – abgesehen von hochinteressierten, aber noch unentschlossenen Bürschchen - einen   seriösen Heiratskandidaten an der Angel, einen verwitweten adligen Mann, von zirka fünfundvierzig Jahren und  unansehnlicher Statur, aber angesehener Position, der ihr hartnäckig, wenn auch recht einfallslos, den Hof macht und es auf Heirat abgesehen hat.

 

 

Lucia, die andere Kollegin, ist zweiundzwanzig. Minou bewundert und ... liebt sie. Sie ist wunderschön, sensibel, ja vielleicht sogar labil und wie Minou auch, ständig von problematischen, unglücklichen Liebesbeziehungen gebeutelt. Eine Verwandte ihrer Seele. Sie sind auf der gleichen Wellenlänge und verstehen sich oft ohne Worte. Lucia hat ebenfalls wenig Schulbildung, hat bisher noch in keinem Job Fuß gefasst. Diesen hier macht sie zum Zeitvertreib und sicher auch, weil sie sich gern mit ihrer eigenen Schönheit befasst und sich nicht sehr viel anderes zutraut. Eigentlich brauchte sie nicht zu arbeiten. Ihr Vater kommt für ihren Lebensstandard auf. Doch es ist in Italien auch für reichere Töchter chic geworden, einer regelmäßigen Tätigkeit nachzugehen. Lucia mit ihren grünen Augen, dem natürlichen, tizianroten Haar, dem empfindlichen Porzellanteint wirkt trotz ihrer Jugend reif, fast zu ernst. Sie sieht älter aus, als sie ist. Sie ist sehr an Kultur interessiert und verkehrt auch in intellektuelleren Kreisen. Sie nimmt Minou hin und wieder mit ins Theater, zu Kunstausstellungen in die Museen, oder zu Vernissagen. Alles Ereignisse, für die Lucia kostenlose Einladungen zu bekommen scheint und wo sie immer Freunde antrifft. Lucias Familie scheint zur Oberschicht zu gehören.

Minou liebt dieses Mädchen auf ihre unbedachte, unreflektierte Art, wird sich dieser großen Zuneigung aber erst viel später bewusst, als sie längst wieder zurück in Deutschland ist. Da fängt sie an, um Lucia zu trauern.

*

 



MODESCHAU



MODESCHAU

 

 

Minou macht zwei große Fashion-Shows ‚ihres‘ Modesalons an zwei aufeinanderfolgenden Tagen mit. Die Chefin hat vorher angeordnet, dass das ziemlich helle Haar der Deutschen pechschwarz eingefärbt wird. Dazu wird sie in den Schönheitssalon geschickt, in dem alle Models der Stadt auf Glamour getrimmt werden, wo der Maestro die Deutsche persönlich in Empfang nimmt und stylt. Die Chefin hat sich Minous Verwandlung zur südlichen ragazza ausgedacht, weil sie bei der Show das Brautkleid tragen soll. Und erst an einer Dunkelhaarigen würden die blütenweißen Brüsseler Spitzen und die Wolken von Organza richtig zur Geltung kommen.

Die meisten rabenmähnigen, italienischen Models wollen damals hellblond sein und setzen ihre Wünsche mit Hilfe der Friseure auch in die Tat um. Rom ist voller glutvoller Model-Grazien, an denen nur eines nordisch ist - das Haar. Minou IST von Natur beinahe blond und die Signora will sie pechschwarz haben!!

Dann kommt der Tag der Show. Minous Gesicht wird maskenhaft mit einer Art Paste zugekleistert, die Augen strahlen ihr blau aus den Spiegeln entgegen. Blau! Das kommt von all dem Lidschatten – und riesengroß sind sie wegen der Belladonnatropfen, die man in sie hineingeträufelt hat.

Am Ende der Vorführung trägt sie das kostbare, weiße Brautkleid mit dem langen Schleier, den sie, über den ausgestreckten Arm drapiert, kunstvoll hinter sich her über den dunkelblauen Teppich schleift.

"Das Brautkleid hat dich total herausgerissen, die Leute waren begeistert", sagt die Chefin später.
Minou, wieder einmal linkisch, irgendwie total überfordert, bekommt tatsächlich da ihren größten Applaus. Aber wahrscheinlich ist das normal, die Braut wird immer gefeiert.

Auch in den Bikinis scheint sie keine schlechte Figur gemacht zu haben, denn die Inhaberin einer Bademoden-Firma – sie war ebenfalls unter den Gästen - fragt sie noch am gleichen Abend, ob sie Aufnahmen für ihren Katalog machen wolle.
"O, ja!"
In dieser Show sind fünfzehn Mannequins mitgelaufen, darunter auch richtig berühmte Schönheiten, die eigens für diese Show gebucht worden sind,  aber gerade sie, Minou, haben diese Leute fürs Fotoshooting ausgewählt!!

‚Vielleicht, weil sie mich für naiv hielten, weil sie merkten, dass mir ein Gespräch über Honorar peinlich war und ich Bezahlung nicht wirklich erwartete. Vielleicht nahmen sie mich, weil die ‚guten‘ Models einfach zu teuer sind, wird Minou später denken. Und in dieser Überlegung ist wohl eine Menge Wahrheit. 

Jetzt aber ist sie sehr stolz auf ihren Erfolg .

*



FOTOMODELL

Ehrgeiz und Entschlossenheit packen Minou.  Aber auch Selbstzweifel. Sie fährt zwei Tage später pünktlich zum Termin in die Firma  im Herzen Roms. Vor Aufregung hat sie die ganze Nacht nicht geschlafen und ist total angespannt, voller Angst, fast Panik. Es hätte geholfen, wenn sie einen Begleiter gehabt hätte, eine menschliche Stütze, aber Ruggiero ist in diesen Tagen nicht in Rom. Sie muss da ganz allein durch. Dennoch sieht sie sich schon als aufgehenden Star, als sie zitternd die Räume betritt.

So viele Leute hatte sie nicht erwartet. Da sind mindestens acht hektische männliche Wesen. Fotografen. Und kein einziges anderes Fotomodel weit und breit. Das verschlägt ihr den Atem. Mehrere Kameras sind aufgebaut ... oder sind es teilweise nur Lampen, die aus allen Richtungen auf sie einstrahlen, sie blenden?

Zwei ältere Frauen reichen ihr immer schnell in einer Kabine Badeanzüge, auch Bikinis ( züchtige! ), die sie in rasender Eile wechseln muss, weil die draußen es eilig haben. Die sind irgendwie in Zeitdruck, scheint es. Sie akzeptieren praktisch jede von Minous sicher total verklemmten Posen, wo sie doch gedacht hat, dass jede Aufnahme liebevoll und ästhetisch perfekt gestellt werden müsse.

Also, man beachtet Minou - für ihr Dafürhalten - viel zu wenig. Alles geht fremd und professionell vor sich.

Die Leute scheinen nicht gut gelaunt, reden kaum mit ihr und zeigen kein Interesse an ihr als Person - wo doch ständiges Angeflirtetwerden, wo Leichtigkeit und Charme der römischen Männerwelt für sie schon zur täglichen Gewohnheit geworden sind!

Die Fotografen behandeln sie nicht einmal als Frau - so empfindet sie es - eher als Neutrum:
"Drehen Sie den Kopf dort hinüber, lächeln Sie jetzt bitte, strecken sie die Hüfte etwas weiter nach rechts ... danke!"
Sie haben eigentlich nichts auszusetzen, verfahren aber ziemlich lieblos mit ihr, loben nicht, tadeln nicht ...
Minou spürt einfach, dass sie eine ungelenke Figur macht und sehnt sich nach mehr Beratung.

Sie hat das Gefühl, es sei erst eine halbe Stunde vergangen, als das ganze Shooting schon vorbei ist:
"Abbiamo finito!"
"Wir haben fertig!"

Minous einziger Gedanke danach: Die ... taten wahrscheinlich am Schluss nur noch so, als zögen sie ihr Pensum für den Katalog durch. Vielleicht haben sie gar keinen Film mehr in den Kameras gehabt, so rasend schnell wie das Ganze auf einmal über die Bühne ging! Die haben gleich gemerkt, dass ich ungeeignet bin, unfotogen. Das ist doch nicht normal, wie sie jede meiner Posen unwidersprochen hinnahmen, Aber ... sie haben es vielleicht nicht der Mühe wert gefunden, sich näher auf mich einzulassen, denkt sie ... Ich bin gewogen und für zu leicht befunden worden!

Dabei hat sie sich ein neues Leben, eine Zukunft als ‚Fotomodell‘ schon irgendwie erträumt. Aber dann auch wieder überhaupt nicht vorstellen können.

Na ja, eine Lebenserfahrung mehr, wird sie sich später trösten.

Doch ihr Selbstbewusstsein ist sehr am Boden, wie die Männer sie so mit gleichmütigen Gesichtern, ohne Lächeln, ohne ein freundliches Wort entlassen. Das ist sie ja nun gar nicht gewohnt!

Sie ist noch immer verwirrt, als eine Angestellte sie dann ins Büro führt und ihr eine Zahlungsanweisung aushändigt. Das Shooting sei ja, Gott sei Dank, sehr schnell und problemlos über die Bühne gegangen und da sie hier nach Zeitaufwand bezahlten ... sagt die Frau mit unbeteiligter Stimme und bricht ab. Sie will wohl damit sagen, dass die Summe nicht sehr hoch ausfällt.

Als ob Minou etwas an diesem Geld läge! Für sie sollte das hier der große Anfang sein, der erste Schritt auf ihrem Weg ... wohin eigentlich ?? Ein bisschen Interesse und Ermunterung durch die Fotografen hatte sie schon erwartet. Jetzt fühlt sie sich fehl am Platz und empfindet es merkwürdig, für ihre unzulänglichen Model-Qualitäten auch noch bezahlt zu werden, wissend, dass sie höchstwahrscheinlich die kostbare Zeit der Kamera-Crew unwürdigerweise beansprucht hat.

"Die Signora möchte Ihnen gern noch einen unserer Badeanzüge schenken, suchen Sie sich doch bitte einen, aus", sagt die Angestellte.

"Oh". Überrascht wählt Minou den roten Bikini, den sie besonders liebt.

Die Besitzerin der Strandmodenfabrik, die nach der Show im Salon so sehr von ihr angetan schien, ist beim Shooting nicht einmal dabei gewesen und lässt sich auch jetzt nicht sehen.

Minou hat sich diesen wichtigen Tag wahrhaftig glamouröser vorgestellt, das muss sie ehrlich sagen. Sie ist enttäuscht und verdrängt die Angelegenheit gleich. Sie bringt auch später nie den Mut auf, sich nach den sicherlich verunglückten Fotos zu erkundigen, sucht keinen Kontakt mit der Signora, die sie angeheuert hat und hört auch nichts mehr von ihr. Sie wird auch nie nach den Katalogfotos  forschen .... wenn es sie denn mit ihr geben sollte ... sie will der Wahrheit nicht ins Auge sehen. Obwohl die Sache ja ebenso gut positiv verlaufen sein kann ...

*

 


RUGGIEROS ANGELEGENHEITEN

Ruggiero, ihr Geliebter, ist – als ob sie das nicht von Angang an gewusst hätte - ein ziemlich undurchschaubarer Mann. Er ist kein schlechter Mensch, nur ein Jongleur, der um sein Überleben kämpft, denkt Minou und mag ihn deswegen kein bisschen weniger. Als er sicher ist, dass sie ihm vertraut, dass sie sich an ihn gewöhnt und angelehnt hat mit ihrem ganzem Herzen, beginnt er langsam, ihr Dinge über seine Person preiszugeben.

Ruggiero lebt von Frau und Kindern getrennt. Sie wohnen in der Nähe irgendwo auf dem Land. Er sieht sehr jung aus und ist doch schon dreiundvierzig! Nie hätte Minou das gedacht. Sie glaubt es zuerst auch nicht. Sein Körper ist perfekt, sein Gesicht interessant, sinnlich, voller Kraft, denkt sie. Er ist tatsächlich ein besonderer Mann! Aber auch ein gebrochener Held, der mehr schlecht als recht und sehr unkonventionell am Rand einer  Welt  der Schönen und Reichen lebt. Ob er überhaupt in der Lage oder Willens ist, für seine Familie zu sorgen ... Minou weiß es nicht. Er redet nie darüber. Er geht keiner geregelten Arbeit nach ... obwohl er sich als Fotograf bezeichnet und es ihm hin und wieder zu gelingen scheint, ein paar neuere Prominentenfotos an Zeitschriften zu verkaufen ... Er kenne Leute wie Carlo Ponti und Sofia Loren persönlich, sagt er. Als Fotoreporter  habe er manchmal  mit ihnen zu tun. Er amüsiert Minou mit Anekdoten über ‚seine‘ Stars. So will er auf einer   Hausparty von der Loren zum Tanz aufgefordert worden sein. Eng habe sie sich an ihn gepresst, dass er die kieselharten Nippel ihrer grandiosen Brüste durch seinen Sacco habe spüren können. Obwohl ihr Gesicht und ihr Charakter ... sonderbar, sie habe wenig wirklich Anziehendes, er habe sie nicht einmal gemocht ...

"Aber als Frau?"
"Nein", sagt er auf Minous Frage, er hätte sich nie in sie verlieben können ...

Er hat in  italienischen Provinzstädten Schönheitswettbewerbe veranstaltet. Er, der Impressario.  Kartons mit Fotos dieser Aktionen bewahrt auf, die er Minou jetzt mit feierlicher Geste zum Begutachten vorlegt. Die Fotos  zeigen  ihn, Mikrofon in der Hand, lachend auf irgendwelchen Bühnen oder beim Feiern ... umringt von einem Kranz hübscher Mädchen.

Im Augenblick scheint seine Karriere jedoch einen Knick bekommen zu haben. Er begleitet Ladies. Betätigt sich als Tröster, Berater. ‚Ach was ... als Gigolo‘, denkt Minou. Sonderbare, interessante  Frauengestalten gehen bei ihm ein und aus. Verheiratete Damen? Vereinsamte? Exzentrische Einzelgängerinnen, Ausländerinnen. Reiche amerikanische Witwen, die in Rom hängen geblieben sind? Ruggiero versteht es, in seiner Person Dressman-Extrovertiertheit mit Seriosität und einem intellektuellen Touch zu verbinden. Gediegen hat er sein geräumiges Zimmer eingerichtet, mit wuchtigem, dunklem Schreibtisch, einem herben, kargen, sehr männlichen Bett, vielen Regalen bis zur Decke vollgestopft mit Büchern.

Allzu großen Erfolg scheint er allerdings - zumindest in letzter Zeit nicht zu haben. Anscheinend ist keine der  reichen Damen so sehr von ihm angetan, dass sie ihm ein luxuriöseres Leben finanzieren würde.

An mangelnder Manneskraft und fehlender Liebestaktik kann es nicht liegen, denkt Minou und muss grinsen ... oder ist auch er vielleicht unfähig, Forderungen zu stellen? Hat auch er ein irgendwie gebrochenes Verhältnis zu Geld und ‚Karriere‘?

*



PLÖTZLICH IST NIKOS DA

Ja Nikos! Er wartet vor dem Modesalon, als Minou in der Mittagspause mit Lucia und Sissi-Cecilia auf die Straße tritt.

"Ich habe in Rom zu tun, habe den Trip natürlich nicht deinetwegen unternommen, aber doch auch, um dich wiederzusehen", gesteht er später schmunzelnd, als sie sich im Café Greco gegenüber sitzen. Er scheint gealtert, kleiner, als sie ihn in Erinnerung hat, dünner auch, unansehnlicher als früher. Er verliert noch mehr, wenn sie ihn mit Ruggiero vergleicht. Aber sie ist dankbar, dass er da ist. Ein Gefühl tiefer Wärme, ja Zugehörigkeit springt sie an ... vergessen die Nacht seines Ausrastens damals in Catania. Ihr Vater, ihr guter Vater ist zurückgekommen, er wird sich um sie kümmern ... Im Augenblick der Wiedersehensfreude hat sie fast vergessen, dass sich in der Zwischenzeit vieles verändert hat.

O, er ist inzwischen verheiratet mit jener Jungen, Naiven, von der ihr Christina in Athen lachend erzählt hat. Ja, seine Frau sei auch hier in Rom, Gäste seien sie in der Villa seines Bruders.

Nikos sagt, Anna Maria, die Frau seines Bruders,  habe Minou zufällig bei der Modeschau gesehen und ihn sofort angerufen. Nun ja, der Romtrip sei ohnehin geplant gewesen. Und: Er möge sie noch immer, das könne sie sich doch denken. Er habe sich manchmal Sorgen um sie gemacht. Ob er etwas  tun könne, damit es ihr gut gehe.

"Wo lebst Du jetzt, Minou?"
Sie erzählt es ihm.
"Das ist sicher eine üble Absteige!"
"Ist es nicht!"
"Ich werde dich sofort da herausholen und eine ordentliche Wohnung für dich anmieten!"

Minou weiß nicht, ob sie das überhaupt will und das ist auch nicht der Grund warum sie noch am gleichen Abend mit ihm schläft. Es ist eher der alten Zeiten wegen ... for auld lang syne ... und er weint, während er sie in den Armen hält. Er küsst jeden Zentimeter ihrer Haut. Sein Gesicht, seine Art zu denken und zu reden ist ihr noch immer lieb und vertraut, aber sein Körper, der jetzt auf einmal deutlich die Zeichen beginnenden Alters zeigt, ist ihr fremd und sie will mit Nikos nicht intim in Berührung kommen. Ihre Liebe zu ihm ist immer eine platonische gewesen, trotz des Mit-einander-ins-Bett-Gehens gegen Ende ihrer Beziehung, denkt sie, und das ist sie noch. Aber er stößt fordernd in ihren Leib und sie lässt es geschehen, sie mag ihn ja gern. Nur ... hat das mit Leidenschaft und Lust nichts zu tun, denkt sie  und als er sie mehr und mehr mit seinen Wünschen konfrontiert, wächst in ihr der innere Widerstand. Auf einmal tut er ihr leid.

"Minou, du hast einen neuen Mann. Du bist verliebt?"
"Ja ... Nein ... Ich weiß nicht", sagt sie.
"Du bist und bleibst – ungreifbar", flüstert er, "du bist eine Unfassbare, du bist mir schon immer wie Wasser zwischen den Fingern zerronnen!

Aber er ist so bescheiden und dankbar für ihre nackte Anwesenheit. Ganz klein ist er, fast unterwürfig. Er weint. Diesen Mann hat sie bisher noch nie  weinen sehen.
"Agapimou" und "Minoukimou" haucht er ihr dutzende Male gerührt ins Ohr, während er sie schraubstockartig in seine Arme gepresst hält und wieder in sie eindringt und das alles macht Minou todtraurig und sie verwehrt sich ihm überhaupt nicht, aber sie kann und will ihm weder Glut noch Genuss vorspiegeln, während er sie nimmt.

Sie muss ständig an Ruggiero denken, der da im Nebenzimmer an seinem Schreibtisch sitzt und wahrscheinlich gerade vergeblich versucht, einen Filmstar telefonisch zum Fototermin zu bewegen. Sie würde am Liebsten hinüberrennen und sich an ihn lehnen.

Aber dieser Anstrengung bedarf es nicht mehr, denn, nur mit T-shirt und langer Hose bekleidet - steht der Römer plötzlich in ihrem Zimmer. Minou hatte ihm irgendwann  den Zweitschlüssel gegeben.  Wenn Ruggiero nun vor Eifersucht geschäumt hätte, wenn Nikos vor Peinlichkeit in den Boden versunken wäre ... aber nein ... Nicht wie Feinde, nicht wie Rivalen, sondern wie zwei, die sich zufällig auf gemeinsamem Terrain über den Weg laufen, blicken sie sich an  ... obwohl Nikos im ersten Moment extrem ... verdutzt scheint.

"Wir müssen ganz ruhig bleiben", sagt Ruggiero und reicht dem Griechen brüderlich    seine Hand hin. Dann stellt er sich vor. Nikos nennt ebenfalls seinen Namen, während Minou voller Scham die Bettdecke über ihre Brüste und ihr Gesicht zieht.

Und nun fängt Ruggiero an, Nikos zu überzeugen, dass es  vernünftig wäre, wenn sie sich beide um die Kleine kümmerten, dieses verletzbare, offensichtlich recht hilflose junge Geschöpf, ja sie brauche viel Wärme und Aufmerksamkeit.
"Wir sollten uns arrangieren, Signor Sakatis ... Wäre es nicht denkbar,  dass wir uns beide um ... Lassen Sie uns diesem Mädchen gemeinsam helfen!", suggeriert er seinem Gegenüber. 
 

Wenn Nikos nun wenigstens ein Wort der Wut, des Abscheus gebrüllt hätte ... aber nein, die beiden reden höflich miteinander wie zwei Geschäftspartner bei einer Transaktion, während Minou noch immer Körper und Gesicht unter der Bettdecke versteckt hält und die Männer ohnehin tun, als sei sie gar nicht anwesend und ihr Gespräch am Ende sogar recht locker und freundlich wird ... 

"Komm hervor, Kleine", sagt Ruggiero auf einmal lässig, "keiner von uns beiden ist böse auf dich!" 

*



ABSCHIED VON ROM

In der Folgezeit stellt Minou alles, was sie in Rom so macht, langsam in Frage. So kann das Leben auf Dauer nicht weiter gehen, das weiß sie. Auch dieser Job! Es war ja eine Weile interessant, sich in einem künstlichen Ambiente nur mit Kleidern und Schönheitspflege zu beschäftigen und auf das eigene Aussehen und den äußeren Schein zu bauen. Aber das schafft doch keinen Lebenssinn. Da ist die Sehnsucht in ihr, etwas zu tun, was Wert hat. So etwas wie eine Pflichterfüllung dem Dasein gegenüber. Bei ihr kann es nur die KUNST sein. Schon in der Schulzeit hatte sie gemalt und war immer von den Lehrern in der Zeichenstunde gelobt worden. Einmal hatte sie sogar für ihr Aquarell: ‘Bäume im Sturm’ einen Schülerpreis bekommen und das Werk war – zusammen mit zirka 300 anderen - gerahmt und unter Glas in der Brückenstadter Neuen Galerie ausgestellt worden, um dann auf eine Wanderausstellung durch ganz Deutschland geschickt zu werden, was Minou schon an ihre zukünftige Karriere als berühmte,  bildende Künstlerin hatte denken lassen!

In Catania hatte sie einst einen Versuch mit der Ölmalerei unternommen. Weil sie das schon so lange ... so lange ...  hatte tun wollen. Der gute Nikos hatte ihr Staffelei, Leinwand, Pinsel, Palette und Tuben mit den Grundfarben gekauft, sie morgens zu einem einsamen Strandabschnitt bei den Cyclopi gefahren und dort mitsamt ihrem brandneuen Equipment ausgesetzt, weil sie das Meer um die Lava-Klippen verewigen wollte und zwar so, wie sie es sah und wie es bestimmt noch kein Mensch vor ihr gesehen hatte, dessen war sie sicher. Versuche, die sie allerdings aus Mangel an technischem Wissen - und Malübung überhaupt? - bald wieder einstellen musste, was sie Nikos aber am Abend, als er sie abholte, noch nicht gestand. Das Sonderbare war, dass die Farben auf ihren Bildern auch in der Gluthitze des Mittags nicht hatten trocknen wollen. Doch Minou und der in der Kunst der Ölmalerei ebenso ahnungslose Nikos, ignorierten die Tatsache der feuchten und klebrigen Leinwände, bis ihr armer Mäzen plötzlich mitten auf der Heimfahrt einen wilden Schrei ausstieß. Er hatte die zwei Bilder aufrecht auf den Rücksitz seines Alfa gestellt, wo sie dann bei einem Bremsmanöver umfielen und mit der 'schönen' Seite auf der kostbaren, weißen Lederpolsterung landeten. Trotz dieses grand-malheurs experimentierte Minou noch eine Woche lang mit den Ölfarben, bekam aber nichts zustande, absolut gar nichts. Wie konnte das nur sein?

*

Minou verspürt jetzt von Tag zu Tag mehr den Drang, Rom zu verlassen. Sie ist es müde, aufgedonnert vor den Spiegeln über den Teppichboden zu stöckeln und verschrobenen Fregatten Textilien vorzuführen, die in einem Jahr schon bei einer Altkleidersammlung landen würden.

Nikos ist wieder heimgefahren nach Sizilien. Minou hatte übrigens nicht mehr mit ihm geschlafen und damit Ruggieros Zukunftsvision vom lukrativen ‘ménage a trois’ vereitelt. Nicht dass Ruggiero ihr das verübelt hätte. Für ihn wäre es eine Möglichkeit mehr gewesen, zu Mitteln zu kommen, zu welch bescheidenen auch immer. Das muss er nun eben in den Wind schreiben. Nicht der Rede wert.

Er ist weiter der potente Mann, für den Sex doch nicht viel mehr bedeutet, als eine gute Mahlzeit zu sich zu nehmen oder eine Flasche Sekt zu entkorken. Er verschafft Minou weiterhin aufwühlende Orgasmen und versorgt sie mit amüsanten Geschichtchen über seine Welt, mit gemeinsamen Abendessen und heißen Nächten, die Minous Körper nach wie vor beruhigen und befriedigen, aber längst aufgehört haben, sie glücklich zu machen.

Er ist nicht mehr ständig für sie da, sondern empfängt wieder in verstärktem Maß seine ausländischen Kundinnen. Wäre er nur dezenter, würde er ihr nicht alle Einzelheiten seiner schlüpfrigen Erlebnisse genussvoll schildern! Er verliert an Charisma, je mehr er seine Menschlichkeit und seine Schwächen enthüllt.

"Es sind immer ziemlich ALTE Frauen, die dich besuchen", ich begreife es nicht!, sagt Minou.
"Ich verstehe mich gut mit ihnen. Ist alles eine Frage der Disziplin! Sie kommen zu mir mit ihren Problemen UND ihren Träumen. Wir verkehren menschlich. Das Miteinander-Schlafen ist nur EIN Aspekt der Beziehung! Und du wirst es nicht glauben, aber ich gehe keineswegs mit jeder ins Bett! Wenn ich ‚ihn‘ absolut nicht hoch bringe und die Frau auch nicht anfassen mag, bleibt immer noch die Freundlichkeit, mit der man Peinliches überbrücken kann, verbale Zuwendung und ... Praktiken ... Ich behandle sie mit Dildos, Sexspielzeugen ..."

Nicht, dass Minou das Gefühl von Abscheu wirklich aufkommen lässt oder es sich überhaupt eingesteht, es ist nur ein sonderbarer Schmerz in ihr, ein Wissen um die Bedeutungslosigkeit des ganzen Treibens.

Auf einmal hat sie keine Lust mehr an diesem Leben. Roms Sonne - es ist inzwischen Winter und wieder Frühling geworden - wärmt ihr Herz nicht mehr wirklich. Obwohl sie die Schönheit der Stadt so sehr geliebt hat, die Sonntage am Strand von Ostia oder in der Campagna, die Abende in Trastevere oder einfach in der Mittagspause vor Trinta dei Monti mit Sissi und Lucia auf der spanischen Treppe zu sitzen, eine Weißbrot-Salami-Tomaten-Oliven-Mahlzeit oder eine Pizza zu verzehren,  Teil des Lebens, Teil der fröhlichen, hellen, bunten, ewig wechselnden Szenerie zu sein, zu sehen und gesehen zu werden - jetzt möchte sie nur noch fort. Eines Tages würde sie zurück kommen ... nein für immer will sie Rom nicht missen.

Aber sie beschließt, ihr Leben ernster und zielgerichteter zu gestalten. Nach München wird sie gehen. MÜNCHEN. In einem Halbtagsjob wird sie dort gerade genug arbeiten, um zu leben und ansonsten wird sie ihre ganze Kraft bündeln, um an der Kunstakademie zu studieren". Die KUNSTAKADEMIE in München ... das ist schon immer ihr Traum gewesen. Sie ist einundzwanzig Jahre alt.

*


 

Was vorherging:
1960. Minou ist 21 Jahre alt. Nach einem Aufenthalt in Rom, ist sie jetzt wieder in Deutschland.
  



MÜNCHEN

Ares forever


Minou ist seit einigen Tagen in München. Im Herzen von Schwabing hat sie für siebzig Mark im Monat eine Bleibe gefunden. Beim Elisabethplatz. Franz-Josef-Straße. Auf der Bel-Etage eines hochherrschaftlichen Hauses vermietet eine Frau Naumann vier Zimmer – eigentlich an Studenten. Mit Minou mache sie einmal eine Ausnahme, sagt sie. Auf dem Stockwerk wohnen noch Manfred, Wolf und Sabine. Die drei studieren Jura. Es gibt nur ein Bad für alle, das Frau Naumann ebenfalls benutzt. Einen Trakt der Wohnung, auch die Küche, hat die siebzigjährige Witwe sich selbst vorbehalten.
"Kochgestank oder ungewaschenes Geschirr, das hab ich hier nicht so gern", sagt die Wirtin. Aber Nescafé und Tee dürfen sich die jungen Leute auf ihren Zimmern machen, solange sie mit Tauchsiedern und nicht mit Elektroplatten hantieren. Ordnung muss sein. Dafür sind aber die Zimmer mit dicken Perserteppichen und dem ganzen antiken Schränke- und Kommodenbesitz der Witwe ausstaffiert. Wuchtige, prächtig gerahmte Landschaften in Öl, von Frau Naumanns verstorbenem Künstlergatten geschaffen, schmücken dazu noch die Wände.

Zwei Tage nach ihrer Ankunft in München beginnt Minou schon zu arbeiten, obwohl sie keine große Lust dazu hat. Aber so ist sie. Noch immer wirkt in ihrem Unterbewusstsein Lisas Erziehung nach und die bedeutet nun einmal: Pflichterfüllung. Na ja. Außerdem treibt die Not Minou zum Handeln. Ihr Geldsegen geht zu Ende. Also binnen zwei Tagen hat sie Arbeit und das Zimmer gefunden.

Bei Woolworth in Schwabing, wo Aushilfsverkäuferinnen gesucht werden, hatte man sie sogar großzügigerweise gefragt, in welcher Abteilung sie sich denn ihren neuen Wirkungskreis vorstellen könne. Sie hatte sich natürlich den 'glamourösesten' im ganzen Haus gewählt, den an der Schmucktheke. Jetzt verkauft sie Modeklunkern und Geschmeide aus Blech und Glas. Aber hinter einem Tisch Wurst- oder Käse zu schnippeln, das wäre schlimmer.

In diesen ersten Münchner Tagen macht sie sich auch gleich mutig auf zur Kunstakademie und es gelingt ihr, zu einem Professor vorgelassen zu werden. Sie weiß natürlich: ohne Abitur ist es ziemlich unmöglich, zu studieren. Nicht einmal Malerei. Nur hat sie sich wieder eingeredet, dass SIE irgendwie mit festem Wollen alle Klippen umschiffen könne.

Sie scheint den lächelnden Mann zu rühren – oder hält er sie einfach nur für ziemlich neben der Spur? Auf ihre Bitten hin, sie doch zur Aufnahmeprüfung zuzulassen, gibt er ihr keinen abschlägigen Bescheid, verweist sie aber auf das erst im Herbst beginnende neue Semester, lässt ihr die Hoffnung, dass sie sich ja vielleicht auch als Gast einschreiben könne. Er wolle sich aber gern einige Sachen von ihr ansehen, ob sie denn ihre Mappe dabei habe?
Sie sagt, dass sie ganz schnell in den nächsten Tagen ein paar Werke schaffen könne, eine Mappe habe sie nicht, weil sie die ganze Zeit im Ausland und immer unterwegs gewesen sei, da habe sie gar keine mit sich herumtragen können ...

"Gut - schaffen Sie Werke! Nach den Sommerferien kommen Sie noch einmal her und dann werden wir weiter sehen. Ich muss doch erst wissen, ob Sie überhaupt eine gerade Linie ziehen können !"

"Ist es in Ordnung, wenn ich Aquarelle mache, denn mit Ölfarben kenne ich mich nicht so gut aus", sagt sie angesichts ihres Fiaskos damals bei den Cyclopi.

"Benutzen Sie die Technik, die Ihnen am Besten liegt und kommen Sie im September!", sagt er und bleibt sogar ernst.

Wunderbar. Sie ist mit dem Ausgang des Gesprächs zufrieden. An ihrem Können zweifelt sie nicht, und nicht daran, dass die Universitätslehrer es schnell anerkennen werden. Aber sie wäre nicht Minou, wenn sie nicht auch tief aufatmete. Bis zum Herbst hat sie also Zeit, braucht sich nicht zu beeilen. Die Kunstakademie bleibt im Hintergrund wie ein freundliches Ziel, das sie ansteuern wird ... aber nicht heute und auch nicht morgen. Es liegen noch Monate dazwischen.

*

Abends feiert Sabine ihren Geburtstag und lädt ein paar Studienfreunde und die Mitbewohner ein, also auch sie, die Neue. Nach höflichen Fragen der Gäste über Minous Arbeit bei Woolworth, springt die Konversation der angehenden Juristen schnell um zu Professoren-Kritik, zu Erlebnissen in Hörsaal und Mensa. Da fühlt Minou sich fehl am Platz, spürt die Kluft zwischen sich und den zufälligen Hausgefährten. Sie fasst ihr 'Nichtstudieren als Makel auf, aber die anderen scheinen das lockerer zu sehen. Vor allem in Manfred hat sie schon einen Verehrer gefunden. Er hat sie für Sonntag zum Kahnfahren am Starnberger See eingeladen.

Dann schlägt das Schicksal wieder einmal zu. Für Minou kommt das Schicksal immer in Gestalt eines Mannes.

An diesem Abend erwähnt Sabine häufig Ares Janopoulos. ARES. Auch ihre Bekannten kennen ihn offensichtlich gut. Minou erfährt wenig Konkretes, nur - er sei ein Verführer und ein Unerwünschter im Land. Er halte politische Reden in Schwabinger Studentenkneipen.

"Ein Linker", sagt Max träumerisch.
"Edelkommunist", murmelt Wolfgang. Bei ihm halten sich Bewunderung und Skepsis offensichtlich die Waage. Dieser Janopoulos sei stets von ‚Sympathisanten‘ umringt. Im Kreis seiner Anhänger finde man ihn täglich beim Frühstück im Café Europa.

"Er wird vom Verfassungsschutz rund um die Uhr überwacht", erzählt Sabine wichtig, "ist auch schon ein paarmal festgenommen und aus Deutschland ausgewiesen worden und wieder eingereist."

"Auch legt er die Filmsternchen der Bavaria-Studios reihenweise aufs Kreuz", feixt Manfred, "die Lisa, die Mona ... und ... Ein Macho wie er im Buch steht. Dabei MITTELLOS, heißt es!"
"Und er schreibt politische Artikel für griechische Zeitungen", sagt Wolf.

Minou erfährt auch: im Schwabinger Nachrichtenblatt, einer lokalen Klatschpostille, erscheine sein Name regelmäßig ... da sei er der Geheimnisvolle, Überlegene, der mit Frauen spiele. Der rätselhafte Grieche.

"Er sieht so schön aus", schwärmt Sabine vor Minous weit geöffneten Ohren, "er ist ... er ist ... " Sabine ringt nach Worten.
"Du bist verliebt, Bienchen", sagen die Anderen. Eine zu Besuch gekommene Kommilitonin setzt noch eins drauf und flüstert verzückt: "Ich könnte ihn immerzu anstarren!"
Das wühlt auch Minou auf: Ein Grieche und dazu ein so geheimnisvoller, undurchsichtiger! Wenn das keine Erinnerungen in ihr wachruft.


Schon zwei Abende später trifft sie den Hochgelobten dann auf einer Schwabinger Party, zu der ihre Zimmernachbarn sie mitschleifen.
"O, Gott, er ist auch da", haucht Sabine beim Eintreten in den Raum und krallt sich, blass werdend, in Wolfgangs Arm.

Minou weiß sofort, wen Sabine meint. Es kann nur ER sein. Alle übrigen Anwesenden verblassen vor seiner Präsenz. Ein Blick in SEINE Augen genügt Minou. Er ist der Mann, den sie schon immer herbeigesehnt hat.
Vor Aufregung fällt sie fast um, als man sie einander vorstellt. Er ist alles, was die Bekannten über ihn gerätselt haben ... und noch viel mehr. Er ist ... er ist ... Sie taumelt ihm fast in die Arme ...

"Ich bin schon einmal in Ihrer Heimat gewesen" sagt sie, um irgend etwas zu sagen und fährt fort, dass sie Athen kenne, auch ein paar der Agäischen Inseln erlebt habe, die sehr schön seien.

O Gott, ihr Herz ... ihr zitterndes Herz! Geistesverwirrt kommt sie sich vor und ist kein bisschen gewandt oder witzig, steht klein und aufgeregt vor dem verwunderten Griechen. Und er wendet sich ihr zu. Nicht ohne Interesse. Da ist sie verloren. Er hat sie mit einem Blick bis in ihr Innerstes getroffen. Sein Bild prägt sich unlösbar in ihre Pupillen. Augenblicklich vergisst sie den Rest der Leute. Und er - inmitten all der anderen, ist auch später immer irgendwie in ihrer Nähe.

"Am Goethe-Institut habe ich deine Sprache gelernt", sagt er.
"Das Schicksal hat uns zusammengeführt", flüstert er dann beim Tanzen und:
"Dein Körper spricht zu mir. Als ich dich an der Tür sah, wusste ich, diese Frau werde ich lieben."

So schmeichelt er ihr in korrektem Deutsch, doch mit einem sehr fremden Akzent.

Sie glaubt ihm nichts, aber ... wäre er ein anderer gewesen, dann hätte alles falsch geklungen. Bei ihm tönen die Worte zwar auch nicht ehrlich, doch wie ein Ritual. Sie bringen Minous ganzen Körper zum Vibrieren.

Es ist seine Stimme! Es sind seine Augen! Wie ein Stein auf den Boden des Sees, so fällt sie ihm zu. Er nimmt sie noch in der gleichen Nacht mit. Er wohnt ebenfalls in Schwabing, in einem kargen Zimmer und schläft auf einer schmalen Liege.

"Ich hoffe, Du wirst nicht unglücklich werden", flüstert er düster, als sie sich lieben.

In dieser Nacht hat Minou ihre Periode.

Am Morgen sieht das Bett aus wie nach einem Blutbad.
"Man könnte denken, ich hätte es mit einer Jungfrau getrieben!", sagt er und:
"Ich weiß, ich bin nicht dein erster Mann, doch ich werde dein letzter sein!" Das klingt ernst. Ein Verrückter!
"Nur, wenn ich auch deine letzte Frau bin!", flüstert sie und grinst.
Da lacht er laut.

Von dieser Nacht an holt er Minou täglich nach Geschäftsschluss bei Woolworth ab. Sie gehen mit Freunden in ihre Stammlokale zum Abendessen, oft zum Hahnhof, weil man dort zur preisgünstigen und sehr delikaten Hühnerleber ohne Aufpreis so viel wohlschmeckendes, ofenfrisches Brot essen darf, wie man möchte. Und dazu bestellt man ein großes Glas Bier.

Die Nächte verbringt Minou mit Ares auf seiner Liege, die extrem eng ist. Minou ist oft am Morgen nicht ausgeschlafen. Aber sie muss täglich bei Woolworth ‚ihre Frau‘ stehen. Und getrenntes Schlafen können sich beide nicht mehr vorstellen. So gehen sie dann aus und Ares kauft für Minou eine Luftmatratze, eine schöne, dicke, aufblasbare Luftmatratze. Die legen sie neben sein Bett. Nach der Liebe, spät in der Nacht löst sie sich von seinem Körper und rutscht auf die niedriger liegende Luftmatratze. Dort schlummert Minou dann quasi wie ein Hündchen zu seinen Füßen, klein und geborgen.

Minou findet bald einen Job als Mannequin und Verkäuferin im Pelzgeschäft Kirner am Maximiliansplatz. Kirner ist ein bekanntes Haus mit großartigem Ruf. Man behält Minou nach kurzer Probezeit, obwohl sie nicht wie ein Supermodel aussieht. Doch sie wirkt nett und kann die Mäntel ins rechte Licht rücken, die sie den potentiellen Käuferinnen schmackhaft machen muss, ohne den reichen und extravaganten Society-Damen die Show zu stehlen. In edlen Pelzen sieht Minou gut aus, aber dann auch wieder nicht zu spektakulär.

Zwei auffallendere, schönere, größere, blondere Mädchen, die mit ihr die Probezeit gemacht haben, hat man entlassen. Minou durfte bleiben. Sie spricht auch Italienisch und das ist nützlich, denn zum Pelzhaus Kirner pilgern Signoras von Palermo und Catania bis herauf nach München. Hier kaufen sie ihre Nerzmäntel und Breitschwanz-Jacken, die fürs Überleben im kalten, sizilianischen Winter ja unverzichtbar sind! Auch Damen vom bayrischen Hochadel decken sich gern in diesem edlen Laden mit Pelzwerk ein, ebenso bekannte Filmschauspielerinnen.

‚Man hat mich vielleicht hauptsächlich deshalb behalten, weil ich die Höhe meines – keineswegs üppigen - Gehalts vollkommen dem Gutdünken des Personalchefs überlassen habe und zufrieden war mit dem, was ich bekam.‘ So wird sie selbst die Sache später sehen.

Tagsüber frönen Ares Janopoulos und seine Freunde staatsfeindlichen Machenschaften. Er hält nämlich in Lokalen sozialistische Reden, beeindruckt junges Volk und erschreckt brave bayerische Bürger. Es ist 1960, noch lange vor APO und Studentenunruhen.

Ares sieht nicht wie ein Revolutionär aus, er trägt geschneiderte Anzüge, Westen, Krawatten. Sein kraftvolles Haar ist schwarz, die Augen von einem ungewöhnlichen, stählernen Blau und schönere Zähne als die Seinen hat Minou noch nie gesehen. Er ist - sogar für nordische Begriffe – ein hoch gewachsener Mann, aber kein Hüne. Er ist nicht sportgestählt, sondern eher mager. Mit großem Kopf, hartem Gesicht. Das Bedeutendste an ihm ist sein wuchtiger, fester Mund und der Ausdruck von Stärke, den sein Mund annimmt, wenn er daraus bedeutungsschwere Worte entlässt. Er spricht irgendwie immer ins Reine. Was er sagt, scheint Minou wie aus einem Guss. Anklagend redet er vom Menschenausbeutertum des Establishments und dem kommenden Sieg des Proletariats ... Minou hat nie in ihrem Leben über Politik nachgedacht, doch die glühenden Reden, die Macht, mit der er seine Überzeugungen vertritt, gefallen ihr über alle Maßen.

Sie bemüht sich‚ das Kapital‘ zu lesen. Es fängt so gut an: „Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten.” Und es endet mit der Aufforderung: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!” Von dem, was dazwischen geschrieben steht, begreift Minou nur einen Teil. Sie langweilt sich. "Was bedeutet dialektischer Materialismus, Ares?" Er erklärt es ihr ausführlich. Sie staunt. Aber zu weit ist sie von solchen komplizierten Gedanken entfernt. Das sind keine wichtigen Fragen in ihrem Leben. Nein, mit Politik hat sie nichts am Hut.

Auch gut. Er nennt sie von Anfang an Bambina. Weil sie ja frisch aus Italien kommt. Eine Bambina muss solche verzweigten, weltanschaulichen Gedanken ja nicht erfassen können. 'Bambina' – dieses Wort hört sie gern. Sie liebt es, klein und schmiegsam zu sein. Bei einem wie ihm ohnehin.

In wichtigen Stunden nennt er sie aber bei ihrem Namen, von dem er nicht einmal weiß, dass es ein falscher ist. "Minuuuuu", ruft er aufrüttelnd, "du denkst nicht ernst genug, das Leben ist kein Spaziergang!"
Und dann müht er sich, ihr den tiefen Sinn, die Wichtigkeit von Moral, Genügsamkeit und Disziplin begreiflich zu machen, die sie, seiner Ansicht nach, nicht recht verinnerlicht hat. Einmal kauft sie sich ein lockiges Echthaarteil, das noch dazu genau auf die eigene Haarfarbe abgestimmt ist, etwas ganz Luxuriöses, mit dem man eine Hochsteckfrisur aufpeppt ... der letzte Schrei unter den Kolleginnen im Pelzhaus. Jede hat so eins ...

"Aha ... da werden wir jetzt für den Rest des Monats Haare fressen!", schreit er. Aber am Schluss lacht er, wenn auch ziemlich gezwungen: "Schon gut!"

Aus ihm bricht eine sonderbare Kraft, eine Anziehung, die auch andere Menschen körperlich zu spüren scheinen. Es ist, als ob er sie alle verhexe. Er spielt mit ihnen.
Spielt er auch mit ihr? Da ist nämlich ein Handicap an ihrer Beziehung. Er tut ihr nichts zuliebe, nicht im Alltag und auch im Bett nicht, er ist der Gebieter und sie die - unterwürfige, vorübergehende? - Gefährtin. Sie fühlt es und ist doch zufrieden. Zufrieden? Nein. Euphorisch. Er ist ihr Leben. Dass er sie liebt, sagt er ihr nie. Zumindest nicht mit Worten.

Wenn sie nachts ausgehen - meistens in einer Clique mit Freunden - trifft er dann und wann auf seine abgelegten Schätzchen. Frauen, mit denen er sich zerstritten hat? Sie suchen weiterhin Kontakt, biedern sich Ares an, wollen noch etwas von ihm. Minou spürt die Vibrationen in der Luft. Will er nichts mehr von ihnen?

"Ich liebe ihn noch immer!", klagt eine Barfrau melancholisch und betrunken hinter dem Tresen, als er kurz hinausgegangen ist: Und V. B., eine Blonde mit berühmten Formen, die in München Filme dreht und Furore als Skandal-Lady macht und die er, wie das Boulevardblättchen schrieb, ziemlich grausam behandelt und dann verlassen hat, baut sich eines Nachts in einem Lokal vor ihm und Minou auf: "Du wirst doch nicht sagen, dass diese Kleine mich bei dir im Bett ausstechen kann!", sagt sie.

"Komm, lass uns gehen!" Ares zieht Minou heftig, fast wütend, am Arm mit sich nach draußen. Da ahnt sie: er mag V. gedemütigt haben, sogar furchtbar geohrfeigt, wie das Schmierenblatt weiß, aber innen in seinem rätselhaften Herzen ist er nicht mit dieser Frau und ihrer Sexualität fertig, er rettet sich nur, flieht aus der Gefahrenzone. Minou ist neugierig, eifersüchtig und bohrt.

"Sie hat mich eine Woche lang nicht aus ihrer Wohnung gelassen, V. ist UNGLAUBLICH und beim Orgasmus spritzt sie wie ein Mann."
Da wird Minou - die in puncto Sex schon viel gesehen hat - rot vor Scham bei dieser seiner drastischen und eiskalten Einstufung einer doch immerhin mit Spaß durchlebten Beziehung.
"Ja, V. ist einfallsreich", sagt er, "aber das ist es nicht, was ich für immer haben möchte."

Also V. ist einfallsreich und unglaublich!
Minou ist das leider nicht. Sie ist nur die Bambina.
"Du bist so klein und verletzbar", sagt er ihr manchmal im Bett. Und dieser Satz bleibt dann einfach im Raum stehen. Was soll sie auch darauf erwidern?

Beim Spaziergang durch die Stadt dirigiert er sie eines Tages in Richtung eines Friseurladens. "Lass deine Haare abschneiden. Ich möchte, dass du sie bleistiftkurz trägst."
"Dann sehe ich aus wie ein Junge."
"Ja", sagt er.
Sie lässt sich die Haare abschneiden.

*


"Sag Aresaki zu mir, wenn wir allein sind", bittet er eines Nachts, "so hat mich meine Mutter genannt". Seine Mutter ist vor Jahren gestorben.

Aresaki ist die zärtliche Verkleinerungsform seines Namens.
Dabei ist er alles andere als ‚Aresaki‘. Sondern übermächtig. Stets von Freunden umringt. Immer im Mittelpunkt. Dominierend. Nervös und aufbrausend oft, und im Innersten fest wie ein Fels in der Brandung. Den ‚tollen Griechen‘ nennen ihn die Schwabinger Dämchen und das Wort steht damals, mehr als heute, für besonders attraktiv und begehrenswert. Ares kann jede Kellnerin, jeden Taxifahrer für sich einspannen, aber genauso die Schönen und Gutsituierten. Es gibt immer Leute, die ihm aus Geldverlegenheiten helfen, ihm ihr Auto zur Verfügung stellen, wenn er es braucht. Er schöpft aus dem Vollen, ohne selbst einen Pfennig für sich zu besitzen. Das mit der Armut ist bei ihm relativ. Er hat immer genug Scheine in der Tasche, um ihre Abendessen in mittelprächtigen Lokalen und die Frühstücke im nicht gerade billigen Café Europa zu finanzieren. Aber keinen Pfennig mehr. Außerdem steuert Minou auch zum gemeinsamen Lebensunterhalt bei.

"Du musst alles für mich sein: Schwester, Mutter ( sie seine Mutter... o je !!) die Freundin meiner Seele, mein kleiner Knabe und meine Hure auch!" Das sagt er ihr eines Nachts im Bett. Seine Stimme klingt rauh und schwer vor Bedeutung.

Mein kleiner Knabe ...? Aber ... die Worte schmeicheln ihr UND verunsichern sie gleichzeitig. Was will er noch in sie hineinsehen?

Sie ist einundzwanzig Jahre alt, Ares neununddreißig. Dieser Mann ist schon über viele Brücken gegangen. Mit allen Wassern gewaschen. Doch ist da in seinem Inneren eine Bereitschaft zu Romantik und Verklärung und das macht sich sogar in seinem politischen Denken bemerkbar, glaubt sie zu spüren, und sie fühlt sein unsicheres, jungenhaftes Suchen. Das rührt sie tief. Das liebt sie sehr an ihm.

*

Eines Tages meldet sich Polizei bei Ares: Er darf nicht länger in Deutschland bleiben. Innerhalb von sieben Tagen muss er das Land verlassen oder er wird abgeschoben.

"Bambina, wir fahren zurück nach Athen ... WIR ... du wirst nämlich mitkommen!"

Ihren glamourösen, doch ziemlich schlecht bezahlten Job will Minou daraufhin fristlos kündigen. Das geht nicht. Frau Kirner, sagt, sie würde sie nicht ziehen lassen ... persönlich fühle sie sich für sie verantwortlich, ein junges, unbedachtes Ding wie sie ... Da Minou aber keine Einsicht zeigt, droht sie ihr mit dem Arbeitsvertrag. Den dürfe sie ohne gravierende, rechtliche Folgen nicht brechen.

"Ich meine es nur gut mit Ihnen, Kindchen, Sie sind gerade volljährig und haben Sich hier ein bisschen etabliert, da laufen Sie schon in ihr Unglück!"

"Ich werde das morgen regeln", sagt Ares. So kommt er dann am nächsten Tag, um Minous Entlassung aus dem Arbeitsverhältnis zu erwirken. Stolz und lässig durchquert er die mit dickem Teppichboden belegten Räume des edlen Ladens, schreitet an den staunenden Verkäuferinnen und Kundinnen vorbei, deren Blicke ihm mit Bewunderung folgen ... Minous Herz bebt vor Stolz. Wie ein an schnöden Pelzen Interessierter sieht er nicht aus, aber wie ein Herrscher lässt er sich von einer verwirrten Angestellten zum Büro der Chefin geleiten, lächelnd wie einst der große Alexander auf seinem Eroberungsfeldzug durch Feindgebiet.

Minou ist klar, dass jetzt über sie und ihr Wohlergehen verhandelt wird und ihre Kolleginnen sind auf den Ausgang gespannt. Um sie in Zukunft bei sich zu behalten, um sie mitzunehmen nach Athen, wagt sich Ares in die Höhle der alten Löwin! Wenn das kein Liebesbeweis ist!

Minou wird aber nie erfahren, was die da drinnen sprechen. Doch sie kommen gelöst, sogar lachend und offensichtlich in gutem Einvernehmen nach einer halben Stunde heraus ... Ares, der kommunistische Aufwiegler und die sechzigjährige Geschäftsfrau.

Danach lässt die Firma Kirner Minou widerstandslos ziehen. Mit einem guten Zeugnis und einer korrekten Restlohnauszahlung auf Mark und Pfennig.

Die wenigen menschlichen Bindungen in München - es waren die mit den jungen Studenten auf ihrer Etage - hatte Minou schon vor Monaten gekappt, als sie mit Ares zusammengezogen war und sich ganz an ihn angelehnt hatte. E r ist alles, was sie hat, alles, was sie braucht. Ihr ist nur eines wichtig: bei ihm zu sein. Natürlich verschwendet sie an die Kunstakademie keinen Gedanken mehr. Die Kolleginnen im Pelzhaus bedauern ihren Weggang, doch wirkliche Freunde hatte sie unter ihnen nicht gesucht und nicht gefunden.
Ares und Minou packen also alles zusammen, was sie besitzen. Es passt in drei Koffer und ein paar Taschen.

*




WIEDER EINE REISE

Am nächsten Tag holt Leo, ein Landsmann von Ares, die beiden mit einem alten VW-Kombi ab. Leo ist Kleinhändler und überführt - oder verkauft - gebrauchte, deutsche Autos nach Griechenland.

Sie reisen von München über Wien bis Ungarn. In Budapest speisen sie in einem schönen Restaurant eine Grillfleisch-Mahlzeit - scharfgewürzt, sehr wohlschmeckend, extrem billig – und schlafen sich in einem Hotel aus. Morgens geht es weiter nach Belgrad, dann quer durch die Jugoslawische Republik, den Teil, der heute Serbien–Montenegro heißt.

Die Männer wechseln sich beim Fahren ab.

Wenn sie irgendwo anhalten, um in einem niedrigen, heruntergekommenen Laden etwas Essbares zu kaufen oder irgendwo einen Kaffee zu trinken, ist ihr Auto sofort umringt von einer Meute schwarzäugiger Kinder und magerer Männer, deren Kleider Lumpen sind und teilweise in Fetzen vom Leib hängen. Nie im Leben hat Minou so abgerissene Menschen gesehen. Apropos Kaffeetrinken – es gibt bei diesen Schankstuben keine Toiletten, nicht einmal ein Plumpsklo ... man erklärt ihnen, hier gehe man einfach auf den Hof. Das tun sie nicht, sondern warten, bis sie wieder mit dem Auto in der freien Natur sind. Einmal kann Minou es nicht so lang aushalten und befolgt die Weisung des Wirtes. Während sie zwischen grunzenden Schweinen bis zu den Knöcheln im Morast versinkt, sieht sie endlich spärliches Buschwerk. Dort rennt sie hin, dort muss sie sich notgedrungen niederhocken.

Ihre zweite Nacht verbringen sie in einem modernen, schon von Weitem weiß leuchtenden Hotel mitten in der jugoslawischen Pampa. Es ist nur ein alter Mann da und der läuft kopflos draußen herum. Vielleicht ein Wächter, mit dem sie sich aber in keiner wie auch immer gearteten Sprache verständigen können. Sie sind die einzigen Gäste. Die einfachen, doch voll eingerichteten Zimmer stehen allesamt offen. Das heißt, das ganze Hotel ist offen zugänglich und ohne Personal. In den sichtlich fabrikneuen, aber mit stinkenden Exkrementen zugestopften Kloschüsseln und an den versifften Waschbecken gibt es kein Wasser. Bettzeug und Decken - wenn auch schmutzstarrend - sind vorhanden und in irgendwelche unverschlossenen Wandschränke gestopft. Es taucht nicht einmal jemand für das Kassieren der Zimmergebühren auf, sodass sie am nächsten Tag, ohne zu zahlen, weiterfahren. Ein Geisterhotel. Menschenleer. Das Schlimme: die Betten sind vollkommen verwanzt, was sie aber erst in den frühen Morgenstunden bemerken. So müd sind sie gewesen. Ihre Körper sind tags darauf mit kleinen Bissen überzogen.

Bevor sie nach Griechenland kommen, überqueren sie auf gefährlichen Pisten ein Bergmassiv. Die Karpaten? Eng und steil sind die Nadelkurven und um sie Abgründe! Geländer gibt es keine. Die Wege und der Blick in die Tiefe - es hätte nicht gefährlicher aussehen können. Aus den Straßen sind hier und da Teile herausgebrochen und über die Böschung zu Tal gestürzt.

Kein anderes Auto begegnet ihnen. Leo fährt nervös.

"Pass doch auf!", schreit Ares ab und zu und reckt die geballten Fäuste in die Höhe, wie um dem anderen Kraft zu geben.

"Scheißstraßen", sagt Leo, der die ganze Zeit Kette raucht.

Zweimal sehen sie unten in einer Schlucht Autowracks, die anscheinend schon lang da liegen.

Irgendwann wird auf einer Bergpiste ihr Vehikel gestoppt. Polizei hat eine Absperrung errichtet. Sie sind gerade dabei, ein Fahrzeug, das tief unten liegt - einen Truck - mit Hilfe von enormen Drahtseilwinden heraufzuholen. Es wird doch kein menschlicher Körper drin sein ... o Gott, Minou sieht in der Schrottmasse Textilfetzen unter dem zerquetschten Metall heraushängen. Sie fummelt nach einer Zigarette, schaut nicht mehr hin, will nichts wissen.

Sie müssen umkehren, einen anderen Weg benutzen. Irgendwie gelingt es Ares, trotz der Enge der Straße, trotz des Abgrunds, den Wagen zu wenden ... mühsam, mühsam.

Wie gut, dass ER jetzt fährt! Sonderbar ... sie denkt sich den Geliebten als unverwundbar. Nichts Schlimmes kann ihr geschehen, solange er bei ihr ist! Minou hat schon die ganze Zeit auf diesen Gebirgsstraßen große Angst gehabt. Beten hilft ihr wenig, deswegen hat sie sich vielleicht in ihren Gedanken Ares zu ihrem Allmächtigen hochstilisiert. Es kann einfach nicht sein, dass einer – so kraftvoll und magisch wie er - hier abstürzt!

Sie fürchtet sich vor den mit bröckeligen Schottersteinen besäten, irrsinnig schmalen Pisten, fürchtet sich vor dem Blick hinunter in die Tiefe.

"Ihr beiden, sagt mir bitte, wenn wir das hier hinter uns haben", seufzt sie und wird einfach vorher die Augen nicht mehr öffnen.

Endlich gelangen sie, nah bei Thessaloniki, auf griechischen Boden. Die Drei müssen aussteigen und in das Grenzhäuschen kommen. Minou versteht nicht ein Wort von dem, was sich da an Konversation tut. Aber statt der Untersuchung der Papiere gibt es Männergelächter, Umarmungen und Wangenküsse der Grenzer für Ares, türkischen Kaffee und Gebäck für alle drei. Minou sitzt verwundert dabei.

Ares trägt seit Beginn der Reise keinen Anzug mehr, sondern Lederjacke und Jeans. Sein Drei-Tage-Bart und sein wildes Haar lassen ihn kämpferisch erscheinen. Man könnte ihn mit Che Guevara vergleichen, so wie er jetzt dasitzt inmitten seiner Landsleute. Könnte man ...

*




IN GRIECHENLAND - VON NEUEM

Ares ist auch Freiheitskämpfer gewesen. Minou weiß nicht, was seine Freunde wissen.
Kurz vor und während der Zeit des Zweiten Weltkrieges hatte er – ausgebildet an der griechischen Militärakademie – als zwanzigjähriger Offizier erst gegen die Italiener unter Mussolini, dann gegen die deutschen Besatzer gekämpft. Sein Weltbild hatte sich immer mehr nach links gewandt, dem Kommunismus zu, ebenso wie das von fast vierzig Prozent der jungen Männer im griechischen Militärdienst.

Ares heutiger Ruhm unter den überlebenden Soldaten kommt daher, dass er einer der Partisanenführer auf Kreta war, die vor 1945 gemeinsam mit der Bevölkerung die deutschen Besatzer in tägliche Kämpfe verwickelten, extrem drangsalierten und schwächten. Die Deutschen, schon gebeutelt, konnten sich auf der Insel nicht halten und verloren sie wieder, kaum, dass die englische Armee den Inselbewohnern und Partisanen zu Hilfe kam. Ares war also ein Partisanenführer, der tapfer gekämpft und von seinen Leuten sehr bewundert worden war.
Ares, der strahlende Held, trat nun nach 1945 der kommunistischen Partei bei, wurde ein aktives Mitglied der linken Volksfront und deshalb ein Gegner der Monarchie unter Königin Friederike.

'Steinerne Jahre' nennt man in Griechenland die Zeit, die dann auf die deutsche Besatzung folgte. Es kam zum Bürgerkrieg, in dem sich die regierungstreuen Anhänger der Monarchie ( unterstützt von den Engländern ) und die linke Volksfront in größter Feindschaft gegenüberstanden. Das war die Zeit der blutigen Straßenschlachten in Athen. Ares sah Freunde sterben, er selbst wurde mehrmals verhaftet, verbrachte mehr Zeit in Gefängnissen, als in Freiheit. Als seine Mutter auf dem Sterbebett lag, war er wieder einmal gerade als Aufwiegler interniert, man verbot ihm, zu ihr zu gehen, obwohl sie ganz in der Nähe war und nach ihm verlangte. Auch die Beerdigung musste ohne ihn stattfinden.
Bald erliess die rechte Regierungsmacht eine Reihe von ‚Notmaßnahmen‘, um die Linke vom öffentlichen Leben auszuschliessen. Dazu gehörten die ‚Umerziehungslager‘ für solche, die nicht ‚im Sinne der Nation‘ dachten. Zehntausende linke Schriftsteller, Gewerkschaftsmitglieder, kommunistische Parteifunktionäre, aber auch einfache Bauern und Arbeiter, wurden in griechischen Lagern interniert. Auch Ares verbrachte mehrere Jahre auf der berühmt-berüchtigten Felseninsel Makronissos vor der Südspitze Attikas und auf einer Gefangeneninsel namens Ai-Stratis.
Seine Beliebtheit unter den früheren Mithäftlingen auf der Verbannten-Insel scheint groß gewesen zu sein. ‚Alte‘ Freunde von damals eilen nun herbei, um ihn wiederzusehen – es sind alles Männer um die Vierzig. Als relativ stark und gesund Gebliebener und als einer ihrer früheren Anführer hatte Ares sich auch in den Schreckenslagern für die labileren Mitgefangenen nicht nur eingesetzt, er hatte deren angebliche Ungehorsamkeiten auf sich genommen, die Wut der Folterknechte auf sich gezogen, er hatte Folter stoisch ertragen – unbeugsam hatte er sich nicht durch Misshandlungen oder Hoffnung auf Erleichterung ‚abfärben‘ lassen.


***** diesen folgenden Text hat die Autorin wörtlich den autobiografischen Aufzeichnungen von Mikis Theodorakis, dem griechischen Komponisten, Sänger und Freiheitskämpfer entnommen. Er stammt also nicht von ihr.
Die Misshandlungen bestanden aus Einzel- und Massenfolterungen, Zwangsarbeit, Durststrafen, moralischen und psychischen Erpressungen. Wenn jemand "zerbrach" - also die Reueerklärung unterschrieb -, mußte er, um die "Echtheit" seiner Reue zu beweisen, seinerseits zum Folterer werden. So kam es zur erstaunlichen Situation, daß die meisten "Prügler", wie sie genannt wurden, ehemalige Häftlinge waren.

Das "Abfärben" wurde systematisch betrieben: Verleugnung der Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei; Bekehrungs-Briefe an die Bewohner der Heimatgemeinde; Briefe an Unbekannte, deren Adressen dem Telefonbuch entnommen wurden; Reden während der "Stunde zur nationalen Erziehung" um 11 Uhr vormittags vor der ganzen Abteilung; Teilnahme an Pogromen gegen die uneinsichtigen Gefangenen; Teilnahme an Prügelaktionen und Folterungen. Für all diese Aktivitäten gab es ein Heft, in das der Verantwortliche die genaue Anzahl der Briefe, der Reden, Folterungen usw. eintrug. Der Kommandant der Abteilung gab persönlich die Erlaubnis zum ersten Athen-Urlaub - die höchste "Anerkennung" für einen Gefangenen. Der Kommandant sah ihn von oben bis unten an, kontrollierte bedächtig dessen Heft und sagte: "Nur dreimal geprügelt, und du willst schon nach Athen? Mach fünfmal daraus und komm wieder." Er mußte also noch zweimal prügeln, der beaufsichtigende Gendarm trug das, mit Kommentaren versehen, in sein Heft ein, und dann bekam der Gefangene den ersehnten Urlaub. Dieser "Abfärbe-Prozeß" dauerte Monate. Wenn ein Gefangener ihn hinter sich hatte, erhielt er eine Waffe und mußte Manöver [ in der regulären, griechischen Armee] mitmachen. Wenn auch dort alles nach Plan lief, wurde er in die Fronttruppe von Makronissos aufgenommen. Weil viele Linke dies alles erduldeten, um den Folterungen zu entgehen und später an der Front [zu den Partisanen, den Regierungsgegnern] überzulaufen , war die Lagerleitung wachsam. Abgesehen von Spitzeln unter den Soldaten, bewachten Gendarmen während der Schlacht die ehemaligen Gefangenen. Und wenn diese daneben schossen oder zu fliehen versuchten, wurden sie sofort niedergeschossen. Weil die Soldaten das wußten, kämpften sie verbissen und mordeten mit großem Eifer ihre eigenen Kameraden. Vielleicht dachten sie immer wieder nur daran, Vertrauen zu erringen, um leichter überlaufen zu können. Tatsächlich liefen Hunderte von ehemaligen Makronissos-Häftlingen zu den Partisanen über. Aber es war ein verschwindend kleiner Teil. Denn neben der Furcht vor den Gendarmen wurden die Soldaten beim Töten mit der Zeit fanatisch: In der ersten Zeit ekelst du dich vor dir selbst, weil sich diese Philosophie des Das-Ziel-heiligt-die-Mittel so verselbständigt hat. Du wirst also zum Mörder, um dich anschließend auf die Seite deiner Opfer zu schlagen? Aber was kannst du schon dafür? Schuld bist nicht du, schuld sind die anderen, die Führung deiner Partei mit ihren Fehlern. Also, töte auch du, daß dieser dreckige Krieg zu Ende geht, daß der Aufruhr ein Ende hat und du nach Hause gehen kannst.

Über die Insel Makronissos schreibt Mikis Theodorakis:

Die Lagerspezialisten kombinierten körperliche und psychische Gewalt. Totale Verzweiflung und das Wecken von Hoffnung. Die Wahl fiel nicht zufällig auf diese Insel. Kein Tropfen Wasser, ausgedörrte Erde, übersät mit Menschenknochen, das feindliche und aufgewühlte Meer vor Attika. Ein Meer-Stacheldraht. Dann das Leben in Zehn-Mann-Zelten, in die sie dreißig Gefangene pferchten. Wassermangel, das wenige und miserable Essen, der Wind, der die rote Erde aufwirbelte, die Zwangsarbeit unter greller Sonne. Und schließlich die unerträglichen Strafen. Die Stacheldraht-"Zelle" im Freien, in der man tagelang ohne Wasser der Sonne ausgesetzt war. Die Pogrome, ausgeführt von Hunderten von Wächtern mit Bambusstöcken. Und natürlich alle klassischen Foltermethoden: Schlagen auf die Sohle, Zigarettenausdrücken und Einbrennen von heißen Eisen in die Haut, Fingerbrechen mit Eisen oder Stein und alle nur möglichen Mißhandlungen der Genitalien und des Afters.

So breitete sich das Gefühl der absoluten Einsamkeit aus: Du bist allein, ausgeliefert der Ungnade der entfesselten Elemente der Natur und des Menschen. Keiner kann dir helfen. Auf Makronissos starben Mythen und Götter. Es starb auch das Wesen, das du Mensch genannt hattest. Du warst zu einem Wurm und die anderen über dir zu Ungeheuern verkommen. Die Erde speit dich aus, das Meer ohrfeigt dich, der Himmel spuckt auf dich herunter. Der Genosse von gestern ist heute dein Folterer. Er schlägt dich und schreit: "Warum gibst du nicht auf, du Wichser? Willst besser sein als ich? Aber ich krieg dich schon klein!" Denn für einen, der aufgegeben hat, ist einer, der standhaft bleibt, die Personifizierung seines Verrats. Er verspürt ein inneres Bedürfnis, ihn zum Aufgeben zu zwingen. Damit kein Spiegel mehr da ist, ihm seinen Kompromiß zu offenbaren. Hinzu kam das ganze Theater, das die Regierung auf Kosten der Gefangenen inszenierte. Denn das "Umerziehungslager Makronissos" wurde, wie andere Verbannungslager auch, von den Offiziellen als das "Becken von Siloam", die "Schule des Genos", der "moderne Parthenon" bezeichnet und rege besucht. Von Königin Friederike vor allem, verschiedenen Minister bis hin zu ausländischen Journalisten und einheimischen "Persönlichkeiten". Die Wege und das Sanatorium wurden gekalkt. Anschließend legten sich Gendarmen ins Sanatorium und spielten die kranken Gefangenen. Die Zelte mußten gesäubert werden, die Lagerfront wurde hergerichtet. Und dahinter Dreck und Hunger, Gefolterte, Verkrüppelte und Tote. Es gab nicht die geringste Chance, daß dein Martyrium bekannt wird: Du bist isoliert, verurteilt, für immer verloren. Du bist allein, der Gnade deiner erbarmungslosen Folterer ausgeliefert. Da drehst du durch. Irgendeine Schraube in deinem Gehirn oder Nervensystem lockert sich, ein Riemen reißt, und dein Kopf oder deine Hand geraten dir aus der Kontrolle. Der Verrückte von Makronissos ist für gewöhnlich ein willenloses Geschöpf mit einem Tick. Ein Geschöpf, das sich in lichten Momenten seiner Lage bewußt wird, was anschließend den spastischen Mechanismus nur intensiver auslöst. Noch heute gibt es Menschen, die Tabletten nehmen, um nicht wieder vom Makronissos-Syndrom überwältigt zu werden.

Ende des Berichts von Mikis Theodorakis

Viele waren schwach geworden, gaben auf und schworen mit der Unterschrift unter dem Dokument der kommunistischen Partei ab. Ares nicht. Und auch deswegen lieben ihn die Menschen jetzt noch, die ihn damals erlebt haben. Doch davon erfährt Minou kaum etwas, kaum etwas über sein vergangenes Leben, weil seine Freunde gleichzeitig Leidensgenossen sind. Und niemand berichtet in normalen Zeiten gern von der eigenen menschlichen Erniedrigung, vom Verlust der Würde und ekelhafter Folter. Nein, man redet nicht über die Traumata vergangener Zeiten und schon gar nicht, wenn man sich nach langer Zeit wieder trifft und doch das Leben zelebrieren will.
Minou ist also fast ahnungslos, spürt manches und weiß nichts Genaues. Will sie es wissen? Ein Gänschen ist sie auf alle Fälle und fühlt sich manchen Dingen nicht gewachsen. Ares Freunde sprechen nicht ihre Sprache und die meisten auch kein Englisch.
Nicht einmal vage gelingt es ihr, die hin- und wieder aufgeschnappten griechischen Worte zu einem Bild zusammenzusetzen. Und er, um den sich alles dreht, schweigt vor ihr über diese Dinge. Ares schweigt wie ein Grab.

Von einer Griechin wird Minou – Jahrzehnte später - erfahren, dass er bis zu seinem fünfunddreißigsten Lebensjahr Partisan und Gefangener des Regimes gewesen ist. Niemals hatte er ein bürgerliches Leben gekannt. Erst 1955, als sein letztes Intenierungslager aufgelöst wurde, kam er in Freiheit, musste aber ins Ausland flüchten. In der Zeit seiner politischen Verfolgung war er in Griechenland dreimal zum Tode verurteilt worden und hat nur durch Fügung des Himmels, durch plötzliche Änderung des politischen Klimas, auch durch Hilfe von Freunden, überlebt. Fünfzigtausend Linke hatten dieses Glück nicht und wurden im Lauf der Jahre hingerichtet. Das weiß Minou alles zu diesem Zeitpunkt nicht.

Mit neununddreißig Jahren hat der Mann, den sie liebt, ein Leben voller Kampf und Gefangenschaften hinter sich.

Minou kann seine Geschichte und seine Probleme nicht erahnen. Gut ... sie weiß, dass er als Rebell verhaftet war ... aber kaum mehr. Sie hat genug mit sich und ihren veränderten Lebensumständen zu tun. Sie wird mit vielen griechischen Menschen konfrontiert, auch Frauen, die ihre Sprache nicht sprechen und die voller Liebe und Anhänglichkeit zu Ares kommen.
Man behandelt die Deutsche freundlich ... aber ... sie ist ausgeschlossen aus dem innerem Kreis. Das spürt sie.
Und sie ist eifersüchtig. Ares unterlässt es, sich ihr so zu widmen, wie sie das gern möchte.

Ares ist ein starker Mann und einer der wenigen, der ohne körperliche Beeinträchtigung diese Torturen überstanden hat. Doch er hat nie die Zeit oder die Kraft gehabt, sich eine sichere Existenz aufzubauen. Ein gutes Jahrzehnt auf verschiedenen Gefangeneninseln unter ungesunden, erniedrigenden Umständen, ohne Frauenliebe. Will er eine vergeudete Jugend vielleicht jetzt, genau wie zuvor in München, wettmachen durch Sex und Lebensgenuss?
Er trifft die jungen Töchter ehemaliger Mitkämpfer. Er trifft Bewunderinnen. Minou sieht die interessierten Blicke zwischen ihm und   anderen Frauen. Ist er ihr treu? Sie bezweifelt es. Und bald hat sie auch die Gewissheit. Er gibt es selbst zu: Er ist nicht treu.
Er ist heimgekehrt zu seinen Leuten. Sie ist die Ausländerin, die von allen lieb und gut behandelte ... Fremde.

In Griechenland ist in den letzten Jahren etwas mehr politische Toleranz eingekehrt. Die kommunistische Partei, die verboten war, darf jetzt ( von den Regierenden ungeliebt zwar ) präsent sein. Auch eine kommunistische Zeitung, bei der Ares nun fest angestellt ist, erscheint seit einer Weile, wird aber in der Folgezeit häufig von einem Tag auf den anderen verboten. Da gibt es kein Geld für die Angestellten. Ihr Geliebter ist mittellos.


Und dann erfährt sie etwas, was sie stoisch hinnimmt, was aber Ares in große Bestürzung versetzt. Sie hat es geahnt und eine Frauenärztin bestätigt es ihr: Sie ist schwanger. Im zweiten Monat. Und sie haben kein Geld. Von Abtreibung redet Ares und schämt sich gleichzeitig für diesen Satz. Doch was soll man tun? Die politische Lage verschlechtert sich für die Linken, die Zeitung ist wieder einmal verboten: "Wie können wir denn ein Kind ernähren?" Der Blick seiner, ach so geliebten Augen, ist plötzlich hilflos, müde, voller Trauer. Minou, in seine Armen gekuschelt, flüstert ... nein... das würde sie nicht tun, das dürfe er nicht von ihr verlangen. Sie wagt es ganz einfach nicht, etwas gegen die Natur zu unternehmen. Sie kann es nicht. Von innen heraus nicht. Es ist nicht ihr vager Glaube an Gott, der sie abhält - wenn es diesen Glauben überhaupt gibt - es ist nicht die religiöse Erziehung ... es ist ein Etwas, das tief sitzt, es ist das Wissen, dass sie dem Leben und ihrer Bestimmung nicht zuwiderhandeln darf.

Ares und Minou verheimlichen einander die Ängste, die jeder von ihnen hat. Es bleibt beim Status quo. Der kleine Fötus wächst.

Ares bringt Minou nach einiger Zeit, die sie gemeinsam sehr beengt in einer Mini-Wohnung bei Freunden in Athen verlebt haben, zu Sokrates, seinem Vater. In einem Vorort von Athen lebt er– dort stehen einstöckige Häuser mit flachem Dach, das wie eine Terrasse genutzt wird, dort ist ein hölzerner Eisschrank in der sauberen Küche. Lange, rechteckige Eisbrocken werden morgens mit einem Auto von Haus zu Haus angeliefert. Man kocht auf einem zweiflammigen Spirituskocher. Drei Zimmer, die Küche, eine Toilette ( ohne Klospülung) hat das Häuschen, leider keine Dusche und zum Waschen nur ein Becken. Da wohnen der Vater und Pavlos, Ares unverheirateter Bruder. Ein junges Mädchen, Maria, kommt täglich aus der Nachbarschaft herüber, kocht und putzt.
So wird es seit Jahren im Haus des alten Mannes gehalten. Jetzt ist Minou dazugekommen. Sie schläft auf der Couch im Wohnzimmer. Sokrates, ein eindrucksvoller Patriarch, ist schwach und vom Krebs gezeichnet. Doch die Kraft nimmt er sich noch, mit der jungen ‚Frau‘ seines heimgekehrten Sohnes jeden Morgen zum Markt zu gehen, um Lebensmittel einzukaufen. Maria liest Sokrates abends aus Büchern vor, er ist an Geistigem interessiert. Minou erfährt: er ist fast blind.

Ares bleibt erst einmal drei Tage verschwunden, nachdem er sie zum Vater gebracht hat. Minou fühlt sich verloren, sie kann kaum essen, ihr ist oft schlecht. Ab und zu kommt Ares, bleibt eine Nacht bei ihr, dann ist er wieder Tage und Nächte lang ... ja wo?

Sein Bruder Pavlos, einige Jahre jünger als er, ist gut zu Minou, aber sie kann sich mit ihm wie auch mit Maria und Sokrates kaum verständigen. Pavlos ist Behördenangestellter irgendwo in Athen, er kommt nur zum Schlafen ins Haus seines Vaters. Minou sieht ihn beim Frühstück. Er ist auch ein hübscher Mann, doch ihm fehlt alles, was Ares so unvergleichlich macht: das Geheimnis. Die beiden Brüder haben auch nicht die gleichen Freunde. Sie leben in verschiedenen Welten.
*

Minou hat einen Checkup beim Frauenarzt. Sie verabredet sich mit Ares im Zentrum von Athen. Er ist beruflich sehr eingespannt und wird sich mühsam von der Zeitungsredaktion für ein paar Stunden losreißen, das hat er ihr nach einem Besuch am Tag zuvor versprochen. Minou fährt also am Morgen mit dem Bus nach Athen, muss zweimal umsteigen, es ist sehr heiß. Am Sintagma-Platz wartet sie eine runde Stunde, Ares kommt nicht. Was soll sie tun, sie hat nicht einmal Münzen in der Tasche für die Rückfahrt zum Vater. Sie ist jetzt in jeder Hinsicht auf den Geliebten angewiesen. Eine unsagbare Angst und Verlassenheit springt sie an. Sie sitzt erst eine Weile auf irgendwelchen Stufen, wartet. Sie möchte weinen, ist aber zu versteinert. Sie weiß weder den Namen des Arztes, bei dem sie angemeldet ist, noch, wo er wohnt. Ares kommt nicht. Nein. Es ist, als ob der Grund unter ihren Füßen wegbröckelte. Die Angst ... sie darf sie nicht die Überhand gewinnen lassen. Ruhig bleiben, ruhig bleiben ...
Telefon gibt es in der Wohnung von Ares Vater nicht. Und sie weiß nicht den Namen der Zeitung, für die Ares arbeitet ... er hat ihn schon mehrmals erwähnt ... sie hat ihn vergessen. Nach zwei Stunden purer Verzweiflung, in denen sie, innerlich matt, immer auf dem engen Radius des Platzes hin- und her trippelt, wo ihr Treffpunkt sein sollte, ruft sie eine Taxe, fährt zurück und bittet den alten Mann, die Taxe zu zahlen.
Als Ares am nächsten Tag auch nicht kommt und nichts von sich hören lässt, kann sie nicht mehr an sich halten. Die Spannung zerreißt sie fast. Sie muss sich für seine Unzuverlässigkeit rächen. In ohnmächtiger Wut macht sie sich über sein Fotoalbum her - das im Wohnzimmer auf dem Tisch liegt, weil er es ihr vor Tagen stolz gezeigt hat - reißt einige Seiten mit seinen Kindheitsbildern entzwei – nur Kindheitsaufnahmen sind darin – sie zerfetzt sie geradezu. Erst später wird sie von Pavlos erfahren, dass das Album von Ares verstorbener Mutter vor dreißig Jahren angelegt, sozusagen Familienheiligtum ist!
Als Ares einige Tage später zurückkommt, die Bescherung sieht und noch dazu von Minou mit Anklagen überhäuft wird, schlägt er zu. Heftig. Ihr mitten ins Gesicht. Sie wehrt sich, er stürzt sich auf sie. Der Vater greift ein, will Minou helfen. Ares stößt ihn zur Seite. Maria springt dazwischen. Er schlägt auch Maria. Der Vater hat Herzschmerzen und muss ins Bett gebracht werden. Ares ist weiß wie die Wand. Er zittert am ganzen Körper.


*




was vorherging
1960. In München hat Minou den Griechen Ares Janopoulos kennengelernt, sich in ihn verliebt  und ist mit ihm nach Athen gezogen. Geld haben sie wenig und auch andere Probleme tauchen auf. Bald stellt sich heraus: sie ist schwanger.


ALLES WIRD GUT

"Ab heute ändert sich alles", sagt Ares, als er zwei Tage später zu Besuch kommt. "Du ziehst jetzt zu mir in die Stadt. Ich habe ein Appartement gefunden." Eine halbe Stunde danach langen sie mit einer Taxe im Zentrum von Athen an.

Eine kleine Straße in der Nähe des Omonia Platzes. Die Wohnung im Erdgeschoss eines vierstöckigen Hauses. Neubau. Sie sind Erstbezieher. Dementsprechend frisch und nach Reinheit duftet hier alles.

Es ist greller Tag draußen, doch die Wohnung ist vollkommen dunkel.  Ares knipst das Licht an. Da ist eine schmale Diele mit einem breiten Schrank aus hellem Holz, links davon ein winziges Bad mit Klo und ... wie wunderbar ... endlich wieder eine Badewanne! Hinter einer Art hölzerner, nach den Seiten verschiebbarer Jalousie eine Küchenzeile mit Einbauspüle, kleinem Schränkchen und Regalen an der Wand.

Durch eine Tür treten sie dann aber in ein von Helligkeit durchflutetes Zimmer mit zwei großen Fenstern und strahlend weißen Rauhfaserwänden. Daran ein paar Kunstdrucke unter Glas. Rahmenlos. Miro. Chagall. Das sind nicht gerade Minous Lieblingsmaler.
Findet er die toll? ‚Auch gut‘, denkt sie.

In dem aufgeräumten, vor Sauberkeit blitzenden Ein-Zimmer-Appartement scheint Ares sich schon eingerichtet zu haben. Esstisch mit vier Stühlen. In der Nische eine schmale Liege. Dazu ein Schreibtisch aus hellem Holz, mit Schreibmaschine und einfacher Stableuchte, dahinter ein sachlicher, ebenfalls heller Bücherschrank.

"Die Wohnung ist klein", sagt Ares.
"Sie ist schön", sagt Minou und sie küssen sich lange.

"Das wird jetzt auch dein Zuhause sein. Da, im Schrank habe ich Platz gemacht für Deine Kleider." Minou ist schon an seinen Körper geklammert. Wie sehr hat sie sich nach seiner Nähe gesehnt! Vor Hingezogenheit ist ihr ganz schwindlig.
"Erst räumst du deine Sachen ein", sagt er und lacht, "ich mache uns inzwischen einen Kaffee."

Die Hälfte des drei Meter breiten Einbau-Schrankes in der Diele ist bereit für ihre Klamotten. Sie hängt sie auf schon vorhandene Bügel neben seine Hemden und Hosen und seine beiden frisch nach Reinigungschemie riechenden Anzüge. Auch von den Wäschefächern, die bis zur Decke reichen, hat er ihr einige frei gemacht.

"Es wird gleich läuten", sagt er, "ich habe nämlich ein zweites Bett bestellt. Wir werden es dort unter das Fenster an die Wand rücken. Auch zwei passende Baumwolldecken hab ich gekauft, die liefern sie gleich mit ... damit wirst du tagsüber aus den Betten zwei Sitz-Couchen machen, bambina."
Am frühen Abend treffen die neuen Sachen schon ein. Auch eine Kopfkissenrolle für Minou ist dabei.

Am nächsten Morgen, bevor er zur Arbeit geht, zeigt Ares Minou die Läden in der Nähe, in denen sie von jetzt ab einkaufen wird: am ersten Tag besorgen sie gemeinsam Gemüse, Kartoffeln und die winzigen Fische - maridas nennt man sie - die im Ganzen gegessen werden, so wie sie sind, ohne sie zu putzen oder auszunehmen und die Minou dann in der Pfanne in Ölivenöl backt. Die Köpfchen werden von den Griechen auch mitgegessen, aber das kriegt Minou nicht auf die Reihe – o, diese winzigen Augen, wenn sie beim Brutzeln milchweiß werden – nein, sie schneidet die Köpfe vorher ab, was Ares mit – kopfschüttelnder- Toleranz akzeptiert.

Auf Ares Bitte zeigt die Krämerin im Laden Minou das  Hackfleisch,  rechteckige, tiefgefrorene Halbpfund- Blöcke, Importfleisch aus Argentinien, das man hier bifteki nennt, das Minou fortan oft morgens kaufen und dann auftauen wird und mittags mit feingeschnittenen Gewürzen, Lauch, Petersilie und viel Zwiebeln zu Frikadellen verarbeitet, mit Kartoffeln und Gemüse serviert. Die Krämerin nimmt ‚i bifteki‘ aus einer Art früher Tiefkühltruhe heraus, auf die sie sehr stolz ist.
Hier gibt es auch viele, Minou unbekannte Sorten von steinharten, bohnen- oder erbsengroßen, meistens rötlichen Hülsenfrüchten. Sie weicht sie vorher zwei Tage lang ein und kocht daraus kräftige Suppen. Auch bereitet sie zu jedem Essen einen grünen oder bunten Salat. Ihre Kochübungen finden auf einem zweiflammigen Spirituskocher statt, denn einen Herd oder Backofen haben sie nicht.

Um halb ein Uhr pünktlich kommt Ares von seiner Zeitungsredaktion herüber geeilt und dann essen sie gemeinsam zu Mittag.

"Hmm ...", sagt er, "gut gemacht, bambina", und leckt sich demonstrativ mit der Zunge über die Lippen,   lächelnd angesichts ihrer neu erworbenen Künste. Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt satt werden, wo er ihr doch jeden Morgen nur wenige Drachmen für Lebensmittel auf den Tisch legt. Minou lernt auch, den feinen ‚Elliniko Kafe‘ im kleinen Messingkännchen zu kochen, den sie sehr stark und mit viel Zucker trinken. 
Anschließend kuscheln sie nackt in der Hitze des Athener Nachmittags in ihrer, von weißen Jalousien hell und licht beschatteten Wohnung. Nach der Liebe schläft er meistens ein und Minou schläft nicht, sondern starrt fasziniert auf seinen vor ihren Augen hingebreiteten, tiefgebräunten Körper. Sie kann nicht an sich halten, muss sich an ihn schmiegen, ihn berühren, seine Stirn küssen. Gut, dass er schläft und das nicht mitkriegt. Er ist so schön, dass es ihr den Atem nimmt, angefangen von seinem nachtschwarz glänzenden, üppigen Haar über das edel geschnittene Gesicht, die schwarzbeflaumte Brust, sein Geschlecht - das ihr in seiner ruhebedingten Erschlaffung so rührend vorkommt und das sie so sehr liebt und auch gleich wieder mit ihren Lippen küssen muss - zu den schmalen Hüften, kraftvollen Oberschenkeln, den perfekt geformten Waden. Und ... das weiß sie schon lange ... er hat den schönsten, knackigsten Arsch, den sie je gesehen hat. Eines ist ihr klar, mehr als seine anziehende Oberfläche liebt sie seine Augen, seine Art, sein Denken, sein – kompliziertes – ihr immer wieder entgleitendes Ich. Ohne dieses heftige, so lebensvolle, dynamische Innere wäre seine Schönheit eine leere Schale .

Gegen drei Uhr nachmittags macht sich Ares, frisch geduscht, wieder auf zu seiner Zeitungsredaktion. Oft kommt er abends spät heim und ‚spät‘ bedeutet elf Uhr oder Mitternacht - "Die Arbeit, bambina ... wir konnten nicht aufhören, bis der Artikel fertiggestellt war!" Manchmal kommt er gar nicht. "Wegen einer dringenden Recherche mussten wir über Nacht in Korinth ( oder sonstwo ) bleiben!"

Wer ist wir? Minou ist eifersüchtig. Gott sei Dank, der andere ist ein Mann, ein Kollege. Das sagt Ares.

Wenn er aber rechtzeitig heimkommt, macht sie sich schick und sie gehen aus. Manchmal mit Freunden. Abends essen sie niemals zuhause, sondern sitzen in rebenumrankten Weingärten, speisen griechische Köstlichkeiten, Minou trinkt ein oder höchstens zwei Gläser Retsina. Sie raucht auch nicht mehr, dem Kind zuliebe ... höchstens eine oder eine halbe Zigarette ab und zu  in Gesellschaft. 
Manchmal besuchen sie auch Freilichtfilme oder fahren mit dem Bus zum Meer. Nachts schlendern sie in Hochstimmung durch die Straßen nach Hause, lieben sich in der weißen Wohnung, in der immer aufgeräumt ist, weil sie beide so wenig besitzen. Da gibt es keine Nippes,  keinen Sammelkram und sie haben beide nicht die Gewohnheit, benutzte Kleider oder Gegenstände herumfliegen zu lassen. Minou hat ohnehin den ganzen Tag Zeit, sich um die Wohnung zu kümmern. Auch Ares ... bevor er seinen Schreibtisch morgens verlässt, räumt  ihn auf, dass nur die Schreibmaschine und die Lampe stehen bleiben und alles Manuskriptzeug, an dem er gearbeitet hat, tut er in die schwarze Aktentasche und nimmt es mit zur Zeitung oder legt es in den Bücherschrank, den er mit einem Schlüssel absperrt.

*

"Wir liebten uns und ich war seine kleine Hausfrau. Ich ging jeden Morgen zum Krämerladen und auf den Markt und kaufte ein ... ich machte die Wohnung sauber, wusch seine Wäsche und kochte für ihn, alles Dinge, die ich bisher noch nie im Leben getan hatte, die mir aber leicht fielen", sagt Minou am Telefon zu Dr. Goldberg.

Was sie dem Therapeuten nicht sagt: Ares Liebemachen tut ihr weh. Das liegt vielleicht auch an der Schwangerschaft, von der sie und der Geliebte übrigens nicht mehr reden. Der Schmerz macht ihr nichts aus, wenn Ares nur mit ihr zufrieden ist und ihr auf seine schweigsame, doch heftige, leidenschaftliche Art Zärtlichkeit gibt. Trotz der Schmerzen, die er ihr bereitet und dem Ausbleiben der Orgasmen, die sie bei ihren anderen Männern gehabt hat, weiß sie, dass sie ihn mehr liebt, als sie je einen Mann geliebt hat.

Am späten Nachmittag sitzt sie manchmal mit einer verheirateten Griechin, die ebenfalls im Haus wohnt und auch schwanger ist, auf der Dachterrasse des vierstöckigen Gebäudes. Sie machen Handarbeiten und Minou wartet auf IHN. Dann kann sie Ares schon von weitem zusehen, wie er mit seinem geschmeidigem Gang und energischen Schritten unten zwischen den Häuserzeilen die Straße entlang eilt. Es wird nur wenige Minuten dauern, bis sie sich in den Armen halten. Immer hat sie bei seinem Herannahen diese irrsinnigen Schmetterlinge im Bauch, die sie jedesmal innen zum Beben und Vibrieren bringen. Seine Anwesenheit – aber auch seine häufige Abwesenheit – halten sie in einem stetigen inneren Aufgewühltsein.

*

 


ODER DOCH NICHT ?

"Ich habe einen Monat später Athen verlassen", sagt Minou zu Dr. Goldberg am Telefon. "und dafür gibt es einen gravierenden Grund. Dieser Mann hat mich in ein Trauma gestürzt, vielleicht das größte Trauma meines Lebens:

Denn irgendwann haben wir natürlich wieder einen Termin beim Gynäkologen und diesmal ist Ares selbstverständlich dabei.

Und ich komme in diese fremde Arztpraxis, wo ich keinen Menschen kenne und keiner spricht deutsch, was ja nicht unnormal ist in Griechenland, aber es spricht auch niemand englisch oder französisch und Ares wartet im Nebenraum, als ich ins Sprechzimmer geführt werde und die ganze Sache macht mir von vorneherein Angst. Es liegt etwas Sonderbares in der Luft. Dann kommt ein Arzt mit Mundmaske, der nicht spricht, zwei weibliche und noch eine männliche Gestalt stehen etwas im Hintergrund, alle Gesichter von Mundmasken halb verdeckt, Dinger, die zur damaligen Zeit bei normalen Untersuchungen Ärzte eigentlich nicht tragen, und dunkle Augen sehe ich, die ebenso aufmerksam, wie unbeteiligt auf mich blicken.

Doch es ist die Atmosphäre ... nie bisher habe ich dieses lastende Neonröhrenlicht in einer Frauenarztpraxis erlebt und das ist kein Gynäkologenstuhl, auf den ich steigen soll, sondern eine Art Bahre, auf der man flach liegt ... daran sehe ich seitlich, o Gott, Hand- und Fußschlaufen. Will man mich anbinden? ... und diese unbeteiligten Augen. Bin ich unter die Roboter geraten? Die haben etwas vor. Das wird doch keine normale Sache.

Auf meine Fragen, auf meine Verständigungsanstrengungen hin bleiben sie taub.

"Ares", rufe ich - zuerst noch beherrscht - denn er soll hereinkommen und für mich dolmetschen. "Ares" brülle ich dann in höchster Not, weil er nicht kommt ... ich weiß, er sitzt nur ein paar Meter entfernt, saß dort zumindest, als ich hierher geführt wurde. Ich rufe mehrmals nach ihm, schreie ... hysterisch jetzt. Er lässt mich im Stich. Und diese kalten Gesichter! Das vermummte Personal. "Stop", brülle ich, und schüttele sie ab, als eine der unkenntlichen Schwestern nach meinem Arm greift. Will sie meine Hände in die Schlaufen stecken ? ... Und hat da nicht eine dieser Gestalten eine Spritze in der Hand? Wild mache ich mich los, springe auf, sehe in lauter überraschte Gesichter, rase durch den Raum und hinaus. Im Warteraum stürze ich an Ares vorbei, der hochschnellt und "halt ... was machst du?" ruft.
Er also hinter mir her. Aber ich renne, renne ..."

"Sie meinen, sie haben Ihnen das Kind wegnehmen wollen?" fragt Dr. Goldberg.
"Ja, ich glaube, es war alles für eine Abtreibung vorbereitet. Ich glaubte es DAMALS . Tausendmal habe ich später darüber nachgedacht. Wurde mir im Lauf der Jahre immer unsicherer. Auch weil Ares es stets konsequent abgestritten hat. Sein einziger Kommentar, als er mich auf der glutheißen Straße einholte und auch später, wenn ich die Sache diskutieren wollte:
"Du bist verrückt!"


Dr. Goldberg sagt: "Vielleicht haben Ihnen tatsächlich die Nerven einen Streich gespielt ?"
"Ich bin mir bis heute nicht sicher", sagt Minou, "ich bin mir über gar nichts sicher. Doch jahrelang machte ich mir Gedanken: Warum ist Ares, wenn es denn eine Routine-Untersuchung sein sollte, nicht mit mir zu dem Arzt in der altväterlichen Praxis ganz in unserer Nähe gegangen, dem Arzt  , den ich kannte, bei dem wir schon einmal zuvor gewesen waren und der Englisch sprach?"

"Warum haben Sie Sich nicht in den nächsten Tagen an diesen Ihnen bekannten Doktor gewandt, damit er hätte nachforschen können, was da wirklich los gewesen ist? Die mussten zumindest eine Aufzeichnung über den Termin haben, wenn es denn eine reguläre Frauenarztpraxis war, zu der Ares Sie gebracht hatte."

"Es war vielleicht sogar eine Klinik ... ich bekam ja nur Korridore zu sehen und ein sehr steriles Behandlungszimmer und, wie gesagt, helle Flure in einem modernen, hellen Haus.

Wir waren ein Stück mit der Taxe gefahren, ein Stück gelaufen, schließlich sah ich die kyrillische Aufschrift auf einem großen Schild am Haus ... ich kann doch kein Griechisch lesen. Ich kannte dieses Viertel nicht, ich hatte mir die Örtlichkeiten nicht eingeprägt. Ares war da, auf ihn verließ ich mich. Ich dachte an nichts Böses."

"Und dann passierte DAS", sagt Dr. Goldberg.
"Ich war so sehr vor den Kopf gestoßen, konnte einen Tag lang keinen Gedanken mehr fassen. Ich war wirklich fast verrückt.
Für mich war klar, Ares hatte mit den Ärzten ein Komplott geschmiedet, um mir das Kind zu nehmen. Ich war auf dem tiefsten Punkt der Verunsicherung. Unter mir gab bei jedem Schritt, den ich in den nächsten Tagen tat, der Boden nach wie bei einem  Erdbeben."

"Sie sind aber nie sicher gewesen, dass alles wirklich so war, wie Sie es empfanden?"
"Nie. Ich bin bis heute hin-und hergerissen. Weiß nicht einmal, ob die Schwester wirklich eine frisch aufgezogene Spritze in der Hand hielt oder vielleicht doch nur den Tupfer für einen Abstrich. Aber warum war da so viel Personal? Ich sehe noch heute in Alpträumen diese hellgrün mit Atemschutz verhüllten Gesichter und wie diese seltsam gleichgültigen Augen mich eiskalt mustern. Also, ehrlich gesagt, vom Bauch her glaube ich noch immer, dass sie eine Abtreibung vorhatten, wenn die andere Seite in mir auch zu ‚Vernunft‘ und Mäßigung meiner Gedanken rät."

"Sie haben nie mehr mit Ares über Ihren Verdacht und Ihre Ängste gesprochen?"
"Er war vollkommen unzugänglich und schwieg wie ein Grab, was das betraf."

"Weiter in der Geschichte: Also, ich, mit dem Baby im Bauch, sage Ares bald darauf, dass ich zurück nach München fahren möchte und hoffe nichts sehnsüchtiger, als dass er mich bittet, bei ihm zu bleiben. Dass er einlenkt und klärende Worte spricht über die Zukunft, über das gemeinsame künftige Leben ... dass er das Baby mit dem Herzen akzeptiert. Aber ... er redet kaum, geht düster umher, von Tag zu Tag scheint sein Gesicht verschlossener.

"Tu was du für richtig hältst, Minou", sagt er, als ich wieder einmal von Abreise spreche, "ich wüsste ohnehin nicht, woher wir die Kosten für den Klinikaufenthalt bei der Geburt und das Geld fürs Baby nehmen sollen."

"In Deutschland kann ich arbeiten", sage ich, "in Deutschland bin ich versichert." So rede ich. Ach, ich bin so zerrissen. Will ich wirklich weg von ihm? Vom Verstand her, ja, vom blutenden Herzen her ... nein. Hätte er mir nur ein einziges Mal gesagt, dass er mich liebt, dass er das Baby will ... aber ... er bemüht sich nicht, mich zu halten, verhehlt mir nicht, wie schlecht es um unsere finanzielle Situation steht. Seine Zeitung ist wieder einmal verboten und er bekommt keinen Lohn, wir haben nicht einmal genug Geld, um Essen zu kaufen. Wir hungern noch nicht, aber leben von Zuwendungen seiner Freunde, was weder Ares noch ich seelisch unbeschadet akzeptieren können.

Aber etwas anderes ist für mich viel schlimmer. Eine Frau hat sich in sein Denken eingeschlichen, in sein Leben eingeklinkt. Sie verbringen viel Zeit miteinander. Eine Frau seines Alters ist es, eine Griechin und einstige Vertraute von ihm, die durch Heirat einflussreich und wohlhabend geworden ist und die, wie sich später herausstellen wird, ihn zielgerichtet und intrigant an sich zieht, die zwischen Ares und mir die Kluft noch mehr aufreißt und mir die Tage zur Qual macht. Und eines Tages gesteht er, was ich längst gewusst habe: er schläft mit ihr."

"Warum haben Sie nicht die Leute besucht, deren Athener Adressen Sie hatten?", fragt Dr. Goldberg. "Gab es da nicht Elena, aber auch Christina, die Tochter von Nikos, die Ihnen offensichtlich wohlgesonnen waren? Und Sie hätten den Avvocato aufsuchen können. Ihnen stand noch Geld zu, auch hätten Ihnen Ihre sizilianischen Freunde bestimmt weitergeholfen."

"Dazu kann ich nur sagen: ich war nicht fähig, normal und vernünftig zu handeln. Ich war zu feige. Und zu stolz. So paradox das klingt: ich wollte Personen aus meinem früheren Leben nicht mit meinen Problemen konfrontieren, mein Unterbewusstsein suggerierte mir, sie hätten mich als starke, sich selbst erhaltende Person kennengelernt. Ich wollte jetzt nicht klagend, klein und hilflos vor ihnen stehen ... Das war es wohl ... ein unsinniger, vielleicht falscher Stolz. Ich ging in Athen nicht einmal in die Nähe von Leuten oder Plätzen, die ich vom früheren Aufenthalt her kannte", sagt Minou, "ich wollte niemandem etwas erklären müssen."

"Was Sie da hatten, war schon damals eine handfeste Depression, denke ich", sagt der Doktor.

Aber weiter. Dann:

Im Winter ist Minou, aus Athen geflüchtet, wieder in München. Wohnt weit draußen in Trudering, in einem rauhfaserweiß renovierten, karg, doch mit fabrikneuen Möbeln ausgestatteten, nicht beheizbaren Zimmer ( so etwas gibt es!), das einen separaten Eingang hat, sodass sie mit den Vermietersleuten fast nicht in Berührung kommt, was ihr sehr recht ist. Der Boden des Zimmers besteht aus steinernen Fließen, wie in einer Küche. Alles ist klinisch sauber, ist makellos. Eine eigene Toilette hat Minou auch nebenan. Im Zimmer ein weißes, neues Waschbecken. Kaltes Wasser.

Ihre neue Bleibe liegt nah beim Flugplatz – mit Flugzeuggedröhne stetig in ihren Ohren, wenn sie in der raren Freizeit Ruhe finden will. Sie arbeitet nämlich  tagsüber bei Karstadt als Verkäuferin in der Damenkleider-Abteilung und abends von sieben bis elf als Halbtagskraft auf dem Fernsprechamt, in dem Beruf also, der ihr von Brückenstadt her vertraut ist. Bei Karstadt gibt es Kantinenessen. Im Gebäude der Haupt-Post haben sie  damals kostenlose Duscheinrichtungen und Haartrockner fürs Personal. Dort pflegt sich Minou regelmäßig.

Mit dem Jobfinden hat anscheinend in diesen Jahren in Deutschland niemand ein Problem. Zwei zehnminütige Vorstellungsgespräche, mehr hatte es nicht gebraucht und schon war Minou eingestellt worden.

Die Kolleginnen, die sie auf ihren Arbeitsplätzen kennenlernt, bleiben für sie aber merkwürdig verschwommen, fern und fremd.  Minou geht wie abwesend durch eine bleierne Zeit!

Irgendwie spürt sie alles weit weniger intensiv als früher ... nicht einmal das Unglücklichsein und die Trauer, nur eine merkwürdige Starre.

Doch sie ist diszipliniert. Es muss etwas in ihr sein, das sie jeden Morgen wieder wie eine Maschine in Bewegung setzt. Es geht ihr schlecht, aber sie erträgt es ... fast gleichmütig. Sie denkt wenig in dieser Zeit. Eine Kraft treibt sie wie selbstverständlich weiter. Sie ist allein, ohne Freunde, mit dem Baby in ihrem Bauch, das jetzt anfängt, sich durch süßes Kratzen bemerkbar zu machen. Minou spricht zu dem Baby.


Der Winter 1960 auf 1961 ist sehr kalt in Bayern. Es friert Stein und Bein. Minou ist täglich mit  Straßenbahn und Bussen zu ihren beiden Arbeitsstellen unterwegs. Hat lange Fahrzeiten, Und in Trudering stapft sie nach dem Dienst - es ist dann schon fast Mitternacht – mit dem Kleinen im Bauch von ihrer Haltestelle,  um den Weg abzukürzen,  knietief durch menschenleere, weite, weiße Schneefelder  bis zu dem klinisch sauberen Neubauten-Wohnviertel und ihrer eiskellerartigen Bleibe.


Nach der weiten Zugreise von Athen durch Jugoslawien  hatte sie in München nur noch den Wunsch, ein Dach über dem Kopf zu haben und sich ausschlafen zu können. Zwei Tage und eine Nacht war sie im überfüllten Dritte-Klasse-Abteil des Bummelzuges, eingezwängt zwischen quirligen Gastarbeitern, Richtung Deutschland  gerollt.

 Am Hauptbahnhof München angekommen, hatte sie gerade noch genug Kraft, sich in der Milchbar etliche Vollkornbrötchen und einen warmen Schokolade-Shake einzuverleiben. Ein paar Zimmer-Annoncen in der Zeitung kreuzte sie an. Sie telefonierte. Fuhr mit dem Bus zu einem der angebotenen Zimmer, das billig und sofort beziehbar war.  Sie nahm es fast unbesehen. War zu müde, zu lustlos, um weiter zu suchen.


Sonderbar, wie starr sie jetzt alles tut, was sie tun muss. Es ist, als hätte ihr Verstand, ihr Überlebensdrang sich von ihrem Gefühl gelöst. Er übernimmt jetzt ihr Handeln. Ihr wahrer Wille schläft, sie reagiert, fast ohne sich ihrer selbst bewusst zu sein, wie vielleicht Millionen schwangere, auf sich allein gestellte Frauen in all den Jahrtausenden vor ihr, sie tut alles, um sich und das Kind zu erhalten, INSTINKTIV ... verhält sich ruhig, ruhig ... innerlich ...  eine sonderbare Ruhe, das kann nur Erstarrung sein ... Ihre Sehnsucht nach Ares ist ungebrochen und doch scheint ihre Psyche diese Sehnsucht wegzudrängen, wegzuschieben, zu verleugnen.


Und auch in München handelt sie wie zuletzt in Athen. Sie nimmt mit niemandem, den sie kennt, Verbindung auf. Das kann nur ein Zeichen großer Minderwertigkeitsgefühle und totaler Verunsicherung sein. Einmal wird sie im Bus vom Neffen der Frau Kirner, der in der Kürschnerei des Familienbetriebes mitarbeitet, aber im Laden - also Minous früherem Arbeitsbereich -   so gut wie nie aufgetaucht war. Sie würde sich am liebsten unsichtbar machen, aber schon drängt er sich durch den stark besetzten Wagen zu ihr und spricht sie an. Er weiß anscheinend alles von ihr, von ihrer Kündigung, der Reise nach Griechenland. Er kennt sie beim Namen, obwohl sie nie ein Wort miteinander gewechselt haben.

Ob sie wieder in München wohne, fragt er.
Ja. Draußen in Trudering.
"Bitte kommen Sie zurück ... meine Tante würde sich freuen ... ich weiß, sie wird Sie sofort wieder einstellen! Sie hat von Ihnen gesprochen. Bitte kommen Sie. Ich meine, was ich sage."
Warm klingt die Stimme des jungen Mannes, er lässt nicht locker, insistiert heftig, solang, bis er aussteigen muss, und sie ihm noch einmal verspricht, sich am nächsten Tag bei der Tante zu melden.

Aber sie kann sein Interesse nicht wirklich verkraften, das ist die Wahrheit. Sie weiß, dass sie sich nie im Pelzhaus Kirner wird blicken lassen ... sie kann nicht ... sie kann nicht. Ist es Scham, ist es Angst vor Fragen? Ist es Feigheit? Stolz?

Und doch wärmt das offensichtliche Interesse, das ihr jemand entgegenbringt, ihre Seele. Ein wenig.

Minou hat auch einen freundlichen Arzt gefunden. In der Ambulanz der Gynäkologie des Klinikums rechts der Isar. Er ist etwas mehr als höflich. Herzlich. Er scheint sie zu mögen. Und sogar zu bewundern, weil sie das alles, Job- und Wohnungssuche so ganz allein gemeistert hat. Er lobt sie deswegen. Sie wird im Klinikum das Baby bekommen. Er wird auch bei der Entbindung ihr Arzt sein. Das ist schon arrangiert. Dem kleinen  Wesen in ihr geht es gut. Die Schwangerschaft verläuft normal, sagt der Doktor. Minou glaubt, dass sie bei diesem Arzt gut aufgehoben ist, wenn es dann soweit sein wird.

Abends in ihrem Bett unter Federdecken  im eiskalten Zimmer in Trudering, kratzt das Kind immer öfter in ihrem Bauch. Ganz sanft und süß. Sie stellt sich seine kleinen Fingerchen vor, die zaghaft herumtasten. So süß ist das Gefühl, dass sie weinen muss.
 

Eines Tages schickt ihr Ares seine Griechen. Er hat Minou suchen lassen und sie haben sie gefunden. Ares will, dass sie sofort zurückkommt. Er hat die Freunde   beauftragt, Minou in den Zug nach Athen zu setzen. Sie helfen ihr, ihren Krempel zusammenzupacken, fahren sie mit dem Auto zum Bahnhof, kaufen Fahrkarte und Verpflegung für die lange Reise, begleiten sie ins Abteil, bleiben plaudernd bei ihr, bis der Zug abfährt. Verabschieden sich in letzter Minute mit Wangenküssen. Umarmungen. Haben sie vielleicht Angst gehabt, sie könne es sich anders überlegen? Sie winken ihr von draußen aus nach, mit strahlenden Gesichtern, als wären sie endlich zutiefst beruhigt, sie wohlbehalten auf dem Weg nach Athen zu wissen.

*



LOTTI

Der Zug ist fast ausschließlich mit Griechen und Jugoslawen besetzt. Heimfahrende Gastarbeiter sind es. In Minous 3.Klasse- Abteil wird die Tür noch einmal aufgerissen. Wer kommt jetzt noch dazu? Es sind schon fünf Männer da. Herein kommt jene junge Frau, die vorhin noch auf dem Bahnsteig in Minous Nähe stand. Bei ihr war eine Ältere gewesen, wahrscheinlich ihre Mutter. Nun ist die Junge allein. Sonderbar locker und lässig packt sie Minous Hand schon während sie die ersten Worte spricht. Klopft ihr sogar freundschaftlich auf die Schulter. Na, ja, eine ganz Spontane!
Sie heiße Lotti. "Lotte von Büren, aber Lotti ... so nennen mich alle", sagt sie, "Gräfin von Büren". Aha - Minou staunt. Eine höchstens 25jährige Gräfin! Trägt ein schlecht sitzendes, graues Kostüm, hat dünnes, kunst- und lieblos geschnittenes, kurzes, blöndliches Haar Ein hübsches, frisches Gesicht. Stupsnäschen.

Das mit der Gräfin stimmt übrigens, wird Minou später feststellen, als sie sich die Frechheit nimmt, anlässlich einer Passkontrolle ins Dokument hinein zu schielen. Aber das tut sie nur, weil die Frau sich in der Folgezeit so unmöglich verhalten wird

Sie sei auf dem Weg zu ihrer in Athen verheirateten Schwester, sagt Lotti also beim Hereinkommen ... Weil Minou außer ihr offensichtlich das einzige, in München zugestiegene, weibliche Wesen sei, da könne man doch vielleicht die Fahrt gemeinsam ... Ob denn im Abteil noch Platz ...

Und ob da Platz ist! Sie ist ein kräftiges, hochgewachsenes Mädchen. Die südländischen Männer rücken erfreut zusammen.

Minou merkt schon nach einer Viertelstunde: diese Lotti scheint nicht imstande, Distanz zu wahren. Plaudert zu viel und furchtbar dummes Zeug mit den überrascht lauschenden Männern, die offensichtlich wenig Deutsch verstehen und es nicht beurteilen können und infolgedessen sehr bemüht und höflich antworten, aber bald große Augen bekommen. Lottis Verhalten ist sonderbar aufreizend, dabei doch auch kindlich unbeholfen. Die Männer fahren voll auf sie ab ... rücken immer näher ... was sie gar nicht zu stören scheint. Dann geht einer versuchsweise auf die weiblichen Schwingungen ein, die sie so vehement ausströmt. Er lobt ihre ‚schönen‘ Beine. „Wie die einer Ballerina“, sagt er lächelnd. - Sie hat tatsächlich extrem stramme, runde Waden – und freut sich sichtlich über das Kompliment, zieht den Rock stolz noch etwas höher ... sehr hoch eigentlich, dass man das weiße, baumwollene Höschen - und noch mehr - sieht. Unter den Blicken der Männer fängt sie an, zu lachen. Sie duldet bald schon kichernd die fremden Hände auf ihren Schenkeln und nach fünf Minuten des Kauderwelschens und Begrabschens murmelt Lotti etwas von ‚aufs Klo gehen‘ ohne die Hand eines der über sein spontanes Glück verwirrten, heißen Befummler loszulassen. Sie gehen gemeinsam hinaus. Die übrigen Männern sehen sich überrascht und mit flackernden Blicken an.

Minou fasst es nicht. Jetzt wird es aber auch für sie unangenehm, denn man scheint sie für ebenso zugänglich zu halten wie ‚ihre Freundin.‘ Die verbliebenen Griechen, die zuvor sehr höflich waren, machen sich jetzt nicht mehr nur zaghaft an sie heran. Sie wehrt sich. Handfest und verbal. Das scheint die Männer erst einmal zu stoppen.

Gott sei Dank geht nach kurzer Zeit die Tür auf. Lotti und der junge Mann kommen schon zurück. Er sieht in die erwartungsvollen Gesichter seiner plötzlich verstummten, in Staunen erstarrten Landsleute und grinst stolz, aber auch ziemlich verlegen. Lotti lacht übers ganze Gesicht.

Sie geht dann nur zehn Minuten später mit einem anderen hinaus. Bis Athen wird sie es nach und nach mit jedem treiben, der ihr ein paar nette Worte sagt. Minou kann sich ebenfalls kaum noch vor den Zudringlichkeiten der aufgeheizten Männer retten: Ach komm, sei nett, deine Freundin Lotti ist es doch auch ... scheinen sie zu denken.

“ Lasst mich in Ruhe“, sagt sie wild, „ich fahre zu meinem Mann nach Athen, ich bin nicht wie sie, ich kenne diese Frau nämlich überhaupt nicht .... Minou ist innen drin ängstlich UND todmüde. „Ich hab mit Lotti nichts zu tun, ruft sie fast flehend. Einer, der offensichtlich besser Deutsch versteht, als die anderen, macht sich zu ihrem Übersetzer: „Ach so ... bitte viel entschuldigen, ... sagen meine Kollegen auch, wir viel Entschuldigung, bitte“, murmelt er nach kurzer Unterredung mit seinen Landsleuten.

Jetzt wird für die restlichen zwanzig Stunden der Fahrt für Minou alles gut erträglich. Die Männer erzählen sich untereinander und ihr – in abgehacktem Deutsch - von den eigenen Familien, zu denen sie heim fahren. Einer schildert freudig - nachdem sie ihnen verraten hat, dass sie ein Kind erwartet - dass auch er eine junge, hübsche Frau zu Hause habe, die schwanger sei und die ihn sehr liebe. Sie bieten Minou Obst, Süßigkeiten, Becher mit Kaffee an. Kein anzügliches Wort, keine anzügliche Geste mehr. Einer macht ihr spontan seinen Fensterplatz frei: „Bitte, bitte, ist besser so ... du da sitzen und frische Luft.“

So eine wie Lotti hat Minou noch nie erlebt. Eine Nutte ist sie aber nicht. Sie scheint einfach dumm. Naiv. Unfähig, ‚nein‘ zu sagen. Erniedrigt sich hier so fürchterlich vor den Männern. Und bemerkt nicht die Peinlichkeit. Geld ist anscheinend keins im Spiel. Oder lässt sie es sich draußen heimlich zustecken? Die Heißblütige - anscheinend unersättlich in ihrem Liebesdrang – treibt sich jetzt wo anders herum ... hat schon wieder neue, ungeduldige Verehrer, die ihr im Korridor auflauern. Hat sich da etwas herumgesprochen?. Lotti strahlt, als sie einmal herein kommt, um ihre Tasche zu holen. Sie lächelt Minou unschuldig zu.

Dann beginnt die nicht enden wollende Nacht. Minou versucht, im Sitzen zu schlafen, im Abteil voller schnarchender Männer, die fremde, gärige Gerüche, eine Mixtur aus altem Schweiß, aromatischen Zigaretten und Knoblauch verströmen. Während der Zug Jugoslawien durchquert. Nein ... kein Schlaf für Minou.

Ares holt sie am Hauptbahnhof Athen ab, ER so schön, so fremd geworden – und sie ganz durcheinander - wieder einmal .
Die Gastarbeiter aus ihrem Abteil lassen es sich nicht nehmen, sie beide zu umringen und Minous ‚Mann‘ auf griechisch von der gemeinsamen Reise zu erzählen, ihm vielleicht auch nette Worte über die werdende Mutter zu sagen und zum bevorstehenden Kind zu gtatulieren ... ein bisschen so etwas glaubt sie zu verstehen.

Lotti, die wie selbstverständlich am Arm eines jungen Mannes hängt, wird von ihrer Schwester am Bahnsteig erwartet. Diese zieht sie sofort aus der Gruppe weg, sodass es zumindest zu keiner peinlichen Verabschiedung mehr kommt.

„Sie ist zum ersten Mal allein gereist“, raunt die junge Frau Minou noch schnell zu ... „Sie haben es sicher bemerkt: Lotti ist behindert.“
Nein, das hatte Minou nicht bemerkt.
„Unsere Eltern sind früh gestorben. Sie lebt im Heim“ – Einmal im Jahr darf sie ihren Urlaub hier bei mir verbringen. Sonst hat eine Betreuerin sie immer im Zug bis Athen begleitet. Diesmal schaffte sie es ohne Hilfe!“

Die Anstrengung der Fahrt, die Anspannung der letzten Wochen machen sich als sonderbare Traurigkeit in Minous Seele bemerkbar. Als sie endlich mit Ares allein ist und er sie – so kommt es ihr zumindest vor – sehr verhalten, statt wild und glühend in die Arme nimmt, stürzen ihr die Tränen sintflutartig aus den Augen und sie weiß kein Wort zu sagen.
„Warum weinst Du?“, fragt Ares irritiert und mit einem Anflug von ... Zorn.



*

 


Was vorher ging:
1962. Minou lebt mit Ares in Athen. im Juni kommt ihr gemeinsamer Sohn Robin ( Robi ) zur Welt. 




Die Lösung 

Ares ist Redakteur bei einer kommunistischen Zeitung. Bei ihm und seinen Kollegen weiß Minou nie, wann die Arbeit aufhört und die Geselligkeit beginnt. Sie wälzen ihre politischen Probleme nächtelang in der Redaktion bis in die frühen Morgenstunden hinein. Während sie, alleingelassen mit dem Kind, ständig auf das Kommen des Geliebten wartet.

Ja, man reißt Ares bewusst von ihr weg, denkt sie. Frauen und Männer treten immer wieder zwischen sie und ihn. Er streitet nicht einmal ab, dass es da andere Beziehungen gibt. Intime auch. Aber für ihn bedeutet ‚intim‘ nicht das gleiche wie für sie. Seine Augen blicken verständnislos, wenn sie mit ihren Besitzansprüchen kommt.

Sex mit fremden Frauen findet er nicht weiter nachteilig für seine und Minous Beziehung. Es sind Einmal-Begegnungen. Am Strand oder in einem Café lese er sich hin und wieder einmal irgend eine dumme, aber süße Touristin auf, sagt er. Doch seltener als Minou glaube. Und daran sei sie nicht ganz schuldlos ... seit Robis Geburt habe sie sich in eine sonderbare innere Anspannung hinein gesteigert - ob es vielleicht Angst vor neuer Schwangerschaft sei - oder was sonst? Irgendwie verwehre sie sich ihm, wenn sie es auch geschickt überspiele – er spüre es.
"Du liebst mich nicht wirklich", sagt er und bei diesen Worten bricht Minou ratlos zusammen. Innerlich. Aber sie schweigt. Da gibt es nichts mehr zu antworten.

Etwas intensiveres als eine Einmal-Begegnung aber muss er mit der englischen Journalistin gehabt haben, die bei seiner Zeitung als Volontärin arbeitet. Er hat es sogar zugegeben ...
Aber: "Es ist vorbei", sagt Ares.

Er hält auch Beziehungen zu früheren politischen Gefährtinnen aufrecht. Wie sie miteinander umgehen ... in der distanzlosen Art, in der sie Blicke wechseln und sich bei der Begrüßung berühren, selbst im zärtlichen Wangenkuss, meint Minou zu erkennen, dass sich ihre Körper lange kennen.
"Mit ihnen verbindet mich Freundschaft."
Er kann es nicht ausstehen, wenn Minou ihm über seine Beziehung zu anderen Menschen kindische Fragen stellt. Er bemerkt aber auch nicht, wie sie mehr und mehr verwirrt durch eine sehr fremde Welt driftet.

Warum greift sein Chef, dieser körperlich abstoßende Tasso, beim Mittagessen in einem Lokal während der Konversation immer wieder auf so merkwürdige Weise nach Ares Hand, während sie – als einzige Frau in der Fünfer-Runde - wie ein Anhängsel dabei sitzt. Sie weiß, Ares zieht die Wünsche und Begierden vieler Menschen auf sich. Es ist sein Charisma. Und er nutzt seine Wirkung nicht aus. Viel schlimmer: er nimmt sie als selbstverständlich hin, denkt sie.

Er widmet zwar Minou und dem Säugling einen Teil seiner Zeit. Viel zu wenig. Seine Redaktionsarbeit beansprucht seine ganze Kraft. Es rotiert manchmal tagelange vor Hektik, wenn  Journalisten  seines Blattes etwas herausfinden, was den Leuten in der Regierung nicht passt. Das böse, linksradikale Blatt versucht immer wieder, Stinkendes zu entlarven. Dann müssen  Tasso, Ares und das Team schlau und auf der Hut sein um einem Auflagenverbot zuvorzukommen.

Das hört sich alles nach ganz gewöhnlichem Widerstand gegenüber einer gewählten Regierung an, nach den Winkelzügen eines kleinen Parteiblättchens zum Schaden der Etablierten, denkt Minou ... so kochen sie eben bei dieser Zeitung ihr oppositionelles Süppchen.

Doch da ist mehr in Ares Wesen und in seinem Tun. IDEALISMUS. Der Sozialismus ist sein Leuchtstern, Marx sein Prophet, die Sowjetunion mit ihrer gerechten Diktatur des Proletariats sein himmlisches Jerusalem.

Juri Gagarin hat 1961 die erste Weltumrundung im All vollbracht - zuvor hat die Sowjetunion auch die ersten Sputniks und das erste Lebewesen, die Hündin Laika in die Erdumlaufbahn katapultiert, wo letztere leider verglüht ist. Im All hat sich also schon die große Überlegenheit des Sowjetstaates, ach was ... der Sozialistischen Ideologie vor allen anderen Systemen  gezeigt. Wenn Ares über all die Erfolge des Sozialismus redet, bekommt er regelmäßig diesen wunderbaren, feuchten Glanz in seine ohnehin so wunderbaren Augen.

"Bambina ... sollten Du oder Robi einmal krank werden, so bringe ich euch sofort nach Moskau. Das Gesundheitswesen ist dort auf unendlich hohem Niveau, sie haben die besten Ärzte der Welt und heilen sogar den Krebs!", sagt er. Minou ist beeindruckt. Da braucht sie sich ja um die Zukunft keine Sorgen mehr zu machen!

In einem sind sich Ares, der gestandene Kommunist, und die junge Minou einig, sie verehren beide Kubas Fidel Castro über alle Maßen und sind glücklich über seine Revolution. Ares hat diesen feierlichen Ausdruck in den Augen, als er Minou erzählt, wie Fidel am 16. April 1961 vor aller Welt erklärt hat, dass seine Revolution eine SOZIALISTISCHE ist. Die USA antworteten augenblicklich mit Wut. Schon am nächsten Tag, kurz nach Mitternacht landete eine von Amerika bis an die Zähne bewaffnete Brigade aus rund 1.500 Söldnern und Exilkubanern in der Schweinebucht im Süden Kubas. Doch Fidel Castro schlug sie mit seinen 'revolutionären Streitkräften'. Viele Invasoren fielen, die anderen wurden gefangen genommen. Das war ein Freudentag für alle links denkenden Menschen weltweit.

"Wenn ich einen Wunsch im Leben frei hätte", sagt Ares pathetisch, "dann würde ich nach Kuba gehen. Für immer."

Die USA üben nach 1961 vermehrt Druck auf andere Staaten aus, die Handelbeziehungen mit Kuba abzubrechen. Das fügt der Insel keinen allzu starken Schaden mehr zu, denn die Sowjetunion nimmt sich nun des kleinen Bruders innig an. Wieder ist der Ruhm und die Größe des Sozialismus für alle edel denkenden Menschen auf Erden offensichtlich. Und sein Ziel ist es, nicht nur Kuba - vielleicht auch bald Griechenland - und irgendwann die ganze Welt an seinen Wohltaten teilnehmen zu lassen. Ares ist ein fanatischer, wortgewandter Kämpfer für diesen Traum.

Minou ist zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, als dass sie über diejenigen von Ares und über die Erfolge oder Misserfolge seines 'Kampfes' viel nachdächte.
Sie will ein friedliches Leben zu dritt: Liebster, Liebste, Kind! Die Außenwelt soll gefälligst draußen bleiben. Soll Abstand halten. Tut sie aber nicht. Sie spürt: Sie und Robi sind nicht der Mittelpunkt in Ares Leben. Es ist nicht, als ob der Vielbeschäftigte ihrer gänzlich überdrüssig geworden wäre. Dafür sucht er ihre körperliche Nähe zu oft. Aber auch anderen Frauen, die ihn für die Krone männlicher Intelligenz und Vitalität halten, will und muss er ja beweisen, dass er seinen Nimbus   wirklich verdient.

Minou ist sich über nichts mehr sicher. Ares ... der Unbekannte an ihrer Seite. Nicht einmal das stimmt. Wann ist er denn schon an ihrer Seite?

Dabei ist sie doch gar nicht fordernd! Nur ein bisschen Stabilität der Gefühle möchte sie haben. Nicht einmal an Heirat denkt sie. Dabei war er es gewesen, der ihr die Ehe ( halbherzig? ) angeboten hatte, aber spät und höchstwahrscheinlich nur, damit sie - schwanger wie sie war - wieder zurück nach Athen kommen sollte. Doch sie ist bestimmt nicht deshalb zurückgekehrt. Nein, sie pocht nicht auf Heirat. Sie nimmt das Wort nicht einmal in den Mund. Er aber auch nicht mehr, seit er sie wieder bei sich hat, auch nicht, nachdem Robi geboren ist.

Das ist jedoch nur ein kleines Problem.
Aber seine Affären ... also, so etwas kann man  mit einer beschränkten Teutonin nicht machen! Die einzige Sicherheit, die sie verlangt, ist seine Treue. Die hat sie nicht. Das macht sie krank ... Ohne Treue gibt es kein glückliches Zusammenleben. Oder? Vielleicht hätte sie Kompromisse schließen müssen, statt den Idealfall zu erwarten. Vielleicht wäre der Fortbestand ihrer merkwürdigen Beziehung Kompromisse wert gewesen.
"Ich liebe Dich", hatte er ihr hin- und wieder in raren, feierlichen Augenblicken gesagt.

Sie ist zu wenig robust und energisch, um für sich und Robi da unten in Griechenland ein eigenes Leben zu zimmern. Um allen Widrigkeiten zum Trotz in Ares Nähe zu bleiben und ihn doch nur minimal zu belasten. So etwas scheint IHM nämlich vorzuschweben. In Ares ÄUßEREM Dunstkreis hätte sie weiter bleiben sollen, das heißt nicht nah, aber auch nicht weit weg von ihm. Genau so etwas hat er sich in den Kopf gesetzt. Jeder soll sein eigenes Leben führen.

"Es geht nicht mehr", sagt er anklagend, "diese Enge, dieses Aufeinanderhocken im Einzimmer-Appartement ... nein ... unmöglich. Das Robi-Geschrei ( das es in Wirklichkeit fast nie gab - dem Kind und dem Himmel sei Dank! ) Und kein Geld, um diese unmögliche Wohnsituation zu ändern."
Mit anderen Worten: er will frei sein. Frei von ihr und dem Kind. Und sie doch immer in Reichweite haben. Um bei Bedarf auf sie beide zurückgreifen zu können. Seine kommunistische Zeitung hat wieder einmal finanzielle Probleme. Der Einsatz lohnt nur ideell die Mühe. Gerade deswegen müsse er hart und präzise weiter arbeiten. Mit freiem Kopf. Pünktlich die Artikel herausbringen. Sie müsse ihn verstehen. Von seiner geistigen Spannkraft hänge so vieles ab ... auch für seine Freunde und Mitkämpfer. ...
Folgenden Vorschlag macht er ihr: Getrennt sollten sie beide leben - sie und das Kind hier, er da. Nur ein paar Straßenzüge von einander entfernt. Ein Freund habe ihm eine kostenlose, großzügige Unterkunft bei sich zu Hause angeboten. Sie könne mit Robi in der jetzigen Wohnung bleiben. Oh, er würde trotzdem täglich bei ihr und dem Kind vorbeischauen. Sie würden sich keineswegs verlieren.

Sie spürt: er ist dabei, ganze Welten zwischen sich und sie zu wälzen.
"Geh nicht, Ares ... Bitte tu das nicht", schluchzt sie.

Vor einer Weile hatte er angefangen, Minou Verdienstmöglichkeiten zu besorgen. Junge Griechen kommen nun regelmäßig zu ihr in die Wohnung. Studenten und Studentinnen. Wo er die wohl auftreibt? Lehrbücher hat sie auch von ihm bekommen. Deutschunterricht gibt Minou jetzt. Nicht, weil es ihr besonders viel Spaß macht, nein, nur weil er es so will. Die jungen Leute, die er ihr schickt, sind keine blutigen Anfänger. Sie beherrschen die Grundbegriffe der Sprache schon einigermaßen und wollen sie bei ihr vervollkommnen und sich in Konversation üben. Mit dem Verdienst würde sie bald einen Teil von Robis und ihrem Unterhalt bestreiten können, hofft Ares. Sonderbarerweise loben diese jungen Leute Minou und ihre Lehrmethode und empfehlen sie Freunden weiter. Manchmal gibt sie bis zu fünf Deutschstunden am Tag und versucht den Leuten, sowohl die Grammatik, als auch die feineren Nuancen der Sprache nahe zu bringen. Und das alles spielt sich in dem zwanzig Quadratmeter großen Zimmer ab, in dem auch noch das Kind in seinem Körbchen liegt.

Da meistert Minou den Stress noch ... halbwegs. HALBWEGS. Sie muss ja nebenbei einkaufen, kochen, Robi versorgen, jeden Tag in der Badewanne seine Windeln waschen und sie dann drei Etagen die Treppe hoch auf die Dachterrasse zum Trocknen schleppen. Und abends, wenn sie ausgehen, soll sie attraktiv an Ares Seite brillieren, wo sie ihrer mangelnden Griechischkenntnisse ( und auch anderer Defizite wegen ) sich nie wirklich wohl, nie ganz zu Hause fühlt. Wie viel lieber wäre sie mit IHM allein, statt vor der Konkurrenz seiner lebhaften weiblichen Bekannten zu bestehen, die, wie sie traurig beobachtet, seinen Verführungskünsten nicht abgeneigt sind und seinen Jagdinstinkt reizen.

Einer weniger klammernden, einer selbständigeren und vor allem robusteren und unternehmenderen Frau wäre das Leben, das er von ihr verlangt, vielleicht sogar gelungen. Minou aber hat wenig Kraft und keinen Drang zum Deutschunterricht-Geben oder überhaupt zum nebenbei-Arbeiten. Sie möchte sich nur anlehnen, sich um Robi kümmern, ganz bescheiden neben Ares stehen, von ihm beschützt und geliebt werden. Oft überfällt sie jetzt fast Verzweiflung, wenn er so häufig auf Reisen ist und sie allein lässt.

Minou hat eine junge Frau aus Kiel kennen gelernt, Karin, die nur zwei, drei Jahre älter ist als sie selbst und als Anästhesistin in einem Athener Hospital arbeitet. Die unverheiratete Karin gehört zu einem Kreis nichtgriechischer, dauerhaft in Athen wohnender Europäer, die sich regelmäßig in der deutschen evangelischen Pfarrei treffen.
Eines Tages trinken Karin und sie in Minous Wohnung Kaffee. Als Ares zufällig dazu kommt, scheint Karin vollkommen fassungslos.
"O mein Gott, du Arme ... du hast diesem Mann doch nichts entgegen zu setzen, er spielt mit dir. Ich sage dir, das wird nicht gut gehen! Er ist - er ist ... gefährlich", erklärt sie ihr nachher.
Das hat sie aber nicht davon abgehalten, sich ihm weibchenhaft anpreiserisch, extrem interessiert und gar nicht zurückhaltend entgegen zu werfen, denkt Minou, als sie weg ist. Na ja ... so ist es eben ... 




 
Die Attacke

Und dann schlägt das Schicksal zu. Mit der Präzision eines auf sie herabstürzenden Eisenhammers.
Eines Nachts – sie hat nicht gewusst, wo Ares sich aufhielt - kommt er nach Hause. Erklärt ihr - nichts.

"Was hast du in den letzten drei Tagen gemacht?", fragt sie wütend.
"Bei deiner Zeitung warst du nicht", schreit sie. Das habe ich durch einen Anruf geklärt. Was also hast du getrieben?"
"Warum fragst du", sagt er und es klingt ihr wie: " wer gibt dir Würmchen das Recht, von mir Erklärungen zu verlangen??"
Ein Feature hätten sie gedreht, einen Filmbeitrag über seine alte Gefängnisinsel, dort sei er gewesen ... müde sei er, erschöpft , nein es gäbe nichts zu berichten. Er beginnt aber ein lockeres Fragespiel über Robis Befinden, über Haushaltsangelegenheiten.
Minou schafft es nicht mehr, ihm zu antworten. Nach drei Tagen der Verwirrung und des Wartens. Jetzt Seelenblockade. Oder Berechnung? Beides. Ihr forciertes Schweigen soll ihn treffen. Das will sie. Als er sie in die Arme zu pressen versucht, verweigert sie sich ihm lautlos und heftig kämpfend. Und als er mit einem Wortschwall ihr zu erklären beginnt ... ja was denn zu erklären ? da hält sie sich kindisch die Ohren zu und blickt starr an ihm vorbei.
"Komm, sei wieder gut!" Er fasst nach ihrer Hand.
Minou bleibt kalt wie ein Fisch.
"Antworte", befiehlt er, "oder ..."
Ha, ha, jetzt hat sie endlich etwas gefunden, was ihn so richtig auf die Palme bringt. Endlich ihr düsterer Triumph.
"Rede!"
Sie bleibt stumm.
Da brüllt er, kreideweiß im Gesicht, dass er jetzt endgültig genug habe, genug von ihrem Verhalten, genug ... und wenn sie jetzt weiter den Mund nicht aufmache und nicht irgend ein Wort sage, so ....
Sie weiß ... kein Wort wird er ihr jemals mehr entlocken!
"Wo ist das Messer" ruft er da wild und stürzt zur Kochnische, kommt dann aber doch mit leeren Händen zurück gerast, nackt natürlich, denn er war schon die ganze Zeit nackt, die Sommernacht ist glutheiß – das Bild wird Minou nie im Leben vergessen – er packt sie, die sich wehrt, am Hals und beginnt, sie zu würgen ... Ob er es tödlich meint oder sie nur mit Leidenschaft greift und Worte aus ihr herauspressen will? Auf seine geschriene Aufforderung, endlich zu sprechen, bleibt sie starr. Warum? Sie weiß es nicht. Sie kann nicht anders. Da würgt er sie. Wobei er ihr todernst mitteilt, dass jetzt ihr letztes Stündchen geschlagen habe.
"Jetzt stirbst du", brüllt er in schönstem Goetheinstituts-Deutsch.

*


"Herr Doktor Goldberg", sagt Minou zu dem Psychiater, "SEIN Schweigen, seine ständigen Abwesenheiten, seine Affären. . Es war die ganze Situation, die mich fertig machte, verstehen Sie, ich konnte nicht mehr!"
"Er wohl auch nicht", sagt der Doktor.

"Diese Attacke ist nicht der alleinige Grund, aber der Auslöser für alles, was folgt. Wie schrecklich, dass er überhaupt daran dachte, mich zu töten. Das konnte nur meine eigene Schuld sein. Ein schlimmer Makel muss mir anhaften, wie sonst hätte ein Mann wie er so die Nerven verloren? Ich muss eine unerträgliche Frau sein, dass Ares sich zu dieser Tat hinreißen ließ. Ich schämte mich so sehr über den Vorfall, dass ich ihn später nie mehr jemandem erzählt habe. Nur die wenigen Bekannten in Athen wussten es. Mir ist nicht klar, ob er mich tatsächlich hat umbringen wollen.
Er hat derart schön ausgesehen bei all dem, atemberaubend schön und irgendwie sogar hilflos, er war nüchtern, es ist klar, er hatte wenig oder gar keinen Alkohol getrunken. So wie er auch sonst nur sehr wenig trank. So konnte er sich also später nicht mit der Entschuldigung eines 'Filmrisses' herausreden.

Komisch ... Todesangst habe ich nicht gehabt", sagt Minou, "obwohl er mir die Luft abschnürte. Ich war zu sehr mit dem Um’s-Überleben-Kämpfen beschäftigt. Ich kam endlich von ihm los. Wahrscheinlich hat er auch im letzten Moment ein wenig gezögert. Immerhin schaffte ich es hinaus auf die Straße, ohne dass er mich verfolgte. Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Selbst der Gedanke an Robi war aus meinem Kopf gelöscht. Im durchsichtigen Baby Doll Outfit um  vier Uhr morgens laufe ich quer durch Athen. Ich rase durch die Straßen. Das weiß ich noch. Ohne Schuhe. In jenem lächerlichen Nachtding, das mir kaum über den Hintern reicht.
Durch die frühdämmrigen Straßen rette ich mich ins ziemlich weit entfernte deutsche Pfarrhaus. Ein oder zwei  vage Gestalten im Dunkel der Straßen nehmen während meiner Flucht keine Notiz von mir, sehen mich wahrscheinlich nicht, Gott sei Dank."

*


Hilfe

Ein von Karin hinzugezogener Arzt staunt am Morgen über die schwarzvioletten Würgemale, die wie ein fauliges Band rund um Minous dünnen Hals eingegraben sind. Zwei Angestellte der Deutschen Botschaft, die sofort ins Pfarrhaus kommen, sind außer sich. Nein, in der Gewalt eines solchen Wüterichs, der außerdem noch politisch auf einer bedenklichen Links-Linie ist, kann man das halbdeutsche Baby und die junge Mutter nicht lassen. Da arbeiten sie alle zusammen, um Minou zu retten, sogar der griechische Polizeiapparat schaltet sich locker ein ... schon vor Mittag befreit man Robi aus der Wohnung, wo Ares sich mit ihm eingeschlossen hat und bringt ihn zu Minou. Karin und die Pfarrersleute reden tagelang auf sie ein, reden immer wieder auf sie ein ... und sie weiß es selbst, sie darf bei einem Mann wie Ares nicht bleiben. Sie will es auch nicht. Alles geht jetzt rasch wie auf einem rasenden Karussell. Man hilft ihr von vielen Seiten. Regelt die Äußerlichkeiten.

"Ach Herr Doktor Goldberg, in der ersten Woche der Trennung damals noch in Athen, ist es wie ein sonderbarer Traum. Alles ... absolut unwirklich. Ich lebe jetzt mit Robi von Deutschen bewacht und abgeschirmt im Pfarrhaus. Ich leide nicht einmal allzusehr. Es ist weniger schlimm, als ich gefürchtet habe. Auch bin ich durch die Vorbereitung unserer Heimreise, der Sorge um das Kind, das ständige, nahe Zusammensein mit so vielen Leuten, die mir alle zu dem endgültigen Trennungsschritt raten, in merkwürdiger Erstarrung. Was ich selbst möchte, ich meine, jeder klare Gedanke, ist verschüttet, mein Wille  gelähmt ...

"Sie waren in einer seelischen Ausnahmesituation", sagt der Doktor.

"Ich habe damals beschlossen", sagt Minou , "oder besser, man hat mich in Athen auf den Gedanken gebracht, mit dem Baby nach Stuttgart zu gehen, in eine Stadt, in der ich vorher noch nie gewesen war. Es war mir egal. Es gab keinen Platz, wo ich wirklich hingehörte."

Die Frau des deutschen Pfarrers in Athen war eine dünne, sanfte, oft kränkelnde Person, die sich bis zur Erschöpfung abmühte, in Not geratenen Landsleuten zu helfen. Unter den vielen, von denen sie meinte, dass sie ihrer Hilfe bedurften, hatte sie eben auch mich und Robi auserkoren.

Dieses liebe Wesen gab mir also den Rat, ins Schwabenland zu ziehen, da sie wusste, dass dort schnell Arbeit zu finden sei. Und sie gab mir einen Empfehlungsbrief an ihre Mutter mit - ihre eigene Mutter - die dort lebte und ein großes Haus führte. Die würde mir weiterhelfen. Ich könne mit dem Baby eventuell auch für eine Weile bei ihr wohnen, bis ich wieder im Leben und in der Berufswelt Fuß gefasst hätte, sagte die Pfarrerin.

Herr Dr. Goldberg ... die sechzigjährige Dame - die Mutter der Pfarrerin, die ich sofort nach meiner Ankunft in Stuttgart aufsuchen sollte, sei von Beruf Malerin, eine ziemlich renommierte Künstlerin, hatte man mir gesagt. Das war natürlich eine Tatsache, die mir den Gedanken an Stuttgart schon etwas versüßte. Und dass diese Frau eine gute Malerin war, das bezweifelte ich nicht einen Augenblick. Vage träumte ich auf einmal davon, trotz all meiner seelischen Not, dass ich mich vielleicht ab und zu in ihrem Atelier - natürlich leise und ohne zu stören - aufhalten dürfe. Vielleicht würde die Frau mich mögen und mich lehren, endlich richtig mit Pinsel und Ölfarbe umgehen zu lernen, mich vielleicht als eine Art Schülerin ansehen, wenigstens für eine kurze Zeit, bis ich mit dem Kind wieder auf eigenen Füßen stehen würde. Sicher könnte ich durch diese Frau viel über die Maltechnik lernen. Ich hatte mich eines Tages - das war nach meiner Zeit in Italien und bevor ich Ares  kennengelernt hatte - in der Kunstakademie in München vorgestellt und um Aufnahme bemüht und man hatte mich, obwohl ich nur mittlere Reife hatte,  nicht ( direkt! ) abgelehnt, sondern mir ( etwas! ) Hoffnung gemacht. Ich solle bitte nach den Semesterferien noch einmal vorsprechen, hatte mir ein sehr freundlicher Professor mit auf den Weg gegeben. Aber meine Liebe zu Ares und die Ausreise nach Griechenland hatten dann diesen zaghaften Zukunftsentwurf schnell über den Haufen geworfen.

*


Auf dem Meer

Die Deutsche Botschaft hat eine Schiffspassage und sogar eine Einzelkabine für Minou und Robi besorgt. So ist sie plötzlich auf einem mittelprächtigen, deutschen Touristenschiff unter ausgelassenen, hoch gestimmten jungen Leuten. Diese werden übrigens mit viel Remmi-Demmi, Musik und Alkoholgenuss vom Piräus weiter durchs Mittelmeer kreuzen, während Minou schon in Venedig aussteigen und von dort aus den Zug nach Stuttgart nehmen wird.

Vielleicht sind mir die Botschaftsangehörigen, die mir zur Heimfahrt verhalfen, ganz einfach wohlgesonnen gewesen, denkt sie. Vielleicht haben auch die Pfarrers ihre Hände im Spiel gehabt. Wahrscheinlicher aber hatte es sich wohl so ergeben, dass auf diesem von Touropa gecharterten Schiff gerade im Piräus eine Kabine frei geworden war. Ihr war damals ganz gleich gewesen, wie sie nach Deutschland zurückkommen würde. Ihr war alles gleich.

Auf sie und das Kind wartet eine ungewisse Zukunft, sie besitzt nichts auf der Welt als ihren Sohn im blauen Plastik-Tragekörbchen, eine Reisetasche und einen Koffer mit Klamotten und Windeln. Sie hat Drachmen im Gegenwert von zirka fünfzig DM im Brustbeutel. Die hatten ihr die Bekannten in Athen noch zugesteckt.

Erst in dem Augenblick, als das Schiff am Piräus von Land abstößt – es fährt durch einen engen Kanal Richtung offenes Meer - wird ihr vage bewusst, dass sie sich aus der lebensspendenden Nähe ihres Mannes entfernt. Das Meer ist schwarz wie Erdöl. Minou ist wie im Traum gefangen, alles so unwirklich und doch nimmt sie jeden Laut wahr, die Rufe der Fahrgäste auf Deck, die Musik, die aus einem offenen Saal kommt. Sie lauscht aber nach innen und sie weint nach innen. Unsichtbar. Nicht einmal ihr Mund zuckt. Sie hält es schon seit Tagen für einen großen Fehler, dass sie Ares verlässt. Das Gefühl seiner Stärke, des Beschützt-Seins durch ihn war so schön gewesen. Selbst der Würg-Vorfall und die Handgreiflichkeit einmal zuvor, als sie seine Kindheitsfotos zerrissen hatte, scheinen ihr noch immer erträglicher, ja glückspendender, als dieses dumpfe, tödliche Dahingleiten in eine Zukunft ohne ihn. Sie spürt schon jetzt den wilden Schmerz der Erinnerung an seinen Körper, an sein 'Liebemachen', durch das sie nicht einmal wirklich glücklich, aber immer süchtiger nach ihm geworden war. Schon jetzt ist ALLES, was sie mit ihm erlebt hat, zu Trauer und Sehnsucht geworden. Seinen Körper vermisst sie so sehr, seine Schönheit, den Blick seiner ernsten, tieflblauen  Augen. Sie weiß um seine Ideale, um derentwillen er so viel gelitten und die sich – sie ahnt es schon – nie erfüllen würden. Sie weiß von seiner jahrelangen Haft als politischer Gefangener, die ihn - irgendwie - unfähig zur Zweisamkeit gemacht hat. Sie spürt ein großes Gefühl der Wärme und Zuneigung und sie denkt mit unendlicher Liebe an seine arme gequälte, inmitten so vieler Freunde einsame Seele, an seine Ratlosigkeit, als er plötzlich mit ihrer Schwangerschaft und dem Baby konfrontiert war ... und dass er es dann doch akzeptiert, geliebt und wie ein Wunder bestaunt hatte.

Im Zurückdenken weiß sie - nein über solche Dinge redet sie nicht einmal mit dem Therapeuten - dass sie auf ganz anderes aus war im Zusammensein mit Ares, als auf ihre sexuelle Befriedigung. Die zählte für sie überhaupt nicht.  Sie hatte das Wort Höhepunkt nicht aus ihrem Erlebnisschatz gestrichen. Aber weggeschoben. Sie brauchte das nicht mehr. Nein, normal war das nicht. Er war ein potenter Liebhaber sicher, leidenschaftlich auch, aber raffiniert nicht ... kein Künstler in Liebestechniken. Er war bestimmt einer der Männer, der auf die Wünsche 'verdorbener' Frauen mit Fantasie und Potenz einging. Aber sie hatte ja keine Sonderwünsche. Er wühlte sie auf mit seinem großen, starken Schwanz, das genügte ihm, er wusste wohl nicht, dass sie Tag und Nacht die schmerzenden Nachwirkungen spürte, wobei IHR sein ihn-in-sich-Spüren und die Tatsache, dass sie ihm gehörte, alles bedeutete. Es gab ihr seelische Lust. Was er mit ihr tat, verursachte ihr Erfüllung, aber keine Orgasmen. Die Liebe zu Ares schien ihr so tief und allmächtig, dass sie an solche banalen Körperlichkeiten nicht einmal mehr denken wollte. Er hatte ihr ganzes Sein ergriffen. Sie liebte ihn so stark - Gott, das ist die Wahrheit - dass diese Art Lust ihr nicht mehr wichtig war. Verrückt das ganze, aber sie hätte sich zu Tode geschämt, in seinem Beisein sich einem lauten, stöhnenden Orgasmus zu überlassen. Vielleicht hätte ihm aber gerade das sehr gefallen, denkt sie jetzt. Nein, sie befand sich in einem verworrenen Zustand. Hatte neben ihm klein sein und ihm auch im Bett nur dienen wollen. Sie konnte sich nicht vorstellen, überhaupt jemals mehr einen anderen Mann zu begehren. Er war ihr einziger Gedanke bei Tag und Nacht. Und sie will nicht wahr haben, dass er sie doch eigentlich nie ‚glücklich‘ gemacht hat.


Ihre Sachen hat Minou schon in der Kabine verstaut und steht jetzt, über die Reling gebeugt, während das Land langsam in die Ferne entgleitet. Die Sirenen vorbeifahrender Schiffe röhren hohl.


Neben ihr auf Deck steht das blaue  Plastik-Tragekörbchen Robi darin. Es packt sie ein Taumel ... Angst ... nun merkt sie, ihre Seele ist vollends aus der Bahn geworfen. Wirre Furcht packt sie und plötzlich überfällt sie ein so starkes Gefühl des Untergangs und der Schwäche, dass sie nur mit Mühe eine Ohnmacht abwehren  kann. Sie schafft es gerade noch, das Körbchen mit Robi zu packen und wankt in die Kabine, sackt dort aufs Bett. Dennoch ... ein Steward muss sie beobachtet haben und die Schiffskrankenschwester kommt zu ihr ... nein, nein, es ist nichts, nur der Kreislauf ... ein paar Tröpfchen Medizin und viel trinken ....
Minou weint auf das Kind, das in seinem blauen Körbchen neben ihrem Bett liegt und schläft. Es schläft ruhig und sieht ganz zufrieden aus. Sie nährt es immer mit etwas Brustmilch und viel Alete.

*
Auf dem Schiff wird sie, die Dazugekommene, mit Staunen beobachtet und die Leute tuscheln hinter ihrem Rücken. Man wundert sich ernstlich über sie, die Alleinreisende mit Baby. Eine so junge Mutter mit einem Winzling. Sie ist hübsch und Robi ist bildschön. Das erregt Aufsehen. Ob es ein Liebesanhängsel, eine fleischgewordene Urlaubserinnerung sei, das kleine Wesen da, fragt ein deutscher Jungmann grinsend und seine Freunde lachen keckernd mit, sie, die sich neugierig, hämisch und doch anbiedernd um Minou und das Kind geschart haben. Mit all ihrem Kummer, mit ihrer Not ist sie unter diese lockere Urlaubsgesellschaft geraten.


Die Leute auf dem Schiff tanzen die ganze Nacht über, tanzen in den Sälen, auf Deck und sogar auf den schmalen Korridoren zwischen den Kabinen. Feiern. Junge Männer - es scheint hier mehr Männer zu geben als Frauen - machen Minou auf hämische Weise an, wo immer sie ihnen über den Weg läuft – und sie begegnet ihnen nun einmal, wenn sie hinuntersteigt zum Küchentrakt, um heißes, abgekochtes Wasser für Robis Aletefläschchen zu holen. Respektlos und aufdringlich machen die Bürschchen sie an. So, als sei sie eine, an die sich jeder ungerächt verbal mit seinen schmutzigen Wünschen heranwagen könne. Sie lachen über Minou, wobei es immer wieder die banalsten Anspielungen gibt auf das "niedliche, griechische Urlaubs-Souvenir" und 'den Braten, den ihr wohl ein 'Olivenfresser' in die Röhre geschoben habe. Vielleicht sind die Leute von der Botschaft Minou wohlgesonnen gewesen. Hatten wohl gedacht, ein bisschen Highlife und Tralala würde sie auf ihrer Heimreise aufmuntern. Das Gegenteil ist der Fall.

Am nächsten Morgen trägt sie – verfolgt von neugierigen Blicken - das Kind nach oben. Meer, Wind, die laue Wärme locken sie trotz allem auf Deck. Robi braucht Sonne. Und sie selbst will im Pool schwimmen.
Ich sehe überhaupt nicht schlimm aus, denkt sie verwundert, als sie ihr Gesicht und ihre Figur im weißen Bikini zufällig in einem der Fahrstuhlspiegel sieht.

Braungebrannte Reisende lagern um den Pool. Sie stellt den nackt in seinem Körbchen liegenden Robi in den Halbschatten. An diesem strahlenden Tag mitten auf dem Ozean neben dem fröhlich juchzenden Säugling kommt ihr der Gedanke, dass trotz allem die Zukunft so hoffnungslos vielleicht gar nicht sei.

Die Sonne, die Schönheit des Tages macht die Menschen menschlich. Da kommen nun zaghaft alle möglichen Leute herbei und bewundern Robi. Manche fragen sogar, ob sie ein Bild von ihm und ihr machen dürfen. Sie ist sehr stolz auf Robi. Er ist so lieb, er weinte in Athen fast nie, scheint auch jetzt heiter, zufrieden, ist braun wie die Haselnuss, schlank und zierlich, doch wohlgenährt. Und freundlich. Er lächelt die Fremden an, wenn sie sich über ihn beugen. Da kann Minou nun für eine Weile ins Wasser gehen und schwimmen in ihrem weißen Bikini. Leute passen auf Robi auf.

Obwohl die junge Mutter und der einzige Säugling an Bord von den Stewarts umsorgt werden, ist diese kurze Schifffahrt für Minou ein riesiger Stress. Während der Mahlzeiten im Speisesaal liegt Robi laut krähend, nicht weinend, in seinem blauen Körbchen, das auf dem Boden neben Minou steht. O Gott, manchmal ist er richtig laut, dann gucken die Leute etwas verunsichert. Manche nicken und lächeln, wenn sie im Vorbeigehen für eine Minute stehen bleiben und: "Du du du" oder "ach du Süßer" flöten ... Minous Nerven sind zum Zerreißen gespannt, sie ist so weltenweit von diesen den Urlaub genießenden Menschen entfernt. Da sitzt sie matt in einer Gesellschaft sie frech angrinsender junger Männer und ziemlich herablassend äugender Frauen und Mädchen. Essen kann sie kaum etwas, bleibt nur kurz  und eilt rasch wieder mit dem Kind in die Kabine zurück ...


*

Im Speiseraum nimmt sie am nächsten Morgen nur Kaffee zu sich. Hat keinen Hunger. In einer Viertelstunde wird es los gehen. An der italienischen Küste angekommen, muss sie nämlich aussteigen. Von Venedig wird sie mit dem Zug weiterfahren, denn sie haben ihr auf der Deutschen Botschaft auch ein Eisenbahnticket dritter Klasse von der Lagunenstadt nach Stuttgart/ Hauptbahnhof in die Hand gedrückt.

*


Angst

Und dann steht sie morgens gegen acht Uhr am Hafen. Mit Robi im blauen Plastikkörbchen. Das kann nicht wahr sein! Die brodelnde Serenissima vor Augen und den ganzen geschäftigen Stadtlärm in den Ohren. Schon als Kind hat sie von einer Reise nach Venedig geträumt. So aber hat sie   sich das  nicht vorgestellt. Nicht unter diesen Umständen. Nicht in solcher Einsamkeit. Vom Hafen aus muss sie jetzt irgendwie zum Bahnhof kommen. Das kann nur über den Wasserweg geschehen. Über die Kanäle verkehren Vaporetti ... kleine Fährschiffe, die hier die Busse ersetzen. Irgend ein junger, herumlungernder Mann ( nicht ganz unaufdringlich ) schleppt Minou den Koffer für ein ‚grazie tanto‘ und ein gequältes Lächeln zur Anlegestelle des Vaporetto. Sie trägt rechts die große Reisetasche mit dem Nötigsten - die lässt sie nicht aus den Händen. Mit der linken Hand hat sie das Henkelkörbchen mit Robi gefasst.

Das Vaporetto ist überfüllt. Für die junge Mutter, ihr Gepäck und den Säugling müssen die ohnehin eng aneinander gepressten Passagiere weiter zusammenrücken. Und von hinten drücken noch mehr Leute nach. Einen Sitzplatz kriegt Minou nicht einmal zu sehen. Die gibt es nur tiefer im Inneren des Schiffes. Sie steckt aber auf der äußeren Plattform regelrecht fest. Eingekeilt zwischen fremden Leibern.

All die glorreichen Gebäude und Paläste in verklärtem, diffusem Morgenlicht, veredelt und patiniert durch den Glanz verronnener Jahrhunderte, säumen rechts und links die grau-dunklen Kanäle, durch die das Vaporetto tuckert. Die Häuserzeilen sehen alle aus, als wüchsen ihre Mauern direkt aus dem Wasser heraus. Für eine Weile vergisst Minou allen Kummer ... sieht nur die sonderbar grandiosen Bilder dieser Stadt, die romantischen Brücken, unter denen sie durchfahren, ein jeder Anblick wie ein neues Gemälde. Aber Minous Aufnahmefähigkeit nimmt schnell ab. Bald schon macht sich wieder ihr Kreislauf bös bemerkbar, und sie kriegt Angst, weil sie da so allein steht inmitten all der Fremden ... Diese Schwäche. O Gott, nur jetzt das Bewusstsein behalten ... Alle Disziplin und alle Kraft bündeln, wenn es ihr auch mehrmals schwarz vor Augen wird und sie ganz nah daran ist, umzufallen ... weiter, weiter, es geht nur noch ums pure Überleben, eiskalter Schweiß bricht ihr strömend aus jeder Pore, atmen kann sie kaum mehr. Versucht sich an Hoffnung zu klammern, ... wenn sie erst einmal im Zug sein wird, sich ausruhen und abschirmen kann ... dann wird es besser. Aber die Schwäche ist auch eine Schwäche der Seele, eine plötzliche Erkenntnis schmettert sie nieder: alles ist nichtig. Hilfe, Hilfe, nur jetzt nicht umfallen ... o Gott... Und neben sich auf dem Boden im Körbchen das Kind, das auch jetzt noch lieb ist und nicht quängelt. Aber in dieser Todesangst, dieser alles bedrohenden Leere ist ihr selbst das Kind kein Trost mehr ...

Dann der Bahnhof in Sicht! In Minous ganzem Sein scheint sich das letzte Quäntchen Adrenalin zusammenzurotten. Irgendwie schafft sie es herunter vom Vaporetto. Taumelnd. Mit Robi im Körbchen. Ein Gepäckträger, den herbeizuwinken sie auch noch fähig ist, trägt das Gepäck neben ihr her bis auf den Bahnsteig, bis in den Zug. Und sie trägt Robi.

Im Abteil sind nur drei Leute. Erleichterung. Die akute Kreislaufgefahr ( wieder einmal ) vorüber. Minou drückt sich in die Ecke. Nimmt Robi auf den Schoß. Sie stillt ihn, aber er wird nicht satt. Im Fläschchen ist auch nur noch ein müder Rest. Er fängt jetzt an, zu schreien und zu quängeln. Der Arme. Nun braucht Minou den Schaffner. Erfährt von ihm – sie hatte es ohnehin gewusst – dass es in diesem Zug keinen Speisewagen, also auch kein abgekochtes Wasser für Robis Flasche gibt. Erkundigt sich bei dem Mann, wo der nächste längere Aufenthalt sein wird. In Verona wird der Zug zwölf Minuten halten ... Gut, sie wird das ältere, italienische Paar bitten, auf Robi aufzupassen, während sie zur Imbissbude rennen wird, die sich, laut Schaffner, auf dem gleichen Bahnsteig nur wenige Meter vom Zug entfernt, befindet. Dort wird sie das Fläschchen mit heißem Wasser füllen lassen und zurück zum Abteil rasen.

Und so macht sie es dann in Verona. Es klappt. Sie muss es während der Fahrt noch zweimal wiederholen. Am Brenner und zuletzt in München.

Bevor sie alles richtig begreift, ist Minou auf einmal mit ihrem Kind am Ort ihrer Destination angekommen. Stuttgart Hauptbahnhof. Es ist fast acht Uhr abends.

Sie gibt den Koffer auf, nimmt die Reisetasche und das Robi-Körbchen samt dem ruhig schlafenden Baby und fährt mit dem Bus zur angegebenen Adresse.

Das ist auch wirklich ein altes, sehr großes, imposantes Haus, tatsächlich eine Villa in einem parkähnlichen Garten. Alles so, wie es ihr die Pfarrerin in Athen geschildert hat. Das Gebäude liegt in einem vornehmen Stadtteil hoch über Stuttgart, im sattgrünen, blütenduftenden Gürtel, der sich um die Außenbezirke der Metropole zieht. Minous Herz schlägt höher.

Aber zum Bewundern hat sie kaum Kraft. Sie, ganz und gar übernächtigt, befindet sich in einem Zustand der Erschöpfung und hat nur noch den einen Wunsch, dass diese Frau irgendwo ein Bett oder eine Luftmatratze haben möge, damit sie und das Kind einfach ruhig liegen und lange schlafen können.

Im Garten fegt ein alter Mann die Wege. Mustert Minou neugierig, als sie zur Haustür geht.
Der Ehemann?
"Hallo, wo wollen SIE denn hin?"
Minou sagt ihm Namen und Adresse der Dame. "Das ist doch hier" ruft sie verwirrt fragend zu ihm hinüber, weil er so sonderbar reagiert.
"Ja schon ... aber da ist niemand ... die gnädige Frau befindet sich auf Reisen ..."
Minou glaubt es nicht.
Der Mann kann ihr viel erzählen. Sie weiß es besser. Auf die Idee, dass er Recht haben könne, kommt sie erst gar nicht, sondern läutet, wenn auch zaghaft, weiter an der Tür.
Es macht aber niemand auf.

"Ich habe hier einen Brief ..." Minou bringt dem Mann ihr kostbares Empfehlungsschreiben hinüber. Der wirft einen Blick darauf. Zuckt die Schultern und fegt ruhig weiter.
"Ich bin nur  der Gärtner und halte  das Grundstück in Ordnung ..."
"Ich komme gerade aus Griechenland", sagt Minou, "und soll mit dem Kind eine Weile hier wohnen ...!"
Der Mann zuckt von neuem die Schultern und sagt nichts.
Minou geht zurück und klingelt jetzt schon bedeutend fordernder an der Eingangstür. Ohne Ergebnis.
"Hören Sie doch auf. Da ist niemand", ruft der alte Mann."
"Ich werde mal warten!" Vielleicht kommt Frau Wegener ja bald zurück.
Er macht eine Handbewegung zu seinem Ohr hin, wie um Schwerhörigkeit zu demonstrieren.
"Noi ... die kommt net", tönt er dann laut hinter einer Hecke hervor, "die is wirklich net da!"
"Können Sie mich vielleicht hinein lassen ... ich möchte nur das Baby frisch machen, brauche auch ein bisschen heißes Wasser für sein  Fläschchen ..."
"Ich mach hier nur manchmal den Garten", sagt er, "und misch mich nicht ein ... hab auch gar keinen Schlüssel zum Haus."

Da setzt Minou sich auf eine Bank. Robi hat Hunger. Sie hat noch etwas Brei und bald nuckelt dieses pflegeleichte Wesen geduldig seinen letzten Alete-Rest aus dem Fläschchen. In Minous Brustbeutel ist noch Kleingeld im Wert von zirka 15 DM. Das kann doch alles nicht wahr sein! Was passiert ihr eigentlich hier?
Den alten Mann, der emsig und dumpf weiter im abendlichen Garten herumfuhrwerkt, ignoriert sie jetzt und klingelt wieder. Diesmal Sturm. Verdammt ... da muss doch jemand aufmachen! Bis sie endlich einsieht: es hat keinen Zweck. Doch ihr Körper scheint jetzt Adrenalin satt auszuschütten. Ihre Müdigkeit wechselt zu so etwas wie Wut. Sie nimmt den Brief aus dem Couvert.

– Heute ist der 5. September, 20.30 Uhr abends - schreibt sie groß oben über den Rand - Ich bin gerade mit dem Kind aus Griechenland angekommen. Habe auf Sie gezählt. Aber Sie sind nicht da !!! Drei Ausrufezeichen !!!

Bin schon etwas enttäuscht
Minou Kern!
Nochmal ein Ausrufezeichen!

Sie schiebt den Brief unten durch die Tür. Nach einer Weile fährt sie mit dem schlafenden Robi wieder zurück zum Bahnhof. Die Aufschrift auf einem Schild hatte sie vorhin, als sie aus dem Abteil ausstieg, im Vorbeigehen flüchtig wahrgenommen und hinten im Hirn registriert: Der Begriff ist ihr von den täglichen Brückenstadter Zugfahrten ihrer Kindheit und Jugend her bekannt. Bahnhofsmission! Sie hatte sich manchmal  Gedanken über die armen, verlassenen Leute gemacht, die dort Hilfe suchen. Jetzt überwindet sie ihre Scham. Sieht keine andere Möglichkeit mehr.

Eine kleine Frau in hellblauem Kittel und mit Missions-Armbinde, kommt ihr im kargen Aufenthaltsraum entgegen. Minou schildert ihre Lage.
Die Frau ist freundlich. Mehr noch: sie hat etwas Herzliches.
Hier kann Minou endlich Robi saubermachen, wickeln und sein Zusatz-Alete bereiten.

"Sie haben sicher auch Hunger", sagt die Frau und füllt gleich einen großen Teller mit kräftiger, in einem großen Pott auf einem Kohleherd dahinköchelnder Gulaschsuppe. Und duftenden Bohnenkaffee brüht sie auf. Der Kaffee macht Minou aber auch nicht mehr wirklich wach. Durch die angelehnte Tür sieht sie in der Nebenkabine zwei übereinander gebaute  Etagenbetten mit spartanisch dünnen Matratzen und grauen Wolldecken darauf. Sie denkt nur noch an eins:
" Dürfte ich da vielleicht ...?"
"Ja, legen Sie sich ruhig hin und schlafen Sie sich aus, ich habe ohnehin Nachtdienst und werde in der Zwischenzeit auf das Kind aufpassen", sagt die Frau.

*


Trennung von Robi

Am nächsten Morgen, als Minou gegen acht Uhr wach wird, sich am Waschbecken in der Toilette etwas frisch gemacht hat und den Aufenthaltsraum betritt, ist eine andere Missionsangestellte im Dienst.
"Kommen Sie, wir wollen erst einmal frühstücken und dann müssen wir überlegen, was zu tun ist. Ich habe mich auch schon mit Frau Reidner besprochen – das ist die Dame, die Sie gestern kennengelernt haben – und sie hat mir ihre Lage geschildert.

Also, das Wichtigste ist jetzt, dass Sie augenblicklich Arbeit finden, denn Sie sind ja vollkommen mittellos. Da Sie – und höchstwahrscheinlich das Baby auch - die deutsche Staatsangehörigkeit haben, ist erst einmal das hiesige Jugendamt  zuständig. Obwohl es dem Säugling bis jetzt noch gut geht - unbegreiflich, wie Sie das überhaupt geschafft haben, dass er in einem so gesunden und gepflegten Zustand angekommen ist trotz der langen Reise -v müssen wir uns jetzt um das Kind kümmern, denn Sie können ja nicht arbeiten gehen und es gleichzeitig versorgen. Und eine Bleibe haben Sie auch nicht. Hier in der Bahnhofsmission gibt es überhaupt keine Möglichkeit, jemanden länger als einen Tag zu behalten. Wir sind nur eine Not-Anlaufstelle. Also, Arbeit ist für Sie jetzt das Allerwichtigste, denn ohne Geld werden Sie keine Wohnung finden. Wir können jetzt nur eines tun ... jemand vom Jugendamt beauftragen ...

"Ja, werden die mir helfen?" fragt Minou beim Kaffeetrinken naiv.

Hm ... wir müssen erst einmal sehen, dass das Kind versorgt wird und sein Geregeltes hat."
Der  kurzen Erläuterung schwerwiegender Sinn ... gegen drei Uhr nachmittags kommt ein Mann vom Jugendamt. Sein alter VW-Käfer ist unten am Bahnhofsvorplatz geparkt. Robi samt Körbchen, Babywäsche und den letzten, zwei-drei noch verbliebenen, sauberen Windeln wird in den Volkswagen verfrachtet, die freundliche Frau Reidner ist inzwischen auch wieder eingetroffen und tröstet Minou - das Ganze ist ja nur eine vorübergehende Notlösung, bis sie in Stuttgart Fuß gefasst hat. . Natürlich darf Minou mitfahren und sich vergewissern, dass das Kind gut untergebracht wird ... auch Frau Reidner steigt ein und auf geht es zum SÄUGLINGSHEIM.

Minou hatte im Lauf des Morgens noch verzweifelt versucht, Frau Wegener, die Mutter der Athener Pfarrersfrau, die ihr so warm als Helferin angepriesen worden war, telefonisch zu erreichen. Aber das geduldige Telefonläuten war stets ins Leere gegangen, ebenso wie ihr erst hoffnungsvolles, dann resigniertes An-der-Haustür-Klingeln am Abend zuvor.

*

Das Säuglingsheim liegt sehr schön im Grünen am Rand der Stadt. Es ist neu, vorherrschend die Farbe Weiß, dazu viel Glas. Es sieht keimfrei aus. Viel über Robis zukünftige Unterbringung und über die inneren Vorgänge in dieser Institution kriegt Minou nicht zu sehen. Sie darf übrigens weder die untergebrachten Babys, noch deren Zimmer näher anschauen. Man erklärt auch nicht viel. Ganz schnell ist sie plötzlich von Robi getrennt ... sie nehmen ihn ihr einfach aus dem Arm ... sie solle in einer Woche wieder kommen, da habe er sich dann auch etwas eingelebt, da könne sie ihn dann besuchen.

Wichtig ist den Leuten aber, als Robi schon weg ist und noch bevor sie zurückfährt zur Stadt, dass Minou unzählige Fragebögen ausfüllt und eine Reihe von Unterschriften leistet.

Frau Reidner schreibt ihr, bevor sie sich trennen, noch eine Adresse auf ... dort soll sie hin gehen. Da wird sie wenigstens ein Bett für die Nacht und etwas zu essen bekommen.

*


Kasernierte Frauen

Minous neue Bleibe ist das sogenannte 'Marienheim' im Zentrum von Stuttgart, das von schwarzbekutteten Nonnen geführt wird. Dort kann sie ein Bett in einem großen Schlafsaal haben und bald hat sie auch schon etwas zu tun. Am 8. September – zwei Tage nach ihrer Ankunft in Stuttgart - arbeitet sie bereits. Minou hat das viele, viele Jahre später aus ihren Papieren rekonstruiert, denn ab diesem Zeitpunkt ist sie lohnsteuermäßig registriert.

Dieses Marienheim, ein weiträumiges, altes, unbequemes Gebäude ist also ein ‚Durchgangsheim‘ für Frauen in Not. Nur für Frauen. Es gibt einige Ausländerinnen da, hauptsächlich Italienerinnen, aber eine Menge weibliche Flüchtlinge aus der DDR., die sich noch kurz vor dem Mauerbau schnell mit wenig Gepäck in den Westen herüber gerettet haben.
Es bleibt Minou nichts anderes übrig, als, von Robi getrennt, dort zu wohnen. Robi ist genau 86 Tage alt und hätte sie dringend gebraucht. Sie haben ihn von ihrem Herzen gerissen. Sie muss ja Geld verdienen. Niemand hilft ihr. Niemand.
Mutterschaftsgeld, Mietzuschuss, Sozialhilfe ... nichts dergleichen gibt es damals. Aber Arbeit in rauen Mengen."

*

Schon am ersten Tag ihres Aufenthaltes lernt Minou unter anderen auch einst wohlhabende, deutschstämmige Farmbesitzerinnen aus Angola kennen, die in den Aufständen schwarzer ‚Banden‘ alles verloren haben und mit Mann und Kindern hierher in die alte Heimat ihrer Vorfahren geflohen sind, die sie bisher überhaupt nicht kannten. Die Frauen schlafen nun von ihren Männern getrennt, die in einem anderen Heim/Lager untergebracht sind. Auch ihre Kinder sind im Marienheim nicht zugelassen.
Das hier ist eben eine Sammelstelle nur für weibliche ‚entwurzelte Personen.‘

Im Saal, in dem Minou schläft, stehen ungefähr 20 Betten. Hochbetten, immer zwei übereinander. Man darf sich nur zum Schlafen im Heim aufhalten, tagsüber nicht, und kann auch nur dann dableiben, wenn man spätestens am zweiten Tag schon Bargeld zum Bezahlen hat.

Morgens um sechs findet das Aufstehen statt, da gibt es kein Bummeln, kein Herumlungern. Um halb sieben liest eine der Nonnen im Gang des Frühstücksraums ( für Frühstück muss man übrigens selbst sorgen, das Heim ist dafür nicht zuständig ) lauthals die täglichen Stellenangebote vor, die verschiedene Firmen gerade telefonisch durchgegeben haben. Man sucht unter den Bewohnerinnen Aushilfen für alle möglichen Tätigkeiten und da kann sich niemand zieren. Man muss eines der Angebote annehmen. Ohne Geld und 'arbeitsscheu' würden sie einen im Marienheim vor die Tür setzen.
Putzfrauen werden gesucht, Lagerarbeiterinnen, solche zum Kistenschieben und Güter-Transportieren in den Markthallen. Das sind sehr schlecht bezahlte Knochenjobs.

Minou putzt zuerst im Neubau. Frauen fürs Grobe werden da gesucht. Mietshäuser wachsen nämlich damals wie Pilze aus dem Boden. Die Handwerker hinterlassen viel Dreck. Schlimm ist, dass raue, angetrocknete Mörtelklumpen mit Spachteln von den rohen Steinböden regelrecht abgesprengt werden müssen, bevor man dann Haufen von Gips wegkehren und danach noch ein halbes dutzend Male den Boden nass aufwischen muss, bis der weiße Gipsüberzug weg und alles rein ist. Bis zum Abend hat man eine vorgegebene Quadratmeterfläche zu meistern. Dann bekommt man auch schon sein Geld. Tagelöhnerdasein nennt man das wohl!


In der Großbackstube, wo Minou eine Weile später arbeitet, geht es dagegen recht angenehm zu. Da herrscht eine kameradschaftliche Atmosphäre und es riecht wie an Weihnachten. Viele junge Leute, auch Studenten, helfen dort aus. Minou sitzt, ein Glied in der Kette, an einem langen Tisch, setzt, gummihandschuhbewehrt, den ganzen Tag Hefebrezeln und –Hörnchen, die ihr zugeschoben werden, auf Backbleche, reicht die Bleche weiter an ihren Nachbarn, der das Backwerk mit Schokoladenglasur bestreicht. Es werden Unmengen dieser Sachen - damals noch ohne Maschinen - hergestellt.
In den Pausen brühen sich die Arbeiter Kaffee auf und man darf von all dem feinen, süßen Gebäck essen, bis man nicht mehr kann. Zerbrochenes, zu dunkel oder schief Geratenes darf verzehrt werden, denn es ist ohnehin nicht zu verkaufen.
"Wenn es einmal stundenlang keinen Bruch gegeben hat", grinst Minous Nachbarin, "dann hilft der eine oder andere von uns eben ein bisschen nach."

Den Lohn bekommt man Minou auch hier täglich nach Arbeitsschluss auf die Hand. Übrig bleibt davon ganz wenig, nachdem Unterkunft und Abendessen im Marienheim bezahlt sind. Das heiße Nescafé-Wasser kriegt man noch umsonst, aber für die Benutzung der sorgfältig abgeschlossenen Duschräume verlangen die Nonnen eine kleine freiwillige Aufmerksamkeit in Geldform, denn es sind ihre privaten Nonnen-Duschen, die sie zur Verfügung stellen. Und sie lassen auch nur ausgewählte Frauen hinein und noch lange nicht ‚jede Hergelaufene.‘

Da ist auch eine große Kantine im Marienheim, wo man für Geld ein einfaches Abendessen einnehmen kann.
Richtig gut schmecken Minou immer die  heißen Pellkartoffeln - zweimal in der Woche gibt es die – man zieht selbst die Schale ab, zerdrückt die Kartoffeln und ein  Stück Butter mit der Gabel, streut Salz darüber ... Zum Mahl gehört auch noch eine große Ecke Schmelzkäse, den manche Leute ebenfalls zerdrücken und in die Kartoffelmasse hineinmischen. Aber das tut Minou nicht. Ihr erscheint der Geschmackzusammenklang von heißen Pellkartoffeln, guter, zerlaufener Butter und Salz so perfekt, dass sie ihn nicht verderben will.

*


Besuch bei Robi. Säuglingsheim

Als sie Robi zum ersten Mal besucht, ist es an einem warmen, mild-sonnigen und mit schweren Pflanzendüften beladenen Spätsommer-Nachmittag. Sie nähert sich dem Heim nicht von der Straße her, sondern über einen kleinen Weg von der Rückseite, durch die üppig grüne Gartenanlage. Sie weiß, im Erdgeschoss des Gebäudes gibt es Panorama- Scheiben, durch die man ins Innere blicken kann. Sie bleibt im Freien und arbeitet sich durch dichtes Buschwerk hindurch, das man gegen Einsichtnahme von außen gepflanzt hat. Da kann sie dann in verschiedene Säle sehen und sie sieht aufgereihte Gitterbettchen und Babys darin. Aber es ist nicht eines da, das Ähnlichkeit mit Robi hat.
Sie geht nun hinein ins Haus und zu einer Schwester. Die führt sie dahin, wo er liegt. Die Front auch dieses Raumes besteht aus einer Glasscheibe und durch sie dürfen die Mütter ihre Kinder anschauen. Da sind ungefähr zehn Bettchen mit Säuglingen, in Reih und Glied. Die Schwester erklärt Minou, im wievielten Bett ihr Sohn ist, und da sieht sie ihn dann. Eine Entfernung von zirka 10 Metern ist zwischen ihnen. Sie erschrickt so tief, dass alles um sie schwankt, denn er sieht aus wie ein fremdes Baby. So furchtbar verändert. Und keine Möglichkeit, ihm näher zu kommen.
"Das kann nicht mein Kind sein", schreit Minou, "ich will jetzt da hinein, ich will ihn jetzt auf den Arm nehmen."
"Das geht nicht. Wir müssen die Kinder vor mitgebrachten Viren und Bakterien schützen!"

Er liegt also da in einem Bettchen von vielen, ein ordnungsgemäß in weiße Windeln gewickeltes, regloses Bündel, mit aufgedunsenem Gesicht. Sein früher so wunderbar schönes, niedliches Köpfchen sieht seltsam übergroß aus, fast wie ein krankhafter Wasserkopf und - Gott steh' mir bei – denkt Minou, er ist ja gelb wie eine Quitte. Zuvor war er quirlig gewesen, hatte stets vor Freude gekräht, wenn man sich mit ihm beschäftigte. Ein Wunder von einem Baby war ihr Sohn gewesen, unter der Sonne Griechenlands braun wie eine kleine Haselnuss und, wie so viele Leute immer gesagt hatten - ‚zum Küssen süß‘.


Urlauber auf dem Touropa- Schiffsdeck hatten ihn immer wieder fotografiert, wie er da in seinem blauen Körbchen lag. Sie hatten Robi anscheinend so schön gefunden, dass sie ihn zu einer würdigen Erinnerung an ihren Urlaub gemacht hatten.

Jetzt starrt ihr geliebter Robi apathisch ins Leere, lacht nicht, weint nicht und dann dieser übergroße Kopf ! Robi erkennt Minou nicht, soviel sie auch an die Scheibe klopft und seine Aufmerksamkeit zu bekommen sucht. Sie darf ja nicht zu ihm hinein gehen, ihn berühren und trösten. Sie fragt die Schwestern mehrmals, ob das auch wirklich ihr Sohn sei.
Und so oft man es ihr dann auch von mehreren Seiten bestätigt, sie kann es doch nicht glauben. Es sind nur acht Tage vergangen, seit sie ihn dort hin gebracht hatten. Was in dieser Woche in seiner kleinen Seele vorgegangen sein mag, das kann man nur erahnen.

Minou denkt damals nicht an psychologische Zusammenhänge, nicht an das Trauma einer Trennung von Mutter und Kind. Davon hatte sie nie im Leben etwas gehört. Niemand hatte je mit ihr über so etwas gesprochen. Ein solches Problem ist ihr ganz fremd. Aber sie heult vor Verzweiflung, als sie ihn so sieht. Er scheint ihr sehr krank und sie hat die größte Angst, dass er sterben könnte. Ist vielleicht etwas mit seiner kleinen Leber?
"Nein, nein, Ihrem Sohn geht es gut, er ist gesund, wir haben nur angefangen, ihm Karottensaft zuzufüttern, ja ... deshalb die gelbe Farbe ... das Neonlicht ist seinem Teint auch nicht gerade zuträglich ..."


Jahre später wird Minou denken, dass es höchstwahrscheinlich doch das falsche Kind gewesen ist, das man ihr damals beim ersten Besuch als ihres gezeigt hat, denn als sie nach wenigen Tagen wiederkommt, da erscheint ihr Robi fast so wie früher, fast wieder ganz schön, fast wieder gesund, fast wieder lebhaft. Er lacht sogar manchmal zu ihr herüber. Aber das ist dann vielleicht doch Einbildung. Sie sieht ihn ja auch da nur durch die Glasscheibe und von weitem. Trotzdem ... ihre Seele ist von da an nicht mehr ganz so verzweifelt.

*


Robis Taufe

Frau Reidner ist zu der Zeit, als Minou sie auf der Bahnhofsmission kennenlernt, ungefähr 45 Jahre alt und hat eine auffallend gelbe Gesichtsfarbe, eine stämmige, formlose Figur und Hände, wie Minou noch nie ähnliche gesehen hat. Kranke Hände. Sie sind bis zu den Fingerkuppen mit einer panzerartigen, gelben, hornigen Masse überzogen. Der Anblick ihrer Person bietet dem Auge nicht einen einzigen Lichtblick. Doch ist sie anscheinend sehr beliebt und eine umgängliche und vitale Person. Sie ist herzlich zu einem jeden, immer besorgt um die Menschen ihrer Umgebung. Ist unkompliziert und mit einem trockenen Humor gesegnet. Viele fühlen sich wohl in ihrer Gesellschaft. Sie kennt Gott und die Welt, auch seltsamerweise viele junge Männer mit denen sie fast vertraulich! umgeht und scheint auch noch einen besonders engen Draht zu katholischen Kirchenkreisen zu haben.

Diese Frau leitet es in die Wege, dass Robi, kurz nach ihrer beider Ankunft in Stuttgart, katholisch getauft wird. Ares, der Atheist und Kommunist hätte das sicher nie gewollt. Aber alle Kinder in Deutschland müssen getauft werden. Es gehört halt zum Leben dazu.
"Das sind Sie ihrem Sohn schuldig!"
Na ja, Minou hat nichts dagegen.
Robi darf für diesen Tag dann doch aus dem Heim geholt werden. Minou hört gar nicht mehr auf, zu weinen, als sie ihn endlich wieder im Arm hält. In der Kirche St. Eberhard wird er getauft.

Die Feier danach findet in Frau Reidners blitzblanker, gutbürgerlicher zwei-Zimmer-Neubauwohnung statt. Die Frau von der Bahnhofsmission hat sich ein richtiges Puppenhaus eingerichtet. Die winzigen Räume sind reichlich angefüllt mit modernen Möbeln und Geräten..

Außer Minou und dem Mann vom Jugendamt – auch er ein Bekannter von Frau Reidner - ist noch ein dünner, langer Jüngling anwesend, der ebenfalls zu Frau Reidners engstem Kreis zu zählen scheint. Minou kennt ihn schon, denn dieser Junge bemüht sich seit ihrer Ankunft um sie, obwohl sie ihn alles andere als ermuntert. Er ist ein farbloses Wesen, lang aufgeschossen, unsicher wie ein Kind. Sympathisch und Willens, sich auch mit ihrer bloßen Freundschaft zu begnügen. Würde sie aber auch heiraten. Heiraten!! Das kann nicht wahr sein. Er kennt sie doch kaum. Solch eine Andeutung hat er aber gemacht! Er wolle immer für sie und das Kind da sein, sagt er naiv und schwärmerisch. Der Liebe. Versucht Frau Reidner etwa, sie beide zu verkuppeln? Minou macht nicht mit. Ein so reiner, ehrbarer Jungmann ... nein ... wäre er aber durchtrieben und leidenschaftlich, so hätte er auch keinen Erfolg bei ihr. Nein ... sie kann nichts mit ihm anfangen und hat ihm nichts zu sagen. Sie ist für niemanden aufnahmefähig in dieser Zeit.

Minous Gedanken sind auch bei der Taufe weit weg von den sie umgebenden Leuten. Noch immer in Griechenland. Noch immer bei Ares. Sie weint, als sie Robi abends wieder zurück ins Heim bringen. Bei seiner Taufe ist Robi drei Monate alt.

*


Volksfest

"Kennen sie den weltberühmten Cannstatter Wasen? Da ist Himmel und Erde in Bewegung. Ich hole Sie heute Abend nach Ihrer Arbeit im Marienheim ab und bringe ein paar Freunde mit", sagt Frau Reidner am Telefon.

Sie treffen sich dann. Außer Frau Reidner sind da wieder Heinz, der schlaksige Junge und noch ein paar andere Halbwüchsige, vier an der Zahl.

Auf dem riesigen Rummelplatz wechseln sie von einem Festzelt ins andere, trinken jeder ein paar Humpen Bier verteilt über viele Stunden. Sie fahren Achterbahn, Geisterbahn und besonders Minou wird immer fröhlicher und hört sich auf einmal lachen, was sie schon lange nicht mehr getan hat. Sie fühlt sich leicht und ganz ‚on top of the world.‘ Die Jungen schießen für sie an den Schießständen Papierblumen, Püppchen und Teddybären, sie tragen am Ende alle riesige Lebkuchenherzen um den Hals gehängt. Minou isst, ausgehungert, mehr als ein halbes Dutzend Fischbrötchen zum Bier und sie bekommen ihr ausgezeichnet. Meistens verträgt sie nämlich Essen nicht in jener Zeit. An dem Abend fühlt sie sich - zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr nach Deutschland - wirklich gut.

Alle diese Jungen interessieren sich nicht einmal für andere hübsche Mädchen, die auf dem Fest überall herumlaufen. Jeder dieser netten Kerle versucht, den anderen auszustechen und sich selbst ins beste Licht zu rücken, um Minou zu gefallen. Dabei sind sie höflich und dezent, Minou kann spüren, dass sie sie achten. Das ist bestimmt das Verdienst von Frau Reidner, die die ganze Gruppe resolut wie eine Internatsleiterin im Griff hat und anführt. Es sind alles wohlerzogene katholische Jungmänner, aus einer kirchlichen Jugendgruppe - wie Minou später erfährt - Sie sind gut gelaunt, harmlos, geradeheraus und bringen Minou spät abends alle gemeinsam mit der Straßenbahn zurück zum Marienheim, wo sie sich kichernd und etwas beschwipst verabschiedet.

Dieses Fest bleibt eine schöne Erinnerung. Minou hat nie in ihrem Leben so viele ernsthafte und doch korrekte Verehrer auf einmal gehabt wie an diesem Abend. Sicher hat Frau Reidner das arrangiert, um sie aufzuheitern und ihr darniederliegendes Selbstbewusstsein zu stärken. Die sonderbar aussehende Frau ist ja eine sehr lebenslustige, auch kluge Person und es machte ihr offensichtlich selbst Freude, in Gesellschaft so vieler junger, frischer Männer über den Cannstatter Wasen zu streifen.

Und, obwohl der eine oder andere sich noch weiter um Minou bemüht, sie vor dem Wohnheim abpasst, nur um sie schüchtern zu fragen, ob er sie zu einer Tasse Kaffee einladen dürfe oder zum Essen ... innen ist sie schon wieder weltweit von ihnen entfernt. Sie gibt keinem eine Chance und geht ihnen von Begegnung zu Begegnung immer mehr aus dem Weg. Sie merken das natürlich auch. So groß ist ihre Bewunderung für das komische Mädchen dann doch nicht und Minou ist bald wieder allein.

Wie sollte es auch gut gehen? Sie sind so katholisch, so scheu und aufrecht und auch noch mit ihrem sonderbaren schwäbischen Dialekt behaftet und keiner ist dunkel und keiner geheimnisvoll und keiner hat auch nur EINE Spur jener kompromisslosen Männlichkeit, die Minou an ihren Liebhabern, besonders an Ares so anzog. Sie weint ihre Kissen nass, nachts im Bett im Wohnheim. Keiner hier, den sie kennt, kommt Ares an Ausstrahlung auch nur im allerentferntesten nahe. Sie hätte aber vielleicht einen guten Freund unter den Jungen finden können und wäre nicht mehr allein gewesen. Jedoch ... sie ist nicht imstande, sich auch nur im Geringsten für jemanden zu öffnen.

*


 



Ein Zimmer in der Altstadt

Minou bleibt nicht lange in diesem Marienheim. Sie und Anni, eine Zwanzigjährige, die auch dort wohnt, nehmen sich gemeinsam ein Zimmer. Die zwei haben inzwischen feste Jobs, Anni als Anrichterin von kalten Platten in der Großküche einer Behörde und Minou als Bedienung in einem Café der Innenstadt. Nun haben sie die nötige ‚bürgerliche‘ Sicherheit, um einem Hausbesitzer hocherhobenen Hauptes entgegentreten zu können.
Sie bekommen das in der Zeitung ausgeschriebene, möblierte Zimmer im Zentrum auch sofort – es ist übrigens das erste und einzige, das sie noch schnell in der Frühe vor ihrem Dienstantritt besichtigen. Und schon am Abend können sie einziehen.
Endlich schläft Minou wieder gut. Es gibt keine herumwuselnden, aufgescheuchten Frauen mehr, die einen im Morgengrau mit hektischem Gerenne und Getrappel aus dem Schlaf reißen. Schon allein das ist wunderbar. Jetzt muss sie auch nicht mehr mit anderen zusammen vor einem der Becken im Waschraum für die Morgentoilette anstehen, um danach in die Fast-noch-Dämmerung hinausgestoßen zu werden. Ja ... und dass sie an freien Tagen so lang im Bett bleiben kann, wie sie will, macht Minou geradezu euphorisch.

Dennoch, es ist ein ziemlich erbärmliches Domizil, das sie da ergattert haben, eigentlich nichts als ein Doppelbett-SCHLAFzimmer mit abgetretenem, graugelb gesprenkeltem Balatum auf dem Boden und zwei Nachtschränkchen, in deren unteren Klappfächern der süßliche Geruch der früher dort aufbewahrten Pisspötte noch lastet. Dann ist da ein Toilettentisch mit gesprungener Marmorplatte, ein schmaler, baufälliger Schrank, der so von Polierwachs und Firnis überkleistert ist, dass er fast schwarzgrün aussieht. Im Ehe-Bett miefen zwei generationenalte, durchgelegene Matratzen vor sich hin und tief sackt man nachts in die Kuhlen hinein. Das Klo - im Treppenhaus - wird von den Leuten der ganzen Etage benutzt. Heizmöglichkeiten gibt es keine. Das wird Anni und Minou aber erst später stören, als es richtig Winter wird.

Dieses verwahrloste Gebäude in der Stuttgarter Altstadt ist eines von vielen mehrstöckigen Mietshäusern, das einem uralten, vertrockneten, verwitweten Männchen gehört. Er hat die Räume alle einzeln vermietet.
Die beiden Mädchen haben sogar eine Waschgelegenheit in ihrem Zimmer, ein kleines Blech-Becken mit einem stark korrodierten Hahn, aus dem sich bei Bedarf ein dünner, natürlich kalter Strahl herausquält. Sie sind noch glücklich daran, denn es gibt auch Leute, die sich das Wasser vom Flur herein holen müssen.
Anni erzählt Minou gleich am ersten Abend atemlos, was sie von anderen Bewohnern gehört hat:
„Wir müssen furchtbar aufpassen, es ist nämlich verboten, elektrische Geräte zu benutzen. Der Hausbesitzer schnausert - wenn man nicht da ist - in den Zimmern herum und kassiert alles ein, Heizdecken, Leselämpchen, sogar Radios. Auf dem Speicher gibt es einen besonderen Raum. Dort hält er die Sachen unter Verschluss.“

Außer dem Anknipsen der Deckenlampe ist es also verboten, Strom zu verwenden. Tatsache ist, dass es nur einen gemeinsamen Zähler im Keller gibt - wie soll der arme Mann da den Verbrauch der einzelnen Mietparteien messen? Außerdem würden die uralten Leitungen wahrscheinlich eines nicht fernen Tages bei normaler, alltäglicher, menschlicher Benutzung hoffnungslos durchschmoren. Dieser Tatsache muss eben Rechnung getragen werden.
Die beiden Mädchen verstecken und hüten also ihre Elektrogeräte wie Schätze. Anni hat sich vor kurzem einen tollen, modernen Plattenspieler zugelegt, der kann automatisch zehn Platten hintereinander abspielen und genau zehn Schlagerplatten besitzt sie schon. Anni hat auch ein Bügeleisen. Und Minou einen Tauchsieder. Sie verstecken diese verbotenen Dinge nun jeden Tag, bevor sie zur Arbeit gehen, an einer Stelle ganz hoch oben und so weit hinten auf dem Schrank, dass man sie, auf einem Stuhl stehend, gerade noch mit den Händen erreichen kann und sie hoffen, dass der winzige Sonderling von Hausbesitzer sie nicht findet.

Jeden Abend hören sie heimlich Musik:
Moon River,
wider than a mile,
I'm crossing you in style some day.
Oh, dream maker, you heart breaker,
wherever you're going I'm going your way.
Two drifters off to see the world.
There's such a lot of world to see.
We're after the same rainbow's end--

Dazu: Ramona, la Paloma, are you lonesome tonight, schöner fremder Mann, die Gitarre und das Meer.
Und dann noch die weißen Rosen aus Athen ... sagen dir auf Wiedersehn ... da bekommt Anni Sterne in die Augen. Am liebsten träumt die Zimmergenossin aber zu Bert Kämpferts: Wonderland by night - Wunderland bei Nacht.

Im nahen Schallplattengeschäft hatte Minou, schon als sie noch im Marienheim wohnte, DIE Platte gefunden, IHRE Platte, die hörte sie sich immer wieder an. Ja, nur wegen dieser Platte ging sie eigentlich in den Laden. Zum Klang der Musik ließ sie dann ihrer Trauer und ihrem Kummer die Zügel schießen da in der engen Kabine. Sie weinte und weinte mit den Kopfhörern auf den Ohren, dass ihr die Tränen in den Blusenkragen liefen, dann in einer warmen Flut unter dem Nylonstoff über die Brust sickerten bis zu ihrem Nabel hinunter. Sie weinte und schluchzte in der Verborgenheit des engen dunklen Abhör-Kabäuschens.

Als ihr dann auf einmal Annis Grundig-Gerät zur Verfügung steht, da läuft sie noch am selben Tag los und kauft die Platte, von der ihr die eigene Sehnsucht und Traurigkeit so vehement entgegen klingt.
Die Sängerin ist Melina Mercouri und das Lied heißt: 'Mädchen vom Piräus.‘ Auf griechisch.
Die exotische Melodie, das verführerische Timbre der Stimme stürzt Minous Herz in ein Übermaß von Gefühlen. Sie krümmt sich im Gewirr von Sehnsucht und Leid, träumt sich Ares herbei und weiß doch, oder ahnt, dass sie nie, nie wieder beieinander schlafen werden. Wie soll man das ertragen? Ihre Lebenskraft, ohnehin furchbar dezimiert, ist höchstwahrscheinlich gerade vollständig am Erlöschen ... fürchtet sie.
Ach ... dieses Lied bohrt den Stachel des Liebeskummers noch tiefer in ihr Fleisch, greift mit seiner Melodie hinein in die unerfüllbaren Wünsche ihrer Seele, dass sie davon ganz krank wird und diesen Zustand doch auch immer wieder sucht und sich ihm aussetzt.

In diesem simplen Lied findet ihre gebeutelte Seele auf einmal den ganzen Zauber ihres geliebten Abenteuerhafens Piräus und manchmal denkt sie auch an Jerry und an die Fahrten zu den Inseln und all das ... Sehnsucht ist es. Sehnsucht pur. Sie denkt auch mit Liebe an Elena. Das schöne Lied, von Melina Mercuri gesungen, scheint ihr das ganze Herz Griechenlands zu enthüllen, das sie jetzt besser zu verstehen glaubt, als zur Zeit, in der sie dort gelebt hat, ebenso wie sie erst jetzt die suchende, edle und über alles komplizierte Seele ihres Mannes Ares - übrigens auch Jerrys! - so richtig zu erkennen glaubt.

Auf der Arbeit im Café hält sie noch halbwegs durch, wenn sie aber zu Hause anfängt nachzudenken, ist Minou nur noch ein Bündel ratloser Verworrenheit.

Anni bringt ihr Speisen aus der Großküche mit, feine Sachen: Lachs, Schinken, köstliche Salate, gegrillte Hähnchenkeule. Minou isst alles auf und es schmeckt gut. Das kann aber ihre Traurigkeit auch nicht schmälern. Die Zimmergefährtin, obwohl zwei Jahre jünger als sie selbst, besitzt ... Mütterlichkeit. Schon allein ihre Art, wie sie immer so treu und regelmäßig Essen in ihrer Tasche für sie heran schleppt ... Im Café, in dem Minou arbeitet, gibt es nur Kuchen und Süßes und sie muss für alles genau so zahlen, wie jeder Gast und das ist zu viel bei ihrem kleinen Einkommen, von dem ihr auch noch ein Drittel für Robis Kinderheim abgezogen wird.
Die beiden bösen Mädchen schädigen aber den armen Hausbesitzer ganz gewaltig. Schuld ist der Tauchsieder. Mit seiner Hilfe machen sie häufig ziemliche Mengen Wasser in einer Aluminiumbütte heiß, um sich, ihre Kleider und ihre Haare zu waschen.
Doch einmal in der Woche gehen sie auch zusammen ins Stadtbad ... aber nicht zum Schwimmen, sondern in die Wannenabteilung.


ANNI, die aus einem kleinen Dorf in der Oberpfalz stammt, ist schweigsam, trägt ihre Gedanken und Gefühle in der Brust verschlossen und nur selten kann Minou sie einmal lesen. Nein, sie weiß nicht viel von diesem sonderbaren Wesen, bemüht sich auch nicht wirklich um sie. Sie ist damals so sehr mit eigenen Problemen belastet und zur Freundschaft überhaupt nicht bereit oder fähig. Heute tut ihr das sehr leid. Eine so Gute zur Freundin zu haben, das hätte ein großes Glück sein können‘, wird Minou später oft denken.

Anni hat helle Sommersprossen auf ihrem herben, runden Gesicht, schmal geschnittene, braune Augen, hübsche, kleine Zähnchen, einen winzigen Mund. Ihr dünnes, glattes, bis zur Hüfte reichendes und schnell fettig werdendes, nachtschwarzes Haar, trägt sie außerhalb der Wohnung niemals offen, sondern immer zu einem nichtssagenden Knoten oder einem mit Haarnadeln festgesteckten Zopf zusammengewurstelt. Sie schminkt sich auch nicht - im Gegensatz zu Minou – auch trägt sie seltsamerweise nur schwarze, lieblos gewählte, altmodische Klamotten. Aber dann kauft sie sich eines Tages Pulli und Rock bei C & A - beide Teile auch wieder schwarz, aber eng anliegend, und dazu ein paar hochhackige Pumps aus Wildleder, was auf einmal an ihr wahnsinnig gut aussieht.

Anni ist ein Persönchen von strengen Sitten. Sie hat NIE eine Verabredung. Es ist klar: auch sie trägt sicher einen seelischen Kummer mit sich herum, denkt Minou, denn dass ein so hübsches Geschöpf ganz und gar nichts aus sich macht, das ist doch nicht normal. Nicht eine gebotene Chance nimmt Anni wahr - Minou übrigens in dieser Zeit auch nicht - Dabei werden sie häufig von Männern angesprochen, wenn sie einmal in der Freizeit im Kino oder Café sitzen oder im Stadtpark spazieren gehen.

“Du bist schon superkomisch”, sagt Anni an ihrer beider freiem Montag. “Jetzt liegst du die ganze Zeit im Bett, liest in diesem Buch und heulst. Ich hab es gestern mal durchgeblättert. Es ist noch nicht einmal eine Liebesgeschichte!”

Ja, Minou heult im Zimmer in Stuttgart, als sie ‚Der alte Mann und das Meer‘ von Ernest Hemingway liest und mit jeder Faser ihres eigenen Körpers erlebt sie mit, wie einer, - einst der König der Fischer - seinen heroischen Kampf erst gegen den größten und herrlichsten Merlin, den er je gesehen, und dann gegen jene Haie führte, die ihm seinen Fang, seinen wunderbaren Riesenfang Stück für Stück wegrissen. Wie er von den Elementen geschunden und von seiner Kraft im Stich gelassen, sich am Ende halbtot in die Hütte am Strand rettete, ein Spielball der äußeren Umstände und des eigenen, vorherbestimmten Schicksals ... Da denkt sie auch an den armen, alten Ernest Hemingway, der sich ein Jahr zuvor erschossen hat. Und an ihr eigenes, so hoffnungslos erscheinendes Leben denkt sie auch, natürlich. Der Menschheit ganzer Jammer packt sie da und sie spürt, wie langsam und unaufhörlich mindestens ein halber Liter Tränenflüssigkeit in einem unendlichen Strom aus ihr herausfließt. Später ist sie erstaunt, dass sie einen ganzen Tag wegen eines Buches hat heulen müssen und sich kaum mehr hat beruhigen können. Es sind aber erst vier Wochen seit ihrer Rückkehr aus Athen vergangen, als ihr dieses Buch in die Hände fällt. Ja, sie ist halb verrückt ... mit Robi im Säuglingsheim und der großen Sehnsucht nach Ares im Herzen, einer Sehnsucht, die ihr die Eingeweide zerwühlt. Das ist es, denkt sie, warum ich so weinen muss ... um Robi, um Ares, um mich selbst, wahrscheinlich erst zuletzt um den alten Fischer ...

*


Obwohl sie jede Nacht nebeneinander in dem Doppelbett schlafen, fast Körper an Körper, berühren sich die beiden jungen Mädchen nie, und wenn es doch einmal durch Zufall geschieht, schämen sie sich und überspielen es wie ein peinliches Missgeschick. Sie laufen nie wirklich nackt vor einander herum, bedecken sich immer irgendwie. Doch bleibt es natürlich nicht aus, dass sie sich in kurzen Augenblicken doch ganz zu sehen bekommen. Am Hübschesten ist Anni morgens kurz nach dem Aufstehen in ihrem dünnen Nachthemd, mit ihrer leuchtend weißen Haut, der schmalen Taille, ihrem großem Busen, der nackt höher und straffer ist, als unter B.H und Kleidung. Im Bikini müsste sie ganz wunderbar aussehen, denkt Minou und registriert verwundert die große körperliche Schönheit der Zimmergefährtin, aber sie fühlt nicht die geringste sinnliche Anziehung. Sie erzählt Anni weinend und schluchzend von ihrer Liebe zu Ares und wie alles gekommen ist, dass sie ihn hat verlassen müssen und dass ihr armes Kind jetzt so allein im Heim ... Anni sagt, scheinbar emotionslos, auch sie sei schon einmal verlobt gewesen, die Sache sei aber längst zu Ende. Näheres darüber gibt sie nicht preis. Minou ist ohnehin so sehr mit sich beschäftigt, es interessiert sie nicht wirklich, was die Gefährtin erlebt hat, denn so schlimm wird es schon nicht sein, niemand unter der Sonne kann - denkt sie - auch nur annähernd so leiden wie sie selbst.
Sie sieht nur ihren Kummer, der ihr in besonders dunklen Augenblicken als der schlimmste auf der Welt erscheint und was rechts und links mit anderen Menschen geschieht, nimmt sie gar nicht richtig wahr.

*



Gerichtsvollzieher

Eines Tages kommt ein Mann an die Tür, der sich als Gerichtsvollzieher ausweist. Die Mädchen sind beide zu Hause, haben sich gerade einen Kaffee gemacht, hören ‚Kriminal-Tango‘ und essen Kuchen, den diesmal Minou mitgebracht hat. „Das kann nur ein Irrtum sein“, sagt Anni und lässt den Typen arglos herein.

Der schaut sich mit einem Blick um, entdeckte sofort den Plattenspieler und inspiziert ihn aus geringer Entfernung mit interessierten Blicken.
Minou weiß, warum er da ist. Sie hat Schulden. Es sind schon zwei- oder dreimal Schreiben gekommen, doch sie hat nicht reagiert. Verdrängung. Sie weiß, was der Mann eintreiben muss - nämlich die Summe, die ihr die Deutsche Botschaft in Athen für die Rückreise 'ausgelegt' hat. Das heißt, sie hatte ein ‚Darlehen‘ von ihnen bekommen, wie sie inzwischen aus den Zahlungsaufforderungen weiß .

Minou fällt aber doch aus allen Wolken, als jetzt plötzlich der Gerichtsvollzieher sie heimsucht. Was für ein Dummchen war sie gewesen, hatte geglaubt, dass die netten Männer von der Botschaft ihr die Tickets Athen - Stuttgart zum Geschenk gemacht hätten. Von Zurückzahlen war tatsächlich nie die Rede gewesen. Sie hatten ihr auf ihre Skepsis hin, mehrmals fröhlich versichert, das gehe schon alles in Ordnung, darüber brauche sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen und was mehr solcher einlullender Worte gewesen waren.

Nun schuldet sie auf einmal eine hohe Summe, weil Bearbeitungs- und Gerichtskosten noch dazu gekommen sind.

Minou sagt dem Gerichtsvollzieher, dass sie nicht viel verdiene, auch Unterhalt für ihren Sohn im Säuglingsheim bezahlen müsse und sie murmelt, der Wahrheit entsprechend, dass sie nichts Pfändbares besäße.

Er hält aber seine Augen schon wieder auf den Plattenspieler fixiert, der, wie er meint, zwar nur einen kleinen Teil der Schuld lösche, aber immerhin, das sei ja zumindest ein Anfang.
"Das Gerät gehört mir nicht", sagt Minou.
„Klar, dass Sie das jetzt behaupten ... Das ist eine normale Ausrede, so etwas erlebe ich täglich. Aber dieses Zimmer wurde von Ihnen angemietet, in Ihrem Namen ... folglich ... also werde ich jetzt erst einmal meinen Kuckuck kleben“, meint er mit stoischer Ruhe.
„Es ist mein Gerät, Moment ... ich habe noch die Kaufquittung“, schrillt Anni los.

„Wie wollen SIE denn beweisen, dass Sie die Besitzerin sind ... hier auf der Quittung steht nirgends Ihr Name! Ihr zwei Hübschen könnt mir viel erzählen.“ Der Mann grinst genüsslich.

Minou packt den Gerichtsvollzieher beim Arm, gerade als er das berüchtigte Ding auf den Plattenspieler kleben will, rüttelt ihn und schreit, dass er das ihrer Freundin nicht antun dürfe. Er nehme einer völlig unbeteiligten Dritten das, woran ihr Herz hänge, ein Gerät, auf das sie lange gespart habe.
"Ich muss meiner Pflicht genügen, so leid es mir tut." Der Kerl grinst gemein.
„Das dürfen Sie mit uns nicht machen!“, ruft Minou ... voller Empörung, voller roter Wut.

"O, das wird Ihnen aber noch leid tun", sagt da Anni seelenruhig. "Wenn meine Bekannten nämlich davon erfahren, werden sie ziemlich böse auf Sie sein und es könnte Ihnen etwas passieren. Nicht, dass ich Ihnen das wünsche. Und bevor die Polizei zupackt, sind die schon weg ... Das sind nämlich ... A u s l ä n d e r.“
"Hör auf", flüsterte Minou total verwirrt.

Doch da macht der Mann ganz unerwartet eine Kehrtwendung ... Na ja, er würde noch einmal fünf gerade sein lassen und ein Auge zudrücken, würde schreiben, dass da nichts Gegenständliches von Wert ... Minou würde noch von ihm hören. Dann müsse er eben Lohnpfändung...

„Du bist aber ganz schön durchtrieben. Auf so eine Idee muss man erst einmal kommen!", entfährt es Minou, als er weg ist.
"Für die Gerechtigkeit tu ich alles!", sagt Anni.

 

 

 

 


*




Im Klara-Stift 

 Frau Reidner ist es, die Minou zum ersten Mal von dem Mutter-Kind-Heim erzählt. Sie sagt, dass es für sie dort die Möglichkeit gäbe, arbeiten zu gehen und gleichzeitig Robi wieder bei sich zu haben. Ein Zimmer sei frei geworden und wenn sie Lust hätte ... sie dürfe es sich aber nicht zu lange überlegen. Diese Plätze seien begehrt.

Das ist ja ideal, denkt Minou, als sie das imposante Gebäude und darin das schöne, möblierte Zimmer sieht. Die Leiterin und eine Sozialarbeiterin malen ihr den zukünftigen Aufenthalt in den angenehmsten Farben aus. Da greift sie sofort zu, holt Robi aus dem Säuglingsheim und dann beginnt ihr gemeinsames Leben im Klara-Stift.

 

In diesem Haus mit den großen Fensterflächen blitzt alles vor Klarheit, Sauberkeit, Licht. Überall grüne und blühende Pflanzen. Hallen und Korridore duften frisch.

Jedes der zwanzig dort wohnenden Mädchen hat einen geräumigen, mit praktischen Möbeln ausgestatteten Wohn-Schlaf-Raum, daran anschließend eine abgegrenzte eigene Waschbecken-Nische und eine Bettnische für das Kind.

Minou gefällt ihr Zimmer. Es ist da schön warm – ganz im Gegensatz zu der unbeheizbaren Bude in der Altstadt. Und dann die fantastische Panorama-Scheibe gleich neben dem Bett ... durch sie sieht Minou in jenem Winter an den Samstag- und Sonntagmorgen - den Tagen, an denen sie nicht arbeitet - die rote Sonne über den schneegebeugten Koniferen einer ruhigen Gartenlandschaft aufgehen.

An Wochentagen hat sie zum Träumen keine Zeit. Da muss sie Robi schon in der Morgendämmerung füttern, zurechtmachen und in den Nebenflügel des Gebäudes zur Krippe bringen. Danach ist dann Minou in der grauen Frühe bereits via Straßenbahn auf dem Weg zur Arbeit.

In ihrem Inneren spürt sie eine tiefe Befriedigung.

Feierlich, fast erhaben sind ihre Gedanken, ihr Herz ist von Wärme durchflutet, denn es ist Weihnachtszeit mit viel Christbaum-Schmuck im ganzen Haus, mit Kerzenlicht, Kling-Glöckchen-Süße und dem Duft von Tannen, Äpfeln, Plätzchen. Und Robi ist wieder da, sein rundes Gesichtchen, die dichten schwarzen Locken, sein Lachen. Die Wärme seines kleinen Körpers zu spüren, wenn sie ihn abends zu sich ins Bett nimmt, gibt ihr ... Geborgenheit.

Alle Kosten, auch die für Zimmermiete und Babykrippe, lasten auf den Schultern der Bewohnerinnen und werden von keinem Amt übernommen. Deswegen gehen die jungen Mütter jeden Tag arbeiten. Es gibt außerdem noch das Unterhaltsgeld der 'Kindsväter' oder Zuwendungen durch die Eltern. Manche der Mädchen lassen sich auch durch neu gewonnene Partner finanziell unter die Arme greifen.

Minou hat nichts als ihren Arbeitslohn. Doch sie kann sich den Aufenthalt hier leisten. Sie verdient inzwischen ‚normal‘. Nach einer kleinen Aufnahmeprüfung hat sie nämlich einen Job auf dem Statistischen Landesamt in Stuttgart ergattert. Die Fragebögen der Volkszählung wertet sie nun täglich aus – zusammen mit vielen anderen Leuten, die - ebenso wie sie - eigens für diese Arbeit eingestellt worden sind. Das ist eine Tätigkeit auf Jahre hinaus, hat man ihr gesagt. Und Mittagessen gibt es in der hauseigenen Kantine. Verbunden ist der Job allerdings mit viel Hin- und Herfahrerei für Minou, denn das Klara-Stift liegt außerhalb Stuttgarts und sie muss täglich mit der Straßenbahn in die Stadt hinein.

Da hat sie nun ganz neue Pflichten: Morgens Robi zurechtmachen und in die Krippe bringen, dann der achtstündige Job, am frühen Abend das Zurückhetzen zum Stift, wieder die Versorgung des Kindes. Minou kommt kaum zum Aufatmen. An Samstagen und Sonntagen ist die Babykrippe geschlossen. Dann heißt es Robi allein zu versorgen. Dazu Hausarbeit, Wäsche waschen, Einkaufen für sich und das Kind. Das sind die Anforderungen ihres Lebens, die man eben meistern muss. Alle tun es.

Es gibt auch Dinge hier, die – für Minous Begriffe – nicht so gut geregelt sind. Zum Beispiel die Kocherei:

Jede Bewohnerin hat nämlich in der großen Küche, oder besser in der durch einen Mittelgang zweigeteilten Küchenzeile, ungefähr einen Quadratmeter für sich, ein akribisch abgezirkeltes Mini-Reich mit zwei Kochplatten, einer Spüle, ein paar Hängeschränkchen, worin jede ihre eigenen Töpfe, Pfannen und den sonstigen Küchenkram verstaut hat. So stehen die jungen Mädchen dann jeden Abend - an Sonn- und Feiertagen auch Mittags - eng, geradezu auf Tuchfühlung nebeneinander und jede bereitet Babynahrung und jede kocht ihr kleines Süppchen oder brutzelt ihr ureigenes Schnitzelchen, um es dann zum Essen mit aufs Zimmer zu nehmen. Sonderbar ... sie kochen nie etwas gemeinsam. Jede werkelt für sich allein. Und es gibt keine Schlamperei in dieser Küche. Kein ungewaschenes Geschirr. Die einzelnen ‚Parzellen‘ müssen sofort nach der Benutzung wieder blitzblank aussehen. Wenn eine der jungen Frauen es nicht so genau nimmt mit der Sauberkeit und vorher heimlich verschwinden will, dann brüllen die anderen sie zurück. Das Ganze wird ohnehin täglich von der zuständigen Sozialarbeiterin überwacht.

 

Auch die Gemeinschaftsbäder und Klos müssen von den Mädchen geputzt werden. Da kann sich keine drücken, wenn sie an der Reihe ist. Das ist normal. Das gehört eben zum Zusammenleben.

Besuch darf nur in dem dafür vorgesehenen Raum zwischen Kunststoff-Sesselgruppe und Gummibäumen empfangen werden und nicht im eigenen Zimmer. Minou hat kaum jemanden, der zu ihr kommt. Nur Frau Reidner und Anni. Anni kann aber ihr Verletzt-Sein und ihre Enttäuschung nicht verbergen, nun da Minou 'abgehauen' ist und sie in dem Altstadtzimmer allein gelassen hat. Sie friere sich den Hintern ab ohne Ofen, jetzt im Winter, sagt sie, während Minou es in den zentralgeheizten Räumen des Stiftes immer gleichbleibend warm und mollig habe.

*

Eine Weile fühlt Minou sich beschützt und gut aufgehoben in dieser Gemeinschaft von jungen Müttern und kleinen Kindern. Aber ihr neues Dasein ohne männliche Präsenz hat auch jede Spannung, Würze, Ekstase verloren, die Minou bisher immer aus dem Umgang und der körperlichen Nähe mit ihren - ach so - geliebten, bewunderten Partnern gezogen hat. Das Klara-Stift ist eine klösterliche Frauendomäne. Und auf Minous Arbeitsstelle, dem Statistischen Landesamt, gibt es unter all den Angestellten auch weit und breit keinen, bei dessen Anblick ihr Herz nur ein wenig höher geschlagen hätte. So groß auch ihre Sehnsucht nach Liebe, nach Berührung ist, die Vorstellung, sich an einen neuen Mann zu lehnen, bleibt für sie ... unmöglich. Es sei denn, der Mann wäre wie Ares. Nein, nicht WIE Ares hätte er sein müssen, sondern Ares voll und ganz, kein anderer.

Minou ist häufig müde und leidet an körperlichen Erschöpfungszuständen. Deswegen isst sie viel Traubenzucker und für die geistige Spannkraft kauft sie Buer-Lecithin- Kapseln. Aber der durchschlagende Erfolg bleibt aus. Und sie stellt verwundert fest, dass auch Robi ihr nicht immer genug Lebenskraft gibt, und dass sie seinen Vater von Tag zu Tag mehr vermisst.

Es ist vielleicht aber noch etwas anderes, was ihr das Leben unter diesen neuen Umständen so schwer macht: nach all der Leidenschaft vergangener Liebeserlebnisse scheint ihr dieses Mutter-Kind-Heim steril, eng. Die recht zufriedenen, in den Dingen der Welt - wie sie glaubt - unerfahrenen jungen Mitbewohnerinnen bleiben ihr innerlich ziemlich fremd.
Minou weiß ... es gibt keines unter diesen jungen Mädchen, das nicht auch handfeste Probleme hat. Aber Schwäbinnen sind sie, Töchter aus der Gegend hier. Irgendwie sind sie ‚geerdet‘, haben Freunde, haben soziale Bindungen aus der Zeit vor ihrer Schwangerschaft. Ihre Sehnsucht scheint nicht so ins Leere zu laufen wie die meine, denkt sie. Viele sehen das Klara-Stift als Brücke in eine bessere Zukunft. Einige wenige gehen noch zur Schule, andere machen ihre Lehre fertig. Die meisten sind sogar jünger – und viel unschuldiger – als sie. Zwar sind sie jetzt vorübergehend gegängelt und überwacht, aber es gibt ein Dutzend legale Möglichkeiten, der Aufsicht zeitweise doch recht leicht zu entkommen.

Die meisten Bewohnerinnen des Stiftes verbringen regelmäßig Tage und Nächte mit den Sprösslingen bei Eltern oder Verwandten. Manche ‚Kindsväter‘ halten ja auch die Beziehung zu den jungen Müttern aufrecht, nehmen Anteil am Werden des Babys, besorgen die nötigen Dinge. Und die von den Kindsvätern Verlassenen haben bereits neue Partner, die sie heiraten werden oder auch nicht, auf alle Fälle verleben sie einen Teil ihrer Zeit schon frei außerhalb des Heimes. Minou fehlen solche weichen Auffangkissen, die den anderen das Dasein erträglich machen. Robi ist ihre einzige Bezugsperson. Aber er ist noch so winzig ...

„Bei uns wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird", sagt eine der Sozialarbeiterinnen.
"Fräulein Kern, warum bitten Sie nicht eine Mitbewohnerin, auf Robi aufzupassen und gehen auch einmal an den Wochenenden abends aus. Zum Tanzen. Bis elf Uhr dürfen Sie ja bleiben. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn sich kein netter junger Mann ..." Und so weiter und so weiter ...
Tatsache ist ... Minou hat keine Lust, auszugehen. Sie kann nicht plötzlich auf ‚frei und für-alles-Neue-empfänglich‘ umschalten und sich einen Geliebten suchen. Auch wenn sie ausgesucht würde. Sie spürt, sie könnte auf keinen eingehen. Dazu fehlt ihr die Kraft. Sie ist in der Seele gelähmt, vielleicht auch so sehr auf ihr ganz bestimmtes Männerbild fixiert, dass alle Mitglieder des anderen Geschlechtes, die hier im Schwabenland unendlich brav - für ihre Begriffe – durchschnittlich und ohne Erotik daherkommen, ihr nichts bedeuten KÖNNEN.

Doch auch unter den Frauen hier fühlt sie sich zunehmend allein. Sie empfinden - so scheint es - nicht wie sie. Sie leben zufrieden und halten das Heim für eine recht gute Übergangslösung ...

Robi wird bestaunt, weil er niedlich, schwarzhaarig und exotisch aussieht und weil sein Vater - das hat sich herumgesprochen - Grieche ist. Für Minou ist er ohnehin das schönste und süßeste Kind von allen. Jeder liebt Robi. Sie selbst aber muss den anderen Mädchen eigenartig erscheinen. Sie mögen Minou nicht. Sie ist komisch. Sie ist ungesellig. Sie hat zu keiner Unternehmung Lust. Nein, sie ist keine von ihnen.

Sie findet keinen Draht zu den anderen. Nicht einmal zu den nächsten Flurnachbarinnen. Auch die Leiterin und die Aufsichtspersonen meidet Minou immer mehr. Sie scheinen in grundverschiedenen Galaxien zu leben, sind ihr in der Seele gleichgültig. Sie ihnen wohl ebenso.
So bleibt sie ziemlich verloren, abgesehen von der Redseligkeit und Aufdringlichkeit einiger weniger superfreundlicher Mädchen, die aber zu jedem freundlich sind und doch keine Wärme geben. Diejenigen, die Minous Zuneigung am Anfang gesucht haben, müssen an ihrem Panzer - von dem sie aber selbst nichts ahnt - abgeprallt sein. Bald ist sie ganz allein.

Samstags, wenn Minou Robi gebadet, gewickelt, gefüttert, ins Sportwägelchen gesetzt hat, geht sie mit ihm einkaufen. Nachher kocht sie für ihn, für sich, macht die Wohnung sauber und nachmittags folgt ein zwei-oder drei-Stunden-Spaziergang draußen in der Natur - Robi gut eingemummelt wieder im offenen Buggy. Er ist noch ganz babyhaft, fängt in der Wohnung gerade an, zu krabbeln ... sie kann sich mit ihm beschäftigen, ihn knuddeln, seine Schönheit bewundern, erstaunt registrieren, wie seine schwarzen Locken von Tag zu Tag dichter und üppiger, seine Augen blauer werden. Er lacht viel, reden kann er ja noch nicht. Abends bleibt sie allein mit dem Kind in ihrem Zimmer. Und Sonntags unternimmt sie auch nicht viel.

Sie malt ein wenig. Ja, sie hat wieder zu malen angefangen ... Aquarell – weil das nicht so viel Dreck und Durcheinander im Zimmer macht wie die Ölmalerei. Und sie liest ... Edgar Allen Poe. Nicht gerade das Geeignete, um eine angekränkelte Seele wirklich aufzurichten. Sie ist meistens müde. Fühlt sich erschöpft.
Ihre große Wunde bleibt. Natürlich liebt sie Robi, aber mit einer traurigen, manchmal hilflosen Liebe. Viel zu häufig - eigentlich immer - denkt sie nämlich an IHN. Ares.

In ihr wächst das Gefühl, gegen ihre inneren Bedürfnisse eingesperrt zu sein. Aber zum Ausbruch ist sie auch nicht fähig ... zu einem Ausbruch, den die anderen Heim-Insassinnen aus Zufriedenheit mit ihrer Lage, gar nicht in Erwägung ziehen. Ja, in dieser Einrichtung lässt es sich, wenn man schlau ist, ziemlich angenehm leben. So lange man die Hausordnung einhält und kein Besucher sich auf dem Zimmer herumtreibt, kneift die Leitung stillschweigend ein Auge zu. Wichtig ist, dass das Finanzielle geregelt, Wohnung und Krippe regelmäßig bezahlt und das Kleine nicht vernachlässigt wird.
Minou hat es längst mitbekommen: man kann die Hausordnung auf vielerlei Art umgehen. Manche Mädchen, die von Eltern oder Freunden regelmäßig Geld zugesteckt bekommen, arbeiten nur halbtags, manche zeitweise überhaupt nicht und bringen trotzdem ihre Kinder morgens in die Krippe und holen sie abends um halb sieben ab – was ihr gutes Recht ist, solange sie für Betreuung zahlen. - So können sie täglich viele Stunden Freiheit herausschinden.

Für Minou treffen diese Erleichterungen und Auswege nicht zu.
Ihr fällt es immer schwerer, mit diesem wunden, bedürftigem Herzen wochentags von morgens bis abends auf dem Amt zu sitzen und die gleichförmigen Fragebögen der Volkszählung vom 6. Juni 1961 auszuwerten. Es geht da um weltbewegende Fragen wie: wieviel Einfamilienhäuser gibt es im Großraum Stuttgart, wieviele davon sind vor, wieviele nach 1945 errichtet, wie hoch ist unter den Bewohnern der Prozentsatz der Selbständigen, der Angestellten, der Arbeiter, der Männer und Frauen, der einzelnen Altersklassen ... Wieviel Wohnungen besitzen Bäder, wie viele haben Balkone und und und ... Ja, furchtbar öd ist der Job, der doch stetige Konzentration erfordert, obwohl ... an die Exaktheit oder Brauchbarkeit der oft von den Bürgern schludrig ausgefüllten Bögen als statistisches Material glaubt hier eh nach einer Weile keiner mehr.

Furchtbar findet Minou im Stift das Herumwursteln in der Gemeinschafts- und doch eigentlich Single-Küche, furchtbar auch die Bet- und Bibelrunden im hauseigenen Versammlungssaal. Ihrem Leben fehlt jede Ekstase, jede Sexualität. Ja, sie fühlt sich geradezu todmatt vor verworrener, unerfüllbarer Leidenschaft zu Ares.

Längst haben sowohl die anderen Mädchen als auch die Sozialarbeiterinnen Minous Isolation und ihre Traurigkeit bemerkt. Sie ist hier tatsächlich die einzige, die nie ausgeht, keine Freundschaften pflegt, keinen Partner hat. Dabei ist sie hübsch, sanftmütig und mit guten Umgangsformen gesegnet. Da hören aber ihre Vorzüge schon auf. Die Heimleiterin, Frau Handke, macht sich langsam Gedanken, wie man dem ganz und gar verloren wirkenden jungen Ding, dem es anscheinend an Vitalität und Belastbarkeit fehlt, doch noch helfen und ihr und dem Kind eine halbwegs angenehme Zukunft schaffen könnte.

Eines Sonntag-Nachmittags kommt also die Heimleiterin zu Minou ins Zimmer. Das hat sie bisher noch nie getan. Sie erklärt, in ihrem Büro sitze gerade Herr Bacher. Minou weiß, von wem sie spricht. Er ist ein alter Herr, den sie hier sehr schätzen, sieht aus wie sechzig, einer der sogenannten Gönner des Stiftes. Sie hatte sich schon gewundert, denn er hatte sie sonderbar intensiv angestarrt, auch anbiedernd begrüßt, wenn sie – wenige Male - auf dem Korridor aneinander vorbei gelaufen waren.

"Fräulein Kern, Sie haben schon bei der Weihnachtsfeier einen großen Eindruck auf ihn gemacht", sagt Frau Handke.

Ach ja, Minou erinnert sich, das war damals im Gemeinschaftsraum gewesen, beim Licht der Christbaumkerzen, als sie vor versammelter Schar das feierliche Evangelium lesen durfte/musste. Und er sie nachher über den grünen Klee gelobt hatte.

Heute habe sich Herr Bacher ein Herz gefasst, sagt die Heimleiterin, und sie um ihre Vermittlung gebeten, denn er wolle ihr einen Job und zusammen mit Robi auch einen Platz in seinem verwaisten Haus anbieten.
„Er ist ein guter Christ und erst seit kurzem verwitwet. Und er hat ganz bestimmt seriöse Absichten. Ein Mann, auf den ich persönlich sehr große Stücke halte“, sagt sie.

Womöglich meint Frau Handke es sogar gut. Minou aber empfindet es als himmelschreiende Zumutung. Sie liebt doch Ares ... wie kann diese Frau es auch nur in Erwägung ziehen, dass sie sich mit einem so alten, schwächlichen NICHTS einlassen soll! Nein ... Minou fühlt sich entsetzlich vor den Kopf gestoßen.

Ach, ach ... irgendwie bekommt sie das ganze Leben nicht mehr in den Griff.

*



Klinik Dr. Binderer

Fast ein Jahr lang versucht Minou, den Anforderungen des Jobs auf dem Statistischen Landesamt und gleichzeitig denen des Klara-Stiftes gerecht zu werden. Mit immer weniger Erfolg. Langsam und schleichend scheint ihre Kraft und ihr Durchhaltevermögen zu schwinden.

Eines Samstag-Nachmittags wird ihr im Gemeinschafts-Badezimmer schlecht. SCHLECHT! Sie fühlt es kommen. Und es geht rasend schnell. Fast gerät ihr Kopf in der Wanne unter Wasser, sie rettet sich aber da heraus. Bricht zusammen. Kracht auf den Steinboden. Seit einiger Zeit hatten sich die 'Kreislaufkrisen' gehäuft, allerdings hatte sie bisher das Absacken in das schwarze Loch, die ganz tiefe Bewusstlosigkeit durch Mobilisieren ihrer letzten Kräfte immer wieder verhindern können. Diesmal nicht. Sie spürt es kommen. Und Todesangst. Dann ist sie weg.

Man findet sie auf den Fliesen, packt sie ins Bett. Eine Ärztin untersucht sie, gibt ihr eine Spritze und Medikamente und schreibt sie erst einmal für eine Woche krank. Die Ruhe und die Medikamente wirken ein wenig. Minou versucht, wieder auf die Beine zu kommen, aber sie bleibt kraftlos. Es geht ihr miserabel. Als ob ein innerer Motor aufgehört habe, die nötigen Umdrehungen zu machen. „Reißen Sie sich zusammen, denken Sie an Ihr Kind ...“, heißt es immer wieder.

Durch mehrere Untersuchungen wird abgeklärt, dass das junge Mädchen unter keiner schwerwiegenden körperlichen Krankheit leidet. Aber was nützt das schon?
Eine Depression wird festgestellt. Wahrscheinlich ausgelöst durch die sie überfordernden Lebensumstände. Womöglich aber auch endogen bedingt, das heißt, ohne äußere Einwirkung, nur vielleicht durch Veranlagung, Disposition. Die Grenzen sind ja so fließend! So etwas kann eine langwierige Sache sein. Dieses Mädchen wird in absehbarer Zukunft in ihrem Job und auch im Klara-Stift nicht mehr funktionieren. Man ist ratlos. Sie war wahrhaftig in letzter Zeit immer dürrer und apathischer geworden und die Sozialarbeiterinnen bestätigen allgemein, dass schon längere Zeit seelisch mit ihr etwas nicht stimme und sie auf undefinierbare Weise krank sei. Die Institution ist für Problemfälle, sprich für psychisch derart angeknackste Mütter, nicht eingerichtet. Was soll man jetzt tun? Nein, es ist nicht möglich, eine, die vielleicht bald samt Kind nur noch eine Belastung sein wird, hier weiter zu behalten.

Da findet sich auch schnell eine Nervenärztin, die feststellt, dass ein Klinikaufenthalt das Beste wäre . Was soll Minou dem noch entgegensetzen? Frau Reidner wird gerufen, die als ihre Freundin und Vertraute gilt, ohne es, von Minous Gefühl her, wirklich zu sein. Frau Reidner überredet die inzwischen ohnehin Willenlose, sich in stationärer Behandlung Fachleuten anzuvertrauen, die ihr helfen können. Es ist keine Zwangseinweisung, das wird noch einmal klar betont. Minou erklärt sich selbst dazu bereit.

Frau Reidner hilft ihr, ein paar Sachen zusammenzupacken. Robi sei in guten Händen ... Fräulein Bergsteig, eine hauseigene Sozialarbeiterin, kümmere sich genau so um ihn, wie Minou es bisher getan habe. Ansonsten sei ja wie immer die Krippe für ihn da. Ihr Zimmer warte natürlich auch weiterhin auf sie, versichert Frau Reidner. Minou ist so matt an Körper und Seele und auch im Kopf, dass sie schon gar nicht mehr fähig ist, sich gegen das, was auf sie zukommt, zu wehren. Ja die beste Lösung ist eine Klinik. So denkt sie auch.

Am nächsten Morgen bringt Frau Reidner sie also mit dem Zug zu dieser kleinen Stadt in der Umgebung Stuttgarts und kurz vor Mittag kommen sie in der Nervenheilanstalt Dr.Binderer an, die malerisch im Grünen gelegen ist. Minou wird in einem Riesensaal voller sonderbarer Frauengestalten - so leblose Leute hat sie noch nie gesehen - ein Bett angewiesen und ein Spind. Sie muss dann in einem Aufenthaltsraum Etiketten in ihre Kleider und Wäsche einnähen, bekommt später noch etwas zu essen und ein paar Medikamente ... und was dann geschieht, weiß sie nicht mehr.

Danach sind mehrere Tage aus Minous Gedächtnis gelöscht. ( Viele Jahre später wird sie auf Anfrage erfahren, dass man sie in einen medikamentösen Tiefschlaf versetzt hat. So steht es in der Krankenakte. Man wird ihr aber versichern, dass es für sie keine Elektroschocks gegeben hätte ).
Sie wacht also in diesem riesigen Saal auf und da stehen vier oder fünf extrem gut gelaunte Weißbekittelte um sie herum und fragen locker, ob sie jetzt ausgeschlafen habe oder so was Dummes. Sie tun unsagbar jovial und sie, die kleine Blöde, fühlt sich recht frisch und FREUT sich auch noch über die Aufmerksamkeit.

Dann die Erkenntnis: am Montag ist sie angekommen. Jetzt ist aber Donnerstag.

Und dann geht das Wort ‚Elektroschock‘ irgendwann auf der Abteilung um. Nie hat Minou im Leben von so etwas gehört. Und hier scheinen manche Mitpatienten sie zu bekommen.
Woher weiß ich, dass man sie mir nicht auch verpasst hat, denkt Minou und fällt vor Entsetzen fast um.
„Nein, nein, keineswegs“, versichern ihr die Ärzte unisono bei der nächsten Visite. Warum man sie selbst ‚ruhig stellte‘, hätte Minou auch gern gewusst. Weder im Klara-Stift, noch bei der Einlieferung in die Klinik ist sie aufbrausend oder aggressiv gewesen, auch nie durch besonders verrücktes Verhalten aufgefallen. Das bestätigt ihr sogar Frau Reidner, als Minou sie bei ihrem ersten Besuch danach fragt.
„Was die da machen, ist alles Klinik-Routine“, sagt die Frau von der Bahnhofsmission.
Minou muss aber zugeben: sie war im Klara-Stift – und ist auch jetzt noch - ständig traurig, hat keine Lust, irgend etwas zu tun und weint extrem viel, was ja, wenn man ehrlich sein will, auch schon unnormal genug ist.

Frau Reidner kommt sie Wochen später nochmal besuchen. Auf Minous beklommene Frage, warum denn Robi nicht dabei sei, wo sie doch am Telefon mehrmals darum gebeten habe, macht die Frau Ausflüchte. Es sei nicht gut für das Kind und noch weniger für sie ... zu diesem Zeitpunkt ... und dass die Ärzte das auch so einschätzten und bla ... bla ...
Eigentlich hab ich Frau Reidner nie wirklich gemocht, denkt Minou. Und es ist ihr vollkommen egal, ob sie wiederkommt oder nicht.

Dreimal am Tag bekommt sie jeweils fünf verschiedenfarbige Pillen auf einem Löffel von einer Schwester direkt in den Mund 'serviert.' Danach passt die Schwester auf, dass sie mindestens ein halbes Glas Flüssigkeit nachtrinkt. So kann man die Dinger nicht im Mund behalten und später in die Toilette spucken. Es ist also absolut unmöglich, diese Pillen NICHT zu schlucken. Manchmal, sehr selten, sperrt sich eine neu eingelieferte Patientin, wenn sie ihr mit dem Löffel kommen. Dann kriegt sie die Medizin eben als Injektion verpasst oder sie gibt klein bei und lässt sie sich doch lieber oral eintrichtern. Minou weigert sich gar nicht erst. Fragt auch nie, was es genau ist, das sie da nehmen muss. Sie weiß es bis heute nicht.

Abends gibt es zum Schlafen ein kleines Glas 'Paraldehyd'. Diesen Namen vergisst Minou nicht, weil die Mitpatienten das Mittel auch fürchten und oft davon sprechen. Es riecht wie Narkose-Äther und schmeckt scheußlich. Wie Gift, gegen das ihr Magen, gegen das ihr ganzer Körper rebelliert. Sie trinkt es mit dem größten Grauen. Aber sie trinkt es. Eine Schwester steht nämlich immer daneben. "Sie wollen doch gesund werden!" Ja, Minou WILL gesund werden. Kommt nicht auf den Gedanken, sich aufzulehnen. Danach schläft man tief. Ganz schnell ist man weg.

Wie gesagt, was sie ihr an Medikamenten wirklich geben, weiß sie nicht. Sie ist willenlos und vertraut denen. Irgendwie. Es gibt da auch einen jungen, hoch gewachsenen, rotblonden Arzt, Dr. Marburger. Er ist schön, sieht ziemlich robust und 'keltisch' aus und er vermittelt Minou das Gefühl, dass er sie gut leiden kann.

Einmal will er, dass sie sich für eine nötige neurologische Untersuchung nackt auszieht. Sogar das Höschen und alles. Er fasst ihren Körper an vielen Stellen an, beklopft ihn teils mit Hämmerchen, teils ohne, aber berührt ihn nicht auf unzüchtige Art. Immer in den Grenzen des Erlaubten. Und er unterhält sich lange mit ihr. Sie kann ihm ihre Probleme sagen, ihr Herz ausschütten und ist von seinem Interesse warm berührt. Er ist ein so überlegener Mann. Er schreibt einen Bericht, der sie aus dem Zwanzig-Betten-Saal herausbringt und dafür sorgt, dass sie auf eine andere Abteilung, in ein Zweibettzimmer, verlegt wird.

Jede Woche hat sie zwei Therapiestunden bei ihm.
Er sagt ihr, sie dürfe nicht so sehr um Ares trauern. Er sei nichts Besonderes gewesen. Er selbst habe vor kurzem Nachforschungen über ihn angestellt. Minou versucht, sich das vorzustellen: ER hat Nachforschungen über Ares angestellt! So viel ist ihm ihr Schicksal, soviel ist SIE ihm wert!

„Also dieser Janopoulos ... er hat hier und da Artikel geschrieben ..."

"Auch für deutsche Zeitungen, wo doch Griechisch seine Muttersprache ist", wirft sie stolz ein.

"Na ja, im Grunde ist er nichts als ein Schreiberling ... ich meine, ich will Ihnen nur klar machen: der Journalistenberuf ist kein wirklich angesehener auf der gesellschaftlichen Werteskala, das scheinen Sie irgendwie ganz falsch zu sehen“, sagt der Doktor ... "Sie überhöhen diesen Mann in ihren Gedanken maßlos, bauen ihn zum Halbgott auf. Dabei gibt es absolut keinen Grund, ihn so in den Himmel zu heben. Sie müssen ihn, der definitiv auch noch an Don- Juanismus - chronischer Untreue - leidet, so schnell wie möglich aus ihren Gedanken verbannen, wenn Sie wieder gesund werden wollen."

Ja, dieser Arzt scheint an Minous Schicksal großen Anteil zu nehmen.
"Ach", ruft er eines Tages pathetisch aus, "wie gern möchte ich Ihr Erziehungsberechtigter sein!"

Da bildet sie sich ein, dass er etwas ‚Tieferes‘ für sie empfindet. Warum würde jemand sonst so etwas sagen! Es ist ihr, als habe er angeboten, sich um sie zu 'kümmern', ihr Schicksal in seine erfahrenen Hände zu nehmen. In Minou baut sich eine neue, wenn auch noch zaghafte Hoffnung auf. Und es geht ihr schon besser. Vielleicht hat sie ja in dem Doktor jemanden gefunden, der ihre verwirrte, kleine Seele unter seine Fittiche nehmen wird.

Einmal, als sie bei ihm in der Therapiestunde sitzt und gerade aufgelöst und wie immer mit feuchten Augen und stammelnd ihre unvergängliche Liebe zu dem herrlichen Ares zu schildern versucht - jedes Wort ist von ihr todernst und wahr gemeint, während Dr. Marburger - der auch im gewissen Sinn Wunderbare - ihr aufmerksam und mit kleinem Lächeln zuhört, da stürmt plötzlich die Oberärztin herein, eine zirka fünfundvierzigjährige, flotte Person ... attraktiv in Stöckelsandaletten und weißem Arztkittel und zehn Jahre älter als der Doktor. Die Medizinerin - dienstlich seine Vorgesetzte - befiehlt hektisch, er müsse ‚das hier‘ jetzt augenblicklich abbrechen, denn man brauche ihn ganz dringend auf Station XYZ. Da die Stunde erst angefangen hat, bittet Dr. Marburger Minou, auf ihn zu warten.

Minuten später kommt aber ein anderer Arzt ins Therapie-Zimmer, ein ihr vollkommen Unbekannter. Er sei von jetzt ab für sie da, sagt er. Dr. Marburger aber, den sie schon als Freund und Retter ihrer Seele betrachtete, ist von da an nicht mehr für sie zuständig. Die aufgekeimte Hoffnung auf Hilfe und menschliche Geborgenheit ist in sich zusammengebrochen und Minous Verunsicherung total.

Alle in der Klinik wissen, dass der junge Arzt und die Oberärztin ‚liiert‘ sind. Nur Minou weiß es an dem Tag noch nicht. Irgendwann erfährt sie es dann von den Mitpatienten.

Dr. Marburger hat ihr einmal einen Band mit Rilke-Gedichten geliehen, der ihr auf seinem Bücherbord ins Auge gefallen war.
"Behalten sie ihn ganz, wenn er Ihnen Freude macht", hatte er später lächelnd gesagt. So wandert sie jetzt - häufig unter heißen Tränen - stundenlang im Wald umher ... Ihr tablettenbehandeltes Hirn saugt Rilkes Poesie auf wie ein Schwamm. Sie fühlt sich so eins mit dem Dichter und seinem herrlichen Werk, dass sie manchmal in die hellste Euphorie entschwebt. Viele Verse kennt sie inzwischen auswendig und rezitiert sie leidenschaftlich vor sich hin, dort draußen, weit weg von der Klinik, allein mit Bäumen und Himmel. Da fühlt sie sich so erhaben, so besonders, so abgelöst von all den banalen Problemen ihres Aufenthaltes hier, dass sie vor Rührung und Ergriffenheit gar nicht mehr aus dem Weinen herausfindet.

Manchmal kommt ihr von weitem der schöne, feuermähnige Arzt in wehendem, weißem Mantel inmitten einer plaudernden Teenie-Gruppe entgegengeschritten. Er betreut nämlich auch die Patient(innen) aus der Jugendpsychiatrie - Privatpatienten - die in einer, vom Haupttrakt entfernt liegenden, kleinen Villa untergebracht sind. Dann nimmt Minou schnell über einen anderen Waldpfad Reißaus. Sie will ihm nicht über den Weg laufen.


*

Minou bekommt Robi während ihres Aufenthalts in der Klinik nie zu sehen. Und auch nicht eine einzige Mitbewohnerin oder Sozialarbeiterin aus dem Klara-Stift kommt sie besuchen. Dafür aber erscheinen ganz unverhofft Kollegen und Kolleginnen vom Statistischen Landesamt ... immer in Grüppchen von zwei, drei Leuten. Sie fängt an, die Sonntag-Nachmittage zu fürchten, weil sie im Inneren schrecklich verunsichert und der 'Anteilnahme' überhaupt nicht gewachsen ist. Inzwischen fühlt sie sich wie aus dem normalen Leben ausgespuckt, minderwertig und wirklich verrückt in dieser Umgebung und in dieser Situation - die sie den anderen so gern erklärt hätte, was sie aber nicht kann. Ach, wenn sie in der Seele nur nicht so müde und dumpf wäre, vollgepumpt mit Medikamenten wie sie nun einmal ist! O würde doch niemand sie mehr besuchen kommen! Sie schämt sich so. Längst ist ihr jede Selbstsicherheit verloren gegangen.

Franz Munk, Rudi Klemper und Mara Meinhold kommen auch zu ihr und sie sitzen nachher zu viert in einem Waldcafé nahe bei der Klinik. Die Situation ist angespannt und sonderbar verquer. Dabei stehen diese Leute Minou näher als die anderen, haben sie doch mit ihr gemeinsam im gleichen Bürozimmer gearbeitet, jeden Tag Unmengen Kaffee getrunken, mehr oder weniger Kette geraucht ( Minou weniger ) und sich ab und zu durch Galgenhumor und Clownerien miteinander den Statistikfrust von der Seele gealbert. ( Minou weniger )

Franz ist ein lieber Junge von fünfundzwanzig, dessen einzige Bezugsperson seine gluckenhafte Mutter ist, die ihn oft nach Dienstschluss abholt. Franz hat nicht einen niederträchtigen Knochen im Leib, sagte irgendwann einmal jemand.

Mara ist sechsundvierzig, kinderlos, Witwe, teuer parfümiert, duftend und attraktiv von Kopf bis zu den gepflegten Zehen in schicken Sommerstöckeln, immer in Schwarz gekleidet - was ihr sehr gut steht, sodass ihre in Maßen füllige Figur – mit Hilfe von Korsetts - Minou weiß es, man hat ja schließlich im Büro über so ziemlich alles gesprochen - geradezu ideal wirkt. Ihr gut zurechtgemachtes Gesicht zeigt tiefe Spuren vom Lebenskampf, aber das rotblonde Lockenköpfchen - wöchentlich frisch und frech vom Frisör gestylt - macht das wieder wett und ist ihr spezielles Leuchtsignal. Mara versucht, den Tod ihres Mannes - in vielerlei Hinsicht - zu verkraften und das mit Erfolg. Nach fünfundzwanzigjährigem Nur-Hausfrauen-Dasein steht sie nun auch zum ersten Mal wieder im Berufsleben.

Last, but not least Rudi Klemper (49 ) Dr. Rudi Klemper, bitte ... und ... obwohl er am Anfang wie ein gewöhnlicher Angestellter in Minous Büro saß, wurde er nach wenigen Monaten zum Abteilungsleiter und Koordinator der Volkszählungsangelegenheit im Haus bestimmt. Jeder auf dem Amt weiß, dass er überqualifiziert ist - oder gar nicht qualifiziert. Wie man es nimmt! Dr. Klemper, aus politischen Gründen gerade noch in letzter Minute vor dem Mauerbau aus Dresden/ DDR in den Westen geflüchtet, ist Frauenarzt und geschieden, wie er sagt. Nun wartet er auf die Anerkennung seiner Approbation, um bald wieder praktizieren zu können. In der Zwischenzeit muss er eben berufsfern sein Brot verdienen.

Dr. Klemper sei - so sagen die Amtskollegen laut - 'kein Kostverächter.' Stimmt. Er ist der absolute Hahn im Korb unter den Mitarbeiterinnen. Sie umwuseln ihn auf Teufel komm heraus. Mit Mara ging er ins Bett. Danach mit einer aus der zweiten Etage. Dann wieder mit Mara. Und anderen. Seine Ex-Ehefrau und die 16-jährige Tochter hat er in der DDR zurückgelassen. Die Ehe war aber schon vorher zerbrochen. Klar ... er ist ja geschieden. Bald weiß jeder so ziemlich alles über ihn. Lässig zeigt er Glanzfotos herum: seine Praxisräume, seine drei Sprechstundenhelferinnen.

Mag Minou diese seine Adlernase, seinen schmalen Mund, das kantige Nord-Rasse-Gesicht, auf dessen kargen, gut geschnittenen Zügen sonderbarerweise häufig eine Art schwerenöterhafte Röte liegt, die ihr gar nicht gefällt? Das sieht manchmal fast wie Schamröte aus, gerade wenn er sich so unglaublich souverän gibt. Mag sie sein drahtiges, grau-gesträhntes Haar, seine grobknochige Ein-Meter-fünfundneunzig- Gestalt und seinen ebenso gemütlich, wie ( ihrer Meinung nach ) misstönenden, sächsischen Akzent? Nein ... sie mag den Mann nicht wirklich. Irgendwie wirkt er schon imposant und sehr außerhalb der Norm, eine auffallende Erscheinung ganz bestimmt, aber ... für sie nicht wirklich anziehend. Sie will sich gar nicht vorstellen, wie sein massiger Körper unter dem gut geschneiderten Anzug in Wahrheit aussieht. Er ist ... fast fünfzig und wirkt eher älter. Und da ist diese andauernde Ironie in seiner Art, die er unter Jovialität und ... na ja ... seinem offensichtlich testosterongesteuerten Anmach-Charme immer recht gut versteckt. Und diesen Charme spielt er auch bei Minou aus, bei ihr allerdings gepaart mit väterlichem Überlegenheits- und Beschützergehabe.

Also ... Minou mochte ihn nicht, damals auf dem Amt ... oder nur mit großen Vorbehalten. Dennoch ärgerte es sie, wenn sie zusehen musste, wie die Mitarbeiterinnen sich ihm dümmlich anbiederten, woran allein er schuld war, weil er sie mit seiner distanzlosen, auch neugierigen Art, geradezu herausforderte.

Manchmal wäre sie gern mehr und ausschließlicher von ihm beachtet worden, aber dann wünschte sie es auch wieder nicht, zumindest nicht genug, als dass sie irgend etwas dafür getan hätte. Nein ... so viel hatte sie für ihn nicht übrig.

Nun sitzt Minou ihm also im Café sehr unsicher gegenüber. Aber Maras warme Gegenwart, ihre wohlriechende weibliche Nähe ist ihr sehr angenehm. Und der Junge wirkt auf sie unbeängstigend, neutral.

*

"Dr. Klemper wird in meiner Lebensgeschichte noch eine Rolle spielen", sagt Minou Jahre später zu Dr. Goldberg, ihrem Telefontherapeuten, und dass sie jetzt schneller, komprimierter erzählen wolle, sonst käme sie nicht mehr vorwärts und da sei ja noch so vieles ... Also:

"Wie ich nach zirka fünf Monaten aus der Klinik entlassen werde", sagt sie, "ist mein Zimmer im Klara-Stift längst geräumt und weiter vermietet, mein Krempel in einen Abstellraum ausgelagert. Meinen Job auf dem Statistischen Landesamt hatte ich irgendwann in der Zwischenzeit gekündigt oder bin gekündigt worden ... ich weiß es nicht mehr ... es ist mir ziemlich gleichgültig ... die Ärzte hatten ohnehin geraten, dort aufzuhören.

Ich bin jetzt von Psychopharmaka abhängig. Einige hat man - wie man das nennt - ausschleichen lassen, andere muss ich weiterhin nehmen. Die Tragweite ist mir da noch nicht bewusst ... obwohl ... eines ist klar: mein System hat sich inzwischen auf diese Mittel eingestellt. Ich merke das, wenn ich sie einmal vergesse. Ich MÜSSE sie unbedingt regelmäßig schlucken, haben die Ärzte gesagt, sonst würde ich körperlich und psychisch zusammenbrechen.

"Sie sind wieder gesund", heißt es also auf einmal in der Klinik und man gibt mir ein paar Mal vom Morgen bis zum Abend Ausgang, um nach Stuttgart zu fahren und mir ein Zimmer und Arbeit zu suchen.
Trotz stetigem Herzrasen, Kreislaufproblemen und der Tatsache, dass ich mich gesundheitlich überhaupt noch nicht gut fühle, finde ich schon zum nächsten Monatsersten ein Zimmer und einen Job. Einfach so ... aus der Zeitung.

Vom Zimmer werde ich später noch reden. Der Job. Also ... auf eine Annonce des Kaufhauses Breuninger in Stuttgart, in der fest angestellte Haus-Mannequins gesucht werden, melde ich mich. Einfach so. Wie Sie sehen, Herr Dr. Goldberg, habe ich meinen Traum von einem Leben in Schönheit noch nicht aufgegeben. Man stellt mich tatsächlich ein. Ich habe nicht damit gerechnet, aber man nimmt mich, die mit Tabletten Vollgepumpte, Ungefestigte. Ich bin unter über hundert Bewerberinnen eine von zwölf, die die Stelle bekommen. Eigentlich ein Zeichen dafür, wie gut ich mein Elend überspielen kann."

"Na ja, Sie sehen das heute aus Ihrer depressiven Stimmung heraus so ... wahrscheinlich hatten Sie damals doch Kraft und Elan!"
"NEIN!
Nein ... obwohl der Job angenehm ist und die Bezahlung auch stimmt, komme ich nicht richtig auf die Beine. Das Leben - jeder Tag davon - fällt mir sehr schwer. Schon beim Aufstehen, packt mich die Angst, den Tag nicht zu meistern.



Dass Robi längst nicht mehr im Mutter-Kind-Heim auf mich wartet, hab ich schon seit längerem gewusst. Aber mein Halb-Betäubt-Sein hatte mir die Realität gnädig weich gezeichnet. Die ganze Wahrheit überfällt mich erst jetzt, als man mich auf einmal wie in einen Platzregen wieder ins Leben hinausstößt.


Ich fahre also ins Klara-Stift, um meine ausgelagerten Sachen zu holen, und sie per Taxe in die neue Wohnung zu bringen. Da sagen mir die früheren Mitbewohnerinnen, ich sei verändert. Nicht im Aussehen. Aber im Wesen. Ja, ich habe es selbst schon bemerkt: meine Worte strömen wie aus einem Wasserhahn, den man nicht abdrehen kann. Redeschwälle, Redeschwälle brechen mir ohne mein Zutun aus dem Mund. Meine Stimme ist auf einmal hektisch, hell, schrill, wo man doch immer gesagt hat, dass sie melodisch, dunkel und warm klänge. Ich bin von diesem sonderbaren, neuen Phänomen entsetzt und kann es doch nicht abstellen.
Ich bin jetzt so durchgedreht, wie nie zuvor.
Mit Robi ist folgendes geschehen: Kurz nach meiner Klinikeinlieferung hat ein kinderloses Paar um die Dreißig ihn in Pflege genommen. Sie wollten aber von Anfang an ein Kind für IMMER. Es schien, als habe ihnen Frau Reidner eine Adoption in Aussicht gestellt, obwohl sie mir nie mit einem solchen Ansinnen gekommen war. Ich will nicht abstreiten, dass sie dabei womöglich an das Wohl Robis und des Ehepaares gedacht hatte. Frau Reidner war eine, die bestimmt das Gute wollte. Das Gute. Machte sie dem Paar Hoffnung? Sollte Robi sich an die 'neue Mutter' gewöhnen? Das würde erklären, warum man ihn mir während meines Klinikaufenthaltes nicht ein einziges Mal brachte.

Ich fragte dann während der Zeit dort auch nicht mehr oft nach ihm. Langsam kroch Lähmung in mir auf. Frau Reidner, die mich noch zweimal besuchte, sagte, ich könne ganz ruhig sein, es gehe ihm gut. Ich - mit Psychotabletten vollgepumpt, durchlebte eher zombihaft meine Tage und litt nicht einmal mehr besonders unter Robis Abwesenheit.

Herr Dr. Goldberg", sagt Minou, "als ich wieder draußen war, später, erfuhr ich vage, dass das Jugendamt Stuttgart sich geweigert hatte, bei diesem sonderbaren Adoptionsgesuch hinter dem Rücken einer dann doch nicht ‚soo kranken Mutter' mitzumachen. Niemand hatte gewagt, mir irgendwelche Papiere vorzulegen, weil sie wohl wussten, dass ich sie nie unterschreiben würde. So hatte das Ehepaar die Unerfüllbarkeit seiner Hoffnung rechtzeitig eingesehen. Und weil die Frau mit dem Babywunsch Robi schon nach kurzer Zeit innig ins Herz geschlossen hatte - wie sie sagte - und sich nicht noch mehr an ihn gewöhnen wollte, um ihn später doch wieder hergeben zu müssen, hielten sie und ihr Mann es für besser, ihn nicht weiter zu behalten und das Augenmerk auf ein WIRKLICH zur Adoption freigegebenes Kind zu lenken."

*

Jetzt kommt Robi in eine REGELRECHTE Pflegefamilie nach Bad Cannstatt, zu einer professionellen Pflegemutter, die schon jahrelange Erfahrung mit dieser Tätigkeit hat. Das geschieht alles noch während Minous Aufenthalt in den Kliniken Dr. Binderer.

Als sie Robi zum ersten Mal in dieser Familie besucht, kommt ihr eine stämmige, matronenhafte Hausfrau in grellbunter Kittelschürze aus ihrem schwäbischen Einfamilienhäusle durch das schön gepflegte Gärtchen entgegen, eine, die nur bedingt freundlich ist und durch Minous Anblick, durch den Stoffhasen und die Schokokekse, die sie für Robi dabei hat ... irgendwie ... gereizt scheint. Und Robi – ihr Robi – der ja immer noch nicht sprechen kann, erkennt sie nicht mehr wirklich. Oder? Und mit ihm allein zu sein oder ihn nach draußen zum Spazierengehen mitzunehmen, geht auch nicht ... er sei erkältet, heißt es ...

*

Der ( Glamour ) Job

Im Erdgeschoss des großen Kaufhauses Breuninger sind einige Schaufenster als Laufsteg hergerichtet. Dort führt Minou abwechselnd im Reigen mit den anderen Kolleginnen Kleider, Jacken, Mäntel vor ... Garderobe 'pret à porter', die im Haus dann in allen Größen - bis hin zu Matronenzelten - käuflich zu erwerben ist.

Unter neuester Schlagerhit-Beschallung tänzeln die Mädchen einzeln durchs Fenster. Das jeweilige Preisschild für das zur Schau gestellte Outfit tragen sie lässig vor sich her ... da weiß man wenigstens, wohin mit den Händen. 'Morgenmantel Organza 45 DM. Hosenanzug reine Baumwolle - unschlagbarer Sonderpreis - nur 35 -.

Minou ist also auf hochhackigen Pumps stöckelnd, Pirouetten drehend, jedesmal für eine Weile mit den gaffenden Zuschauern allein und sie lächel-grinst ... was bleibt ihr sonst übrig? Charme soll sie verströmen, hat man ihr eingeschärft. Launische Zurufe von Witzbolden, wildes Gestikulieren, sowie das An-die-Scheiben-Klopfen allzu Übermütiger sind mit Grandezza zu ignorieren.

Jeder, der am Hauptbahnhof ankommt und in die Stadtmitte möchte - auch der mit dem Zug wieder heimfährt - muss an Minous neuem Wirkungsplatz vorbei und lässt sich eine solch nette Volksbelustigung natürlich nicht entgehen, darunter ganze schwäbische Landfrauenvereine auf rarer Einkaufsfahrt in die Metropole, Schulkinder, Teenager, Angestellte auf dem Weg zu oder von ihrem Tagwerk, aber auch Gammler und Penner, die ohnehin in der Nähe lagern und nichts besseres zu tun haben.

Dem großen Interesse und den stetigen Menschenaufläufen draußen entnimmt Minou, dass diese herrliche Veranstaltung eine erst kürzlich Erdachte sein muss.

Meistens ist sie froh, wenn ihr von vorne im Schaufenster eine Kollegin entgegen tänzelt und sie ablöst. Dann kann sie sich für fünfzehn Minuten entspannen, bis sie, in einem anderen Kleidungsstück prangend, wieder hinaus muss.
Manchmal ist es aber auch ganz lustig. Wenn einer ihrer Lieblingsschlager vom Band tönt, wenn die Leute ihr interessiert zuschauen und sie sich auch kreislaufmäßig stabil fühlt, spürt Minou, wie sie schwunghaft mitgerissen wird und wie plötzlich ALLES irgendwie doch stimmt. Dann genießt sie ihr Tun ... Ab und zu ...


*

Als es dann Frühling und Sommer wird, führen die Mädchen die Kleidermodelle zusätzlich auf dem eleganten Dachrestaurant des Kaufhauses vor, wo sie sich unter freiem Himmel auf einem genau angegebenen Weg zwischen den weiß gedeckten Tischen durchschlängeln und Mode ... auch die neuesten Hüte ... ins rechte (Sonnen)licht rücken müssen. Da sieht Minou die Bewunderung vor allem der einfachen Frauen vom Land und hört - HAHA - wenn ab und zu eine zu ihrem Kind sagt: "Guck mal, die besonders schöne Dame ..." oder: "sieht die Tante da nicht wie eine ... Prinzessin aus" ...während so ein Kind mit großen Augen interessiert zu Minou hochschielt und sich sein Teil denkt. Sahnetorte-schlemmende Mütter bewundern Hungerhaken ... das ist nun einmal so.

Stolzer ist sie da schon, wenn die Blicke von attraktiven Männern auf ihr haften. Obwohl sie lang schon nur noch Zaungäste sind in ihrem Leben ... sie findet keinen Zugang zu irgend jemandem ... Nähe ausgeschlossen.

Purer Stress ist es für sie auch, mittags in der überfüllten Personalkantine zu essen, wo die Mannequins so etwas wie kleine Stars sind, denen man gern ein Extra-Salätchen würzt. Unter der Aufmerksamkeit männlicher Mitangestellter hätte Minou selbstbewusster werden können, wenn sie sich nicht immer matt und wie am Ende ihrer Kraft fühlte. Wirklich ... das Leben fällt ihr ( meistens ) extrem schwer. Zu jener Zeit ist sie nicht einmal im Stande, mehr als ein oberflächliches Gespräch mit jemandem zu führen und schon das ermüdet sie in der Seele. Und sie nimmt noch immer brav ihre Tabletten.

*

Hübsch anzusehen, frisch, natürlich, aber keine auffallenden Paradiesvögel sollen die Mädchen sein, die als Aushängeschild für die Firma Breuninger fungieren. Wie nette Nachbarinnen von nebenan eben. Mit ihnen sollen sich alle Kundinnen – auch die einfachen Hausfrauen vom Land – noch halbwegs identifizieren können.

Der Umgang der jungen Mannequins untereinander im Aufenthaltsraum ist locker und endlos schwatzhaft. Doch Minou fühlt sich als  Außenseiterin, glaubt die Wand zu spüren, die sie von den Kolleginnen trennt, weil auch ihre Situation nicht mit der der anderen vergleichbar ist. Diese jungen Frauen sind entweder verheiratet oder sie leben noch bei den Eltern. Nur sie ist ohne Familie und wohnt allein. Wenn‘s um Häusliches geht, Rezepte, Feiern, Verwandtschafts- und Familienprobleme und so ... da kann sie nicht mitreden. Auch ist  sie  die einzige Nicht-Schwäbin ...  eine, die anders spricht. Die Kolleginnen werden abends abgeholt oder fahren mit dem Bus in ihre beschützte, schwäbische Haus- und Gartenheimat, aus der sie am anderen Morgen wieder frisch aufgetankt, voller Lebensfreude und Spannkraft zurückkommen. Sie scheinen satt und zufrieden mit ihrem Leben, so wie es jetzt ist. Einige wenige haben aber auch Karriere-Ambitionen. Eine wird sogar in Kürze bei Breuninger aufhören, weil sie gerade eine Schönheitskonkurrenz gewonnen und eine Agentur sie nach New York verpflichtet hat.

Minou ist einsam. Na ja, im Haus Breuninger gibt es junge Männer, die sich für sie interessieren. Manchmal zwingt sie sich, eine Abendessen-Einladung anzunehmen. Zum Tanzen-Gehen mit einem Typen rafft sie sich schon weniger gern auf ... sie lässt sich nicht berühren, nicht einmal küssen. Ihr Herz ist fern. Sie denkt nach so einem Date, dass sie das besser nicht getan hätte, es ist so bedeutungslos, aber – sie will doch kein Mauerblümchen werden. Die ledigen Kolleginnen haben ein abwechslungsreiches Privatleben und beobachten Minous Tun interessiert. Wie gesagt: Sie gibt sich ‚normal‘. Doch die ‚Verehrer‘ bleiben ihr nicht nur körperlich, sondern auch im Inneren fremd ... schlimmer, ihr wird übel in ihrer Gesellschaft ... sie ist froh, wenn sie wieder allein sein kann. Was soll das alles? Sie fühlt nichts. Nichts. Nichts. Nur dieses innere Unwohlsein.

"Du bist viel zu gedrückt, du solltest mehr flirten", sagt eine der verheirateten Kolleginnen, als sie allein am Tisch in der Kantine sitzen, "guck mal, der Macker vom Einkauf - er ist übrigens noch ledig - starrt die ganze Zeit fasziniert herüber! Warum machst du ihn nicht richtig verrückt? Könntest dich auch notfalls verstellen ... die ganze Welt ist ein Theater."

Aber Minou kann nicht spielen. Sie kann niemanden verrückt machen. Nichts geht mehr. Mühsam schafft sie gerade noch den Job. Sie hat nicht einmal die Kraft oder das Know-How,  eine harmlose Kumpanei oder auch nur eine kleine Freundschaft aufzubauen.

Aber einem gelingt es, ihr etwas näher zu kommen: Dr. Klemper. Nicht, weil sie es körperlich oder in der Seele möchte – ihre Seele ist ohnehin gelähmt. Eher, weil er nicht locker lässt. Und weil sie ihn für einen Felsen in der Brandung und seine breiten Schultern für ein Bollwerk gegen die Stürme des Lebens hält.  
 Er bemüht sich um sie. Manchmal mehr, manchmal weniger. Er hat einige Eisen im Feuer. Ein stets mit Frauen beschäftigter Mann.

Minou wohnt seit ihrer Entlassung aus der Psychiatrie hoch oben im Grüngürtel über der Stadt, in einer schmucken Wohnsiedlung mit lauter schwäbischen Bilderbuch-Häusle, wo die Keramikzwerge schön bunt aus den Vorgärten grinsen.

Eines Tages – man hatte ihr in der Klinik frei gegeben - war sie mit dem Zug nach Stuttgart gefahren und dann mit dem Bus zu einer Adresse, die sie in  der Zeitung gefunden  hatte. Der Hausbesitzer, Siegfried, war extrem jung, neunzehn, wie sich bald herausstellte, ein hochaufgeschossener, magerer Bursche, der mit seiner alten Tante zusammen lebte. Im Dachgeschoss gab es ein großes, separates, hübsch renoviertes Zimmer mit Dusche. Minou war sofort klar: die hexenhafte Tante fungierte als Vormund und Gedankengeberin des jungen Hausbesitzers. Und sie war plaudersam. Schon nach wenigen Minuten wusste Minou alles über Siegfried. Er war Halbwaise, die Eltern kurz nacheinander gestorben, als er sechs Jahre alt war. Seither kümmerte Tantchen sich um ihn. Minou staunte nicht, als man ihr sagte, dass sie das Zimmer auf Anhieb bekommen könne. Man würde die anderen Interessenten wegschicken. Ihre beiden Möchte-gern-Vermieter kamen ihr von Anfang an ... leicht sonderbar vor, aber als die Tante, auf Anregung des Neffen, die ohnehin geringe Monatsmiete noch um ein Drittel kürzte, damit sie nur ja nicht ‚nein‘ sagen sollte, da griff Minou doch zu und war sogar kindlich erfreut.

Klar, dieser Junge war ihr von Anfang an ... merkwürdig unselbständig und doch starrköpfig erschienen – sie hätte das Zimmer besser nicht nehmen sollen, aber jetzt ist es zu spät ...

Siegfried hat anscheinend sonst keine Verwandten und keine Kontakte zu Gleichaltrigen ... Alles was er besitzt, Haus- und Grundstück, vielleicht auch Geld, ist von seinen Eltern ererbt. Berufstätig ist er nicht, auf eine fortbildende Schule geht er auch nicht ... ein Junge mit extrem viel Freizeit, ein Bastler und Tüftler.

Er setzt Minou zu. Er beschleicht sie. Taucht unerwartet zu sonderbaren Zeiten auf ihrem Flur auf.

In mir scheint er eine ähnlich Einsame, Bedürftige zu sehen, eine verwandte Seele ... und dass wir deshalb zusammen harmonieren, wird er sich wohl denken, meint sie. Denn Siegfried sagt einmal  - aus heiterem Himmel - dass sie sich doch ZUSAMMENTUN könnten, sozusagen zu dritt mit Robi gegen den Rest der Welt. Dabei bekommt er Robi nur flüchtig zu sehen, wenn dieser am Wochenende bei ihr ist. Denn Minou hält sich von Siegfried fern. Dass sie ein Kind hat, scheint ihm zu gefallen. Eine junge Mutter passt anscheinend gut in seine Träume. Vielleicht sehnt er sich nach einer Familie. Dass er in sie verliebt sein könnte, kommt Minou nicht in den Sinn. Minou hat im Leben schon so viele Männerwünsche gehört und sie nicht für bare Münze gehalten. Sie nimmt die Sache nicht ernst.

Dass er sie gern HEIRATEN wolle, gesteht ihr die Tante eines Tages in vollem Ernst. Minou weiß, sie hat Siegfried keine Veranlassung, keine Ermutigung für seine Wünsche geliefert. Sie hält den Neunzehnjährigen inzwischen für sehr sonderbar und verschroben. Er ist ständig um sie, wenn sie denn mal zu Hause ist. Sinnliche Nähe, Berührung sucht er aber bei ihr nicht. Mit anderen Worten: er belästigt sie nie körperlich. Aber an manchen Tagen steht er stundenlang in der Menge vor dem Schaufenster, wo sie in ihren Breuningerkleidchen herumflaniert. Dann versucht sie, ihn nicht zu beachten. Ganz am Anfang hatte sie sich über seine Anwesenheit ein bisschen gefreut, nein gewundert, aber jetzt längst nicht mehr. Jetzt sagen  Kolleginnen kopfschüttelnd, dass er sich sogar im Haus herumtriebe, Mitarbeiter nach ihr befrage und ihr Grüße ausrichten ließe.  Wo er sich doch an Minou selbst hätte wenden können. "Der ist doch nicht ganz bei Trost!"

Als sie eines Nachts spät heimkommt und in der Dunkelheit aus dem Auto eines Begleiters aussteigt, sieht sie Siegfrieds dünne Silhouette, von rückwärts beleuchtet, beobachtend am Fenster stehen und die Tante schleudert ihr am Morgen danach mit herabgezogenen Mundwinkeln ihre große Enttäuschung entgegen. "Sie sind auch nur ein billiges Flittchen wie so viele", meint sie.

Gut, gut ... Minou hält beide, Tante und Neffen, inzwischen längst für ‚nicht ganz normal‘ und sie weiß auch, dass die zwei das gleiche von ihr denken müssen, denn die Tante hatte schon einmal durchblicken lassen, man habe Erkundigungen eingeholt, wisse über ihren Klinikaufenthalt Bescheid ... Minou fürchtet manchmal ohnehin, ihre Umwelt hielte sie für verrückt und sie beobachtet täglich ängstlich ihr eigenes Verhalten, ob es noch normal wirkt. In der ganzen Zeit schluckt sie die von den Ärzten verordneten Psychopharmaka, immer in der bleiernen Angst, dass ihr mühsam aufrecht erhaltenes Gleichgewicht sonst zusammenbräche.

Leider kann sie an den drollig-lockeren, schwäbelnden Kollegen bei Breuninger nichts Verliebenswertes  finden. An  Dr. Klemper übrigens auch nicht wirklich, aber er steht ihr näher - ein wenig näher - er, der Frauenarzt, Frauenversteher, der alle an Körpergröße überragende, attraktive, souveräne, extrem bedeutend wirkende, kluge Dr. Klemper, der ihr ja auch aus der Arbeitszeit im Viererbüro auf dem Statistischen Landesamt noch vertraut ist.

Als sie dann regelmäßig mit ihm ausgeht und sich auch von ihm heimbringen lässt, findet sie eines Abends ihre zwei Koffer gepackt im Flur vor ... Minou fällt aus allen Wolken.

"Sie wissen schon, warum", sagt die Tante.

Nein, das weiß sie nicht, sie ist weder mit der Miete im Rückstand, noch hat sie sich sonst etwas zu Schulden kommen lassen! Hat auch keinen ‚moralischen Fehltritt‘ begangen. Noch nicht!

Werfen die beiden sie nun wegen ihres vermutlich ‚leichten‘ Lebenswandels aus dem Haus, oder wegen ihres psychischen Angeknackst-Seins? Sie ist derart vor den Kopf gestoßen, dass sie – obwohl sie Tante und Siegfried  nicht besonders gut leiden kann - sich plötzlich für eine Ausgestoßene hält, die man wegen ihrer persönlichen Mängel und des vorhergegangenen Aufenthaltes in der Nervenklinik nicht mehr um sich haben will.

Das Naheliegende, dass es wohl verletzter Stolz des Jungen gewesen sein könnte und das Zimmer vielleicht von Anfang an nur deshalb vermietet worden war, um eine willige Partnerin für den schwierigen Neffen zu finden, kommt Minou erst Jahre später in den Sinn.

Sie findet - wieder durch eine Zeitungsannonce - schon am gleichen Abend ein möbliertes Zimmer unten im Zentrum von Stuttgart in einer vierstöckigen alten Villa inmitten eines prachtvollen Gartens. Ein armseliges, doch frisch renoviertes Dachzimmer mit ordentlichen Möbeln ist es, wo es fließendes ( kaltes ) Wasser aber leider nur an einem Gemeinschaftshahn auf dem Flur gibt. Bad oder Dusche sind nonexistent. Sie ist so verunsichert, verängstigt sogar, so relativ lebensuntüchtig, dass sie gleich und ohne weiteres Suchen dieses Zimmer nimmt. Die Nähe zu ihrer Arbeitsstelle - nur zehn Gehminuten entfernt - hält sie für ein großes Plus.

Sie hätte genug Geld gehabt, um eine Weile im Hotel zu leben und  inzwischen etwas Komfortableres, Perfekteres zu finden. Aber nein - sie - inzwischen ohne innere Reserven - besitzt keine Kraft, noch groß zu planen. Dabei muss sie doch für ihren Job besonders schön und gepflegt sein. Zur gründlicheren Reinigung fährt sie von da ab wieder   ( jetzt zweimal wöchentlich ) mit Sack und Pack ins städtische Wannenbad! Aber – anders als früher - ohne den Trost von Annis angenehmer Gesellschaft. Nein, immer allein.

Sie hat seit einer Weile eine Affäre mit Dr. Klemper. Rudi. Wie ist es gekommen? Einer ihrer überschwachen Momente? Ihre Gleichgültigkeit? Irgendwann hatte er sie gehabt. Einfach so. Sang- und klanglos. Things happen. Sie wundert sich selbst. Sie sind nicht wirklich ein Paar. Er hat auch noch andere Frauen. Keine festen. Das macht ihr null aus. Er redet nicht darüber. Sie fragt auch nichts. Sie sucht bei ihm Geborgenheit und ETWAS Wärme und redet sich ein, sie manchmal von ihm zu bekommen. Manchmal flüchtet sie spontan zu ihm aus ihrer einsamen Dachkammer. Das ist praktisch, denn er wohnt nur fünfzehn Minuten Fußmarsch entfernt. Er freut sich, wenn sie kommt und zeigt es ihr. Beim Sex ist er genau so souverän, so gleichmütig, ruhig und bedächtig wie auch sonst im Leben. Minou erlebt das Mit-einander-Schlafen ohne Hochgefühl, machmal sogar mit leichtem Widerwillen. Oder lässt sie alles über sich ergehen, nur um die Nacht nicht allein verbringen zu müssen? Nein, das wäre etwas zu negativ gesprochen. Immerhin gibt Rudi ihr - allein durch seine Nähe - bis zum Morgen das Gefühl einer kleinen Geborgenheit, die sie so vermisst hat. Lebenssicherheit gibt er ihr nicht.

Eines Sonntags Nachmittags geschieht es, dass sie sich durch Zufall gleichzeitig mit zwei anderen seiner ‚Verehrerinnen‘ bei ihm einfindet. Keine kennt die andere. Sie haben alle –   einer Eingebung folgend - beschlossen, ihm einen spontanen Besuch abzustatten. So sitzen jetzt drei Frauen – von denen Minou bei weitem die jüngste ist - leicht verstört in seinem Wohnzimmer herum, wo eine jede doch gedacht hatte, ihn allein anzutreffen. Dr. Klemper - an dem Tag stellt er eine sonderbare Mischung aus grinsendem Jungen und Schwerenöter dar - verteilt seinen Charme gleichmäßig, spielt errötend den beflissenen Gastgeber. Wohl fühlt sich bestimmt niemand von den vieren an diesem sonderbar züchtig   linkisch und höflich verlaufenden Nachmittag.

Minou hat wieder häufige Durchfälle und Schwindelattacken. Die Arbeit als Mannequin – für die anderen ein Traumjob - ermüdet sie übermäßig. Sie geht zu einem Internisten, weil sie sich krank fühlt. Ganz sonderbare Zustände bringen sie fast zur Verzweiflung. Es ist oft, als ob der Boden unter ihr häufig schwanke. Wie bei einem Erdbeben, denkt sie, und das stürzt sie dann wieder in Angstattacken. Der Internist bestellt sie einige Male abends nach ihrem Ladenschluss zu sich. Dann sind die Sprechstundenhilfen nicht mehr da, aber einige wenige   Patienten sitzen noch im Wartezimmer.

In den Behandlungsräumen sind sie und der Arzt allein. Er widmet Minou viel Aufmerksamkeit. Untersucht sie gründlich. Sie muss sich zuletzt auf einer automatisch kippbaren Metallliege nackt ausstrecken, sich nach allen Richtungen drehen und wenden, 'damit er die inneren Organe gut aufs Röntgenbild bekommt' und Aufnahmen machen kann. Danach ‚durchleuchtet‘ er sie noch sehr ausgiebig, ohne Aufnahmen zu machen, so zirka 45 Minuten lang, während er - durch seine besondere Schürze geschützt - weiter weg hinter einer Barriere steht, wo er aber jede ihrer Bewegung am Bildschirm und im Raum im Auge haben kann. Immer wieder muss sie die Liegeposition ändern und er kommt dann und richtet ihren Körper, ihre Glieder neu aus, um der bestmöglichen Durchdringung der Röntgenstrahlen wegen. Dabei berührt er sie fleicht und taktvoll. Arztmäßig. Gentlemanlike ... Seine schwarzen Augen jedoch  brennen ihr entgegen ... oder ist es   nur ihre Einbildung? Sie wird ganz weich und anlehnungsbedürftig. Wenn er auch nur einen einzigen klaren Versuch gemacht hätte ... ihm hätte sie nicht widerstehen können. Er ist um die vierzig, dunkelhaarig, groß, schlank, sein Gesicht markant u n d harmonisch, seine Stimme klingt wunderbar tief und ganz ohne schwäbischen Akzent. Kein Wunder, dass einige ihrer Mannequin-Kolleginnen ihn als Hausarzt gewählt haben.

"Da ist nichts wirklich Lebensbedrohliches ", sagt er einige Tage später, als auch die Bluttests ausgewertet sind und sie ihm an seinem Schreibtisch gegenüber sitzt.

"Sie haben ein sehr labiles Kreislaufsystem, ein schwaches Herz, diverse Allergien, Ihr Blutdruck schwankt stetig zwischen zu hoch und zu niedrig, deswegen wohl Ihre Unsicherheits – und Schwindelanfälle ... alles in allem ... sie sind nicht belastbar ... Ihre körperliche Konstitution ist schwach ... aber wir können ein junges Menschenkind wie Sie doch nicht schon in Rente schicken!"

"Ich muss ja doch den Lebensunterhalt für mich und meinen Sohn verdienen", sagt Minou kleinlaut,  "aber alles, was ich mache, fällt mir extrem schwer."

"Schauen Sie … ich rede zu ihnen als erfahrener Mann. ... Also, wenn ich Ihnen raten darf, dann sollten Sie in eine schicke Stadt, wie zum Beispiel Baden-Baden, gehen. Da könnte ich Sie mir gut vorstellen. Dort gibt es viele wohlhabende Leute, die … Begleitung suchen .... wissen Sie … Sie machen Sich immer so klein und Sie hätten doch so einiges zu bieten … oder?

Er sieht ernst und freundlich in ihre Augen und sie weiß, was er meint.

Und sie weiß ... nicht einmal das würde sie schaffen. Sogar für so etwas ist sie ungeeignet. Ihre Seele ist dafür ungeeignet.






wird fortgesetzt

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.02.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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